Leben mit den Göttern

Leben mit den Göttern

von: Neil MacGregor

Verlag C.H.Beck, 2018

ISBN: 9783406725425

Sprache: Deutsch

531 Seiten, Download: 47653 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Mehr zum Inhalt

Leben mit den Göttern



«Die erste Bedingung menschlicher Güte ist etwas, das man lieben,
die zweite etwas, das man verehren kann.»

George Eliot

«Religion ist der Versuch, in den Ereignissen einen Sinn zu finden,
nicht eine Theorie zur Erklärung des Universums.»

John Gray

«Religiöse Überzeugungen sind keine universalen Wahrheiten,
sondern Gemeinschaftswahrheiten. Sie beschreiben weniger Fakten,
sondern leiten Leben an. Sie bringen zum Ausdruck,
was es bedeutet, einer bestimmten Gemeinschaft anzugehören
und ihren Werten verpflichtet zu sein.»

Don Cupitt

 

Einleitung

Glauben und Zugehörigkeit


Leben mit den Göttern beschäftigt sich mit einer der zentralen Tatsachen menschlichen Daseins: dass jede bekannte Gesellschaft über eine Reihe von Überzeugungen und Annahmen verfügt – einen Glauben, eine Ideologie, eine Religion –, die weit über das Leben des Einzelnen hinausreichen und einen wesentlichen Teil einer gemeinsamen Identität darstellen. Solche Glaubensüberzeugungen verfügen über eine ganz besondere Macht, Völker zu definieren – und zu spalten –, und sie sind in vielen Teilen der Welt heute eine treibende Kraft in der Politik. Manchmal sind sie säkularer Natur, am offensichtlichsten im Falle des Nationalismus, aber die gesamte Geschichte hindurch waren sie zumeist im weitesten Sinne religiös. Dieses Buch ist ausdrücklich keine Geschichte der Religion, es ist aber auch keine Streitschrift für den Glauben und noch weniger eine Verteidigung irgendeines bestimmten Glaubenssystems. Es befragt quer durch die Geschichte und rund um den Globus Gegenstände, Orte und menschliche Tätigkeiten, um zu verstehen, was gemeinsame religiöse Überzeugungen im öffentlichen Leben einer Gemeinschaft oder einer Nation bedeuten können, wie sie das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und dem Staat prägen und wie sie einen entscheidenden Beitrag dazu leisten, wer wir sind. Denn mit der Entscheidung, wie wir mit unseren Göttern leben wollen, entscheiden wir auch, wie wir miteinander leben.

Der Glaube ist wieder da


Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sonnte sich die westliche Welt jahrzehntelang in einem historisch beispiellosen Wohlstand. Die Vereinigten Staaten boten den meisten ihrer Bürger – und den Einwanderern – einen scheinbar endlos steigenden Lebensstandard. 1957 ließ der britische Premierminister Harold Macmillan die Öffentlichkeit wissen, den Briten sei es «noch nie so gut gegangen». Sie waren ebenfalls dieser Meinung, und so gewann er unangefochten die nächste Wahl. Überall in Westeuropa und Nordamerika war Wirtschaftswachstum die Norm: Frieden hatte im Großen und Ganzen zu Wohlstand geführt.

In der übrigen Welt waren die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten in einem erbitterten Konflikt gefangen, der mitunter militärisch, aber immer ideologisch war und in dem sie darum wetteiferten, neue Rekruten für das jeweils von ihnen bevorzugte System eines marxistischen Staatskommunismus bzw. eines liberalen demokratischen Kapitalismus zu gewinnen. Da es sich bei beidem im Grunde um ökonomische Projekte handelte, ging es in der Auseinandersetzung zunehmend und wenig überraschend nicht um die ganz unterschiedlichen Vorstellungen von Freiheit und sozialer Gerechtigkeit, sondern darum, welches System seiner Gesellschaft den größeren materiellen Nutzen verschaffte.

Ein bemerkenswertes Beispiel für diese Zusammenziehung – oder besser: Gleichsetzung – von Idealen und ihren materiellen Resultaten findet sich auf der amerikanischen Dollarnote oder genauer: auf zwei Dollarnoten. Obwohl ein Großteil der amerikanischen Bevölkerung christlich war, waren die Vereinigten Staaten explizit auf der in der Verfassung verankerten Basis gegründet worden, wonach die neue Nation keine feste «Staatsreligion» haben sollte. Doch 1956 beschloss der Kongress in der Absicht, sich noch deutlicher von der atheistischen Sowjetunion zu unterscheiden, den seit langem vertrauten Wahlspruch «In God We Trust» öffentlich deutlich stärker zum Einsatz zu bringen. In einer Geste, die voller unfreiwilliger Symbolkraft steckte, wurde entschieden, dass diese Worte nicht nur auf öffentlichen Gebäuden oder auf der Flagge auftauchen sollten, sondern auch auf der nationalen Währung. Seither wird diese Losung auf Dollarnoten gedruckt, und auf der Zehn-Dollar-Note schwebt sie sogar schützend über dem amerikanischen Finanzministerium. Die ironische Wendung vom «allmächtigen Dollar» war seit dem 19. Jahrhundert in Umlauf und warnte vor der Vermengung von Gott und Mammon. Nun jedoch wurde eine der amerikanischen Grundüberzeugungen auf der meistverehrten Manifestation amerikanischen Erfolgs zum Ausdruck gebracht – seinem Geld.

Die Zehn-Dollar-Note, die das US-Schatzministerium zeigt, vor und nach 1956

Oberflächlich betrachtet könnte es den Anschein haben, als bestätige der neue Wortlaut auf den Dollarnoten die Vormachtstellung Gottes im politischen System der USA, also eine amerikanische Variante für das 20. Jahrhundert der Buchstaben DGDei Gratia, «von Gottes Gnaden» –, die das Porträt des Souveräns auf der britischen Währung begleiten, oder der Koranverse auf den Münzen vieler islamischer Staaten. Tatsächlich verhielt es sich genau umgekehrt.

Diese bemerkenswerte Vermengung des Finanziellen und des Spirituellen war alles andere als ein Schritt in Richtung Theokratie in Washington, sondern symptomatisch für eine umfassendere Veränderung im Verhältnis zwischen Moral und Ökonomie. Auf beiden Seiten des Atlantiks war die Rolle der organisierten Religion im öffentlichen und privaten Bereich gleichermaßen rückläufig. Die Gesellschaft wurde zunehmend säkularer – in Europa etwas schneller –, und immer weniger Menschen besuchten traditionelle Gottesdienste. Die «Revolutionäre» von 1968 argumentierten in Kategorien ökonomischer Ungerechtigkeit, in denen von Gott so gut wie keine Rede war, und schon gar nicht setzten sie ihr Vertrauen in ihn. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus in der Sowjetunion Ende der 1980er Jahre herrschte fast überall klarer Konsens. Der Kampf der Ideologien war vorüber: Der Kapitalismus hatte gewonnen, der Kommunismus war gescheitert, die Religion war auf dem Rückzug, und wenn es einen Glauben gab – ein Gefüge von Annahmen, die so gut wie jeder teilte –, so war es nunmehr der Glauben an das materielle Wohlergehen. Nicht ohne Grund prägte Bill Clinton im amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf 1992 die berühmten Worte: «It’s the economy, stupid.» («Es ist die Wirtschaft, Dummkopf.») Kaum jemand wollte dem widersprechen; und wie Macmillan vor ihm wurde Clinton zum Oberhaupt seines Landes gewählt.

25 Jahre später steht die organisierte Religion zur Überraschung oder Befremdung des wohlhabenden Westens überall auf der Welt erneut mitten auf der politischen Bühne. In einem Ausmaß, wie man es in Europa seit dem 17. Jahrhundert selten erlebt hat, bestimmt der Glauben nun große Teile der weltweiten öffentlichen Debatte. Die konkurrierenden Materialismen des Kalten Krieges wurden ersetzt. Der gesamte Nahe und Mittlere Osten ist in mörderischen Konflikten gefangen, die nicht in ökonomischen, sondern in religiösen Kategorien artikuliert und ausgetragen werden. Die Politik in Pakistan und Israel, die beide als explizit säkulare Staaten gegründet wurden, ist zunehmend konfessioneller Natur. In Indonesien und Nigeria, Myanmar und Ägypten werden Bevölkerungsgruppen attackiert und Individuen getötet unter dem Vorwand, ihre Glaubenspraxis mache sie zu Fremden im eigenen Land. Indien, in dessen Verfassung die Äquidistanz des Staates gegenüber allen Religionen festgelegt ist, wird von Aufrufen der Regierung erschüttert, eine explizit hinduistische Identität zu verfechten, was gravierende Folgen für Inder hat, die Muslime oder Christen sind (→ Kapitel 25). In vielen Ländern, nicht zuletzt in den Vereinigten Staaten, wird die Einwanderungspolitik – und insbesondere der Vorbehalt gegenüber Zuwanderern – häufig in die Sprache der Religion gekleidet. Selbst im weitgehend agnostischen Europa drängt der bayerische Ministerpräsident darauf, in staatlichen Behörden als Ausdruck einer angeblichen katholisch-bayerischen Identität Kreuze aufzuhängen, und die französische Regierung verbietet das Tragen der Vollverschleierung (Burka) in der Öffentlichkeit (→ Kapitel 28). In der Schweiz wurde eine Volksabstimmung abgehalten, mit der der Bau von Minaretten verboten werden sollte (→ Kapitel 9), während in Dresden regelmäßig Tausende von Menschen auf die Straße gehen, um gegen eine angebliche Islamisierung des Abendlands zu protestieren. Der bevölkerungsreichste Staat auf Erden, China, behauptet, seine nationalen Interessen, ja sogar die Integrität des Staates würden durch den im Exil weilenden geistigen Führer der tibetischen Buddhisten, den Dalai Lama, gefährdet, einen Mann, dessen einzige Macht der Glauben ist, den er verkörpert.

Die Probleme der...

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