Die Größe der Demokratie - Über die räumliche Dimension von Herrschaft und Partizipation

Die Größe der Demokratie - Über die räumliche Dimension von Herrschaft und Partizipation

von: Dirk Jörke

Suhrkamp, 2019

ISBN: 9783518762042

Sprache: Deutsch

283 Seiten, Download: 1723 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Die Größe der Demokratie - Über die räumliche Dimension von Herrschaft und Partizipation



201. Die Versprechen der Demokratie


Thema dieses Buches ist das Spannungsverhältnis von Größe und Demokratie. Leitend ist dabei die These, dass ab einer bestimmten Größe der Bevölkerung oder des Staatsgebietes sich die Qualität der Demokratie verschlechtert und in sehr großen Herrschaftsverbänden nur in einem schwachen Sinne von der Existenz demokratischer Institutionen und Praktiken ausgegangen werden kann. Die Begründung dieser These erfolgt in den späteren Kapiteln. An dieser Stelle muss aber zunächst erläutert werden, was unter »Demokratie« verstanden wird. Das stellt kein einfaches Unterfangen dar, da der Demokratiebegriff alles andere als trennscharf ist und wir insbesondere in den vergangenen Jahren geradezu eine Inflation der Verwendungsweisen gesehen haben. Für die US-amerikanische Politikwissenschaftlerin Wendy Brown ist »Demokratie« inzwischen nicht mehr als ein »leerer Signifikant« mit enormer Popularität, aber ohne Substanz. Gerade deshalb lasse sich die Demokratie auch so einfach instrumentalisieren und religiös aufladen. Demokratie ist »ein Altar, vor dem der Westen und seine Bewunderer beten, und der göttliche Zweck, der die imperialen Kreuzzüge des Westens formt und legitimiert« (Brown 2012, S. 55). Auch der französische Ideenhistoriker Pierre Rosanvallon beklagt die »missbräuchlichen Verwendungen und Verwechslungen« des Demokratiebegriffs, die dessen Vagheit geschuldet seien; es gäbe »kaum ein Wort der politischen Sprache, dessen praktische Definition so vielen Variationen ausgesetzt ist«. In der Konsequenz erscheint der Demokratiebegriff »nicht mehr als eine Lösung, sondern als ein Problem. Das Gute und Vage haben in ihm stets koexistiert« (Rosanvallon 2010, S. 279). 21Das ist wenig verwunderlich, gehört »Demokratie« doch wie »Freiheit«, »Gerechtigkeit« oder auch »Gleichheit« zu jenen Konzepten, die ihrem Wesen nach stets umstritten sind (vgl. Gallie 1956).

Solche umstrittenen Konzepte zeichnen sich durch drei zentrale Merkmale aus: Sie sind erstens in einem erheblichen Umfang normativ aufgeladen. Das ist unmittelbar einleuchtend, wer würde schon – selbst in Regimen, die wir als »autokratisch« bezeichnen – offen die Demokratie ablehnen?5 Und welche politische Kraft würde unverhohlen für Knechtschaft statt für Freiheit oder für Ungerechtigkeit statt für Gerechtigkeit plädieren? Zugleich gibt es zweitens verschiedene, sich historisch wandelnde Vorstellungen darüber, worin der normative Kern dieser Konzepte besteht. Alle zentralen Begriffe des politischen Denkens haben im Laufe der Ideengeschichte einen enormen Bedeutungswandel erfahren, allerdings ist es nicht so, dass sich eine Bedeutung vollständig durchgesetzt hätte, dass man sich also über den Gebrauch der Konzepte einig wäre. Selbst wenn hegemoniale Begriffsverwendungen existieren, gibt es also drittens einen nicht enden wollenden Streit über den jeweiligen Bedeutungsgehalt. So ist die Frage, ob Freiheit individuelle Handlungsfreiheit bedeutet oder ob Freiheit nicht ihrerseits kollektive Handlungsmacht voraussetzt, bis heute umstritten. Die Debatten zwischen negativer und positiver Freiheit sind weiterhin virulent, und 22zwar sowohl in der politischen Theorie als auch in der politischen Wirklichkeit.

Auch über die Bedeutung von »Demokratie« wird weiter gestritten, wobei die Verwendungsweisen und Definitionen selbst für Experten nicht mehr zu überblicken sind. Und offenbar muss mit dem Eingeständnis der grundlegenden semantischen Umkämpftheit zugleich jeder Versuch scheitern, dem Begriff »Demokratie« einen dauerhaften Bedeutungskern einzuschreiben. Das ändert jedoch wenig an seiner Attraktivität. Im Gegenteil, gerade seine Vagheit macht ihn so vielseitig einsetzbar. Durch den Gebrauch des Demokratiebegriffes – wie auch der Begriffe der Freiheit und der Gerechtigkeit – wird ein politischer Mehrwert erzeugt. Wenn ein Regime oder eine Praktik als »demokratisch« oder »undemokratisch« bezeichnet werden, so ist damit immer auch die Intention verbunden, die entsprechenden Institutionen und Praktiken auszuzeichnen oder zu diskreditieren. Daher lässt sich eine ständige theoriepolitische Auseinandersetzung mit der Idee der »Demokratie« beobachten, die deren normativen Gehalt sowie ihre zentralen Praktiken immer wieder aufs Neue festzulegen versucht. Das ist nun auch bei den Debatten über die Möglichkeiten der Übertragung der Demokratie auf neue, größere Räume der Fall, und zwar sowohl im Zeitalter der großen Revolutionen Ende des 18. Jahrhunderts, als es um die Frage der Realisierung von Volkssouveränität innerhalb großer Nationalstaaten ging, als auch heute, wo das Regieren auf der supranationalen oder gar der globalen Ebene »demokratisiert« werden soll. Beides wird uns in den folgenden Kapiteln noch ausführlicher beschäftigen.

Im fünften Kapitel werden drei Strategien vorgestellt, mit denen gegenwärtig in der Demokratietheorie versucht wird, das Konzept der Demokratie an die postnationale Konstel23lation anzupassen. Für diese akademischen Diskurse gilt insgesamt, dass sie sich sehr weit von den Intuitionen der meisten Menschen hinsichtlich dessen entfernen, was »Demokratie« bedeutet. Insofern ist auch Michael Th. Greven zuzustimmen, wenn er schreibt:

 

Nichts könnte inzwischen größer sein, als die politisch-praktische Kluft zwischen dem Alltagsbewusstsein der Mehrheit der unzufriedenen Bevölkerung in den realen Demokratien des Westens und den normativ und analytisch anspruchsvollen Wissenschaftlerphantasien darüber, wie der normative Gehalt und das Versprechen auf kollektive Selbstregierung traditioneller Demokratietheorie in die heutige Welt der trans- und supranational interdependenten Weltgesellschaft hinüber gerettet werden könnte. (Greven 2011, S. 21)

 

Das Argument von Greven, eine überzeugende Demokratietheorie müsse dem Alltagsbewusstsein der Mehrheit gegenüber vermittelbar sein, ist zutreffend. Denn wem nutzt es, wenn die akademischen Debatten immer elaboriertere Konzepte generieren, diese jedoch allein der Schönfärberei der politischen Ordnung, etwa des europäischen Mehrebenensystems, dienen? Das wird viele Bürgerinnen und Bürger nicht davon abhalten, über abgehobene Eliten zu schimpfen oder sogenannte populistische Parteien zu wählen. Eine überzeugende Demokratietheorie sollte stattdessen an das anknüpfen, was ich als die »Versprechen der Demokratie« bezeichnen möchte. Das Ziel ist nicht, auf diese Weise einen transhistorischen und transkulturellen Kern der Demokratie zu bestimmen – dem steht der notorisch umstrittene Charakter des Konzeptes entgegen. Der Anspruch ist bescheidener: Ich möchte zeigen, warum die Idee der Demokratie für viele Menschen so attraktiv erscheint. Meine These lautet, dass sich mit dem modernen Begriff der Demokratie, wie er sich seit dem 19. Jahrhundert etabliert hat, zwei große Verspre24chen verbinden,6 die zwar miteinander verschränkt sind, die man aber analytisch unterscheiden kann: das prozedurale Versprechen der gleichen und effektiven Teilhabe am politischen Prozess sowie das substanzielle Versprechen einer Angleichung der sozialen Lebensverhältnisse. Das erste Versprechen möchte ich als republikanisch bezeichnen, das zweite als sozialdemokratisch.

Das erste große Versprechen der Demokratie: Gleiche effektive Teilhabe am politischen Prozess


Einen guten Einstieg bieten hier Überlegungen des italienischen Rechtsphilosophen Norberto Bobbio. Bobbio hat in einem auch heute noch lesenswerten Vortrag über »Die Zukunft der Demokratie« (Bobbio 1988) sechs Versprechen identifiziert, die mit der Demokratie verbunden werden, die jedoch im parlamentarischen Normalbetrieb nur teilweise eingelöst werden können. Da ist zunächst das Versprechen der politischen Souveränität des Volkes als der Gesamtheit der Staatsbürger. Dieses ist jedoch laut Bobbio durch das Anwachsen der öffentlichen Bürokratie auf der einen und den Bedeutungszuwachs intermediärer Organisationen wie Parteien, Gewerkschaften, Berufs- und Lobbyistenverbänden auf der anderen Seite ausgehöhlt worden. Der einzelne Staatsbürger besitzt außerhalb einer Zugehörigkeit zu diesen Organisationen nur einen verschwindend kleinen Teil der Souveränität. Und auch innerhalb der intermediären sozialen Gruppierungen bestehen ...

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