Klare, lichte Zukunft - Eine radikale Verteidigung des Humanismus

Klare, lichte Zukunft - Eine radikale Verteidigung des Humanismus

von: Paul Mason

Suhrkamp, 2019

ISBN: 9783518761250

Sprache: Deutsch

415 Seiten, Download: 1872 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Klare, lichte Zukunft - Eine radikale Verteidigung des Humanismus



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Der Tag null


Ross kommt angerannt, seine Kamera läuft. Er tippt mich an die Schulter und öffnet den Mund, aber ich zeige auf die an meinem Helm montierte GoPro und forme leise die Lippen zu dem Wort »live« – womit ich ihm zu verstehen gebe, dass er nichts sagen soll, was später gegen uns verwendet werden könnte. Vor Kurzem haben wir gemeinsam die Unruhen in Istanbul gefilmt. Das hier ist etwas anderes.

Augenblicke später begegne ich Brandon, der sich ebenfalls ins Getümmel gestürzt hat. Wie ich berichtet er seit 2011 über eine Serie von Protestkundgebungen und Unruhen: Kairo, Athen, Istanbul. Jetzt klatschen wir uns im Vorbeilaufen kurz ab, während irgendwo Fensterscheiben bersten. Ein Geländewagen steht in Flammen. Blendgranaten blitzen auf, Tränengasschwaden hängen über der Straße.

Etwa tausend ganz in Schwarz gekleidete und maskierte junge Leute sind im Stadtzentrum ausgeschwärmt und liefern sich Verfolgungsjagden mit der Bereitschaftspolizei. Und der Zufall will es, dass wir drei einander inmitten dieses Getümmels auf wenigen Quadratmetern des städtischen Schlachtfelds begegnen: Ross, Brandon und ich sind Veteranen der Berichterstattung über Länder, die den Bach runtergehen.

Es ist der 20. Januar 2017. Der Ort ist Washington, D. ‌C. Der soziale Krieg, der seit geraumer Zeit an den Rändern des globalen Systems tobt, hat jetzt auch sein Zentrum erreicht. Wir sind nur zwei Straßenzüge vom Weißen Haus entfernt. Donald Trump ist seit wenigen Minuten Präsident.

Die Polizisten stehen dem wachsenden Aufruhr ratlos gegenüber: Sie sind für Situationen ausgebildet, in denen die Leute entweder ihren Anweisungen gehorchen oder erschossen werden. Heute können sie keinen Gehorsam erwarten, und sie dürfen nicht schießen. Also hetzen die vom militarisierten Nichtstun geschwächten und unter dem Gewicht sinnloser Ausrüstung stöhnenden Uniformierten atemlos den Demonstranten hinterher. Als eine junge Frau, die ein Fahrrad schiebt, ins Stolpern gerät und im Fallen drei Polizisten mit sich reißt, eilen einige Kollegen herbei, um die Fahrerin und ihr Rad niederzuknüppeln, während andere versuchen, ihr aufzuhelfen. Der Soundtrack ist klassische Krawallmusik: Sirenen, aus Funkgeräten knisternde Befehle, das Bersten einer eingeschlagenen Fensterscheibe in einer Starbucks-Filiale, und junge Amerikaner, die »No facist USA!« skandieren.

Schließlich greift die Polizei geschlossen an. Aus zwei Zentimeter dicken Schläuchen spritzt mit Tränengas versetztes Wasser. Einige Jugendliche in schwarzen Sturmhauben weigern sich, den Rückzug anzutreten. Sie bilden einen Keil, spannen schwarze Regenschirme auf, um sich zu schützen, und greifen die Polizeiphalanx an. Ein nicht maskierter Demonstrant liegt bäuchlings auf der Straße, als ein Polizist einen Taser auf ihn richtet. Der etwa zwanzigjährige Mann hat einen blonden Lockenkopf, und in seinem Gesicht ist keine Andeutung von Furcht zu sehen. Er schaut den Polizisten an und sagt ruhig in die auf ihn gerichteten Kameras: »Fuck Donald Trump. Fuck Donald Trump.«

Als sich die Aufrührer zerstreuen, beginnt die Polizei, kleine Gruppen von Demonstranten durch die Stadt zu jagen. Die Intensität nimmt zu: Wir laufen vorbei an der American Development Bank, an Joe's Stone Crab, an den seelenlosen Bürogebäuden, in denen die Lobbyisten zuhause sind. Wir hetzen durch die zersplitterte Landschaft der Normalität, und während dieser panischen Flucht vor einem langsamen, roboterhaften Feind fühle ich mich in eine Filmszene versetzt. Aber ich kann mich nicht erinnern, welche Szene es ist.

Am Abend vor Trumps Vereidigung treffe ich einen 72-jährigen Farmer aus Tennessee. »Was halten Sie davon?«, fragt er, wobei er mit dem Kopf eine Geste in Richtung der Worte »Fuck Trump« macht, die jemand am Franklin Square mit Kreide auf den Boden gemalt hat. Er trägt ein dickes rotes Cowboyhemd und macht ein gequältes Gesicht. Er sieht wieder zu den Demonstranten hinüber, die sich um eine Thrash-Metal-Band gesammelt haben, und murmelt: »Die wollen nicht arbeiten. Die sind krank.« Das klingt sonderbar, denn die meisten dieser Demonstranten sind offensichtlich Mittelschichtkinder mit Hochschulabschlüssen und Jobs.

»Wissen Sie, was deren Klamotten kosten?«, fährt er fort. »Fünfzig Dollar für eine Baseballkappe, hundertfünfzig für ein Paar Turnschuhe.« Auch diese Bemerkung klingt eigenartig, denn die meisten Demonstranten – die überwiegend Anarchisten sind – tragen weder Baseballkappen noch Markenschuhe. »Sie wollen nur Geld«, sagt er in angewidertem Ton und streckt mir eine Hand wie ein Bettler entgegen. Er macht ein Gesicht, als hätte er Hundescheiße gerochen.

Erst jetzt wird mir klar, dass er in Wahrheit nicht die Demonstranten meint, sondern ihr Bild im Geiste mit dem der Menschen verschmilzt, an die sie ihn erinnern: arme Schwarze in Tennessee. Die Wut lässt seine Augen hervortreten: »Die kommen aus dem Supermarkt in T-Shirts für zwanzig Dollar und Turnschuhen für hundertfünfzig …« Der Mann kennt sich gut aus mit den Preisen der bevorzugten Kleidung junger Afroamerikaner.

Als ich etwas zu entgegnen versuche, wechselt er das Thema und kommt auf den Klimawandel zu sprechen – den es seiner Meinung nach nicht gibt. »Weil meine Kühe furzen, soll ich jetzt eine Methansteuer zahlen?« Er erklärt mir, dass sich dort, wo heute die Antarktis ist, einst ein Regenwald befand und dass dort fossilisierte Knochen von Kamelen in der Erde liegen, was beweist, dass der Klimawandel vorübergehend ist: »Es ist ein ewiger Kreislauf.«

Während sich die Stadt für den Amtsantritt des neuen Präsidenten rüstet, begegne ich an jeder Straßenecke Leuten wie diesem Farmer. Trump hat ihnen eine Stimme gegeben, und die amerikanischen Medien haben ihnen die Erlaubnis erteilt, ihrem stärksten Gefühl freien Lauf zu lassen: dem Hass. Ein von Selbstmitleid erfüllter Rassist nach dem anderen erzählt mir seine Geschichte, und mir wird klar, womit ich es hier zu tun habe: mit Menschen, die ihre Fähigkeit zum logischen Denken verloren haben und alle Ungerechtigkeiten und Widrigkeiten in ihrem Leben mit einer eingebildeten Bedrohung durch Schwarze, Homosexuelle und befreite Frauen erklären.

Progressive Kommentatoren raten uns, wir sollten uns bemühen, die Motive dieser Leute zu verstehen: Sie seien wirtschaftlich abgehängt worden und vom gesellschaftlichen Wandel überfordert. Man sagt uns, wir sollten Verständnis für sie zeigen, weil diese Menschen im Mittleren Westen ein enttäuschendes Leben führen, während jene, die ein erfülltes Leben genießen, diese Regionen nur im Flugzeug überqueren oder dort bestenfalls einmal auf der Durchreise in einem Motel am Straßenrand haltmachen.

Ich bevorzuge eine harschere Form des Verständnisses, beruhend auf Vernunft, Logik und Wissenschaft.

Wenn ich aufgefordert werde, die Probleme der »weißen Arbeiterklasse« zu verstehen, antworte ich mit der Überzeugung eines Mannes, der als weißer Angehöriger der Arbeiterklasse in einer rauen englischen Bergbaustadt aufwuchs, dass es so etwas wie eine weiße Arbeiterklasse nicht gibt: Dies ist eine Identität, die von den Reichen erfunden wurde, um die Armen zu unterdrücken, so wie die Identitäten des »Kuli« und des »Wilden« in der Kolonialzeit von Siedlern erfunden wurden, die eine Rechtfertigung brauchten, um ihre Opfer wie minderwertige Menschen behandeln zu können.

Stellen wir uns dem Problem: Wenn wir uns Frieden, Freiheit und soziale Gerechtigkeit wünschen, müssen wir Leute wie den Farmer, der von Kamelen in der Antarktis erzählt, als Feinde betrachten. Diese Leute haben im mächtigsten Land der Welt einen Mann an die Macht gebracht, der sich seiner sexuellen Übergriffe rühmt, einen Rassisten, Steuerbetrüger und Gauner. Damit haben diese Leute wissentlich dafür gestimmt, das als Globalisierung bezeichnete multilaterale System zu zerstören, die im vergangenen halben Jahrhundert erzielten Fortschritte im Kampf für Minderheiten- und Frauenrechte ungeschehen zu ...

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