Blind - Kriminalroman

Blind - Kriminalroman

von: Christine Brand

Blanvalet, 2019

ISBN: 9783641224714

Sprache: Deutsch

448 Seiten, Download: 1335 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen


 

eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Blind - Kriminalroman



3


Vanessa wartet bereits, als Carole kurz nach halb sieben am unteren Ende der Berner Altstadt ankommt. Sie lehnt an einer Laubensäule und tippt auf ihrem Handy herum. Carole hält einen Moment inne und studiert die konzentrierten Gesichtszüge ihrer Freundin. Erinnerungen blitzen auf. Dann stupst sie mit dem Fuß gegen Vanessas Zehen. Erschrocken blickt sie auf.

»Danke, dass du draußen wartest, drinnen hätte ich dich nicht gefunden.«

Die zwei Frauen umarmen sich und müssen lachen, weil ihnen Caroles Bauch in die Quere kommt.

»Himmel, bist du rund geworden. Wer hätte gedacht, dass du jemals in Umständen bist. Ich hätte auf alle anderen gewettet, aber niemals auf dich.«

Carole pufft ihre Freundin sanft gegen die Schulter. »Ich doch auch nicht!«

»Ist da drin alles in Ordnung?«

»Alles so, wie es sein soll. Aber ich sag’s dir: Schwanger sein ist gar nicht lustig. Geschwollene Füße, Atemnot nach dem Treppensteigen, Hitzewallungen, als wäre ich mitten in den Wechseljahren – mit dreiunddreißig … Und mein Busen! Kürzlich sah ich Bilder von überzüchteten Milchkühen im Fernsehen – ihre prallvollen Euter haben mich total an meine Brüste erinnert. Du würdest sie nicht wiedererkennen!« Carole deutet mit beiden Zeigefingern auf ihren Vorbau, der unerwartete Dimensionen angenommen hat. »Glaub mir, ich gäbe meine Gucci-Tasche, könnte ich endlich wieder mal joggen gehen. Und würde mich der kleine Kerl in der Nacht nicht immer mit seinem Strampeln wach halten. Ich glaube, er übt schon jetzt für eine Kickbox-Weltmeisterschaft in siebzehn Jahren.«

»Das mit dem Joggen wird schon wieder. Und um die Kickbox-Karriere deines Kleinen kümmern wir uns später. Jetzt gehen wir erst mal essen.«

Vanessa stößt die Tür auf. Kaum stehen die beiden Frauen im Restaurant, umgibt sie nachtdunkles Schwarz. »Blinde Kuh« heißt das Lokal. Wer hier isst, soll sich wie ein Blinder fühlen, sodass die geschärften Geschmackssinne für einen kulinarischen Höhenflug sorgen. Erlebnisgastronomie nennt sich das. Das Restaurant Blinde Kuh gehört zu einer Kette, die diese Filiale in Berns Altstadt erst vor Kurzem eröffnet hat. Grund genug, sie gleich zu testen, hat Carole sich gedacht. Doch jetzt ist sie nicht mehr sicher, ob das eine gute Idee war. Denn dieser erste Moment besteht aus nichts als Unsicherheit. Instinktiv tastet Carole nach irgendetwas, an dem sie sich festhalten kann. Sie stößt mit ihrer Hand auf etwas, das sich bewegt. Erschrocken zuckt Carole zurück.

»Sie haben reserviert?«, fragt eine freundliche Stimme. Die Frau muss direkt vor ihnen stehen. Carole hat auf der Website des Restaurants gelesen, dass die meisten Angestellten blind seien; sie haben sozusagen Heimvorteil.

»Stein, ich habe auf den Namen Stein reserviert.«

»Herzlich willkommen«, verkündet die Stimme. »Ich nehme Sie beide jetzt an den Händen und bringe Sie an Ihren Tisch.«

Carole tapst durch die Finsternis und fühlt sich schutzlos. Doch dann führt die Kellnerin ihre Hände an die Stuhllehne und hilft ihr, sich zu setzen. Sitzen fühlt sich gut an. Sicherer Halt. Vorsichtig tastet Carole nach dem Besteck. Messer, Gabel, Löffel, ein Glas, alles da. Wenn das nur gut geht.

Es geht gut, mehr oder weniger. Schon nach fünfzehn Minuten ist Carole froh, dass sie das Tischtuch nicht sehen kann. Sie hat bestimmt schon für etliche Kleckse gesorgt. Wie unbeholfen man sich anstellt, wenn man auf den wichtigsten seiner Sinne verzichten muss. Und wie schwierig es sein muss, ein Leben lang mit einer solchen Behinderung zurechtzukommen. Kurz blitzt die Angst in ihr auf: Hoffentlich ist der Kleine gesund.

»So, wie dein Bauch aussieht, kann der Kleine jederzeit herausploppen«, unterbricht Vanessa ihre Gedanken.

»So ist es auch. Die Ärztin sagt, er könne von nun an jeden Moment kommen.«

»Na dann hoffe ich, dass er sich noch ein paar Stunden geduldet!« Vanessa tastet sich mit der Gabel voran, um den Chèvre chaud auf dem Jungblattsalat zu finden. »Aber sonst ist alles in Ordnung? Schaffst du es? Ohne deine Mutter, meine ich?«

Carole zuckt kaum merkbar zusammen, als Vanessa auf jenes Thema zu sprechen kommt, über das sie noch immer kaum reden kann, ohne dass ihr Tränen in die Augen schießen und sich ihre Kehle anfühlt wie zugeschnürt.

»Wie lange ist es jetzt her?«, hakt Vanessa nach und unterbricht die Stille.

»Fünf Monate und elf Tage.« Mehr sagt Carole nicht, sie muss schlucken.

»Wir müssen nicht darüber sprechen, wenn du nicht möchtest.«

»Es geht schon.« Carole ist froh, dass Vanessa sie nicht sehen kann. Sie würde in ihrem Gesicht die Lüge erkennen. Carole räuspert sich. »Das Traurigste ist, dass sie ihren Enkel nie kennenlernen wird. Ich weiß, wie sehr sie sich gefreut hätte.«

»Deine Mutter wäre unglaublich stolz auf dich.«

»Manchmal kann ich mir immer noch nicht vorstellen, dass sie wirklich tot ist. Es gibt Momente, da rechne ich jederzeit mit einem Anruf von ihr. Oder dass sie um die nächste Ecke biegt. Ich kriege auch immer noch Post, die an meine Mutter adressiert ist – als hätte die Welt da draußen nicht mitgekriegt, dass sie nicht mehr da ist. Das fühlt sich jedes Mal an wie ein Stich ins Herz. Ich öffne ihre Post schon lange nicht mehr. Ich ertrage es einfach nicht.«

Vanessa nickt. »Das verstehe ich«, schiebt sie nach. Sie überlegt sich, kurz aufzustehen, um ihre Freundin zu umarmen. Doch da verrät ein Räuspern, dass die Bedienung wieder am Tisch steht. Die Kellnerin von vorhin erkundigt sich, ob der Salat geschmeckt habe und ob sie fertig seien. Kaum sind die mutmaßlich leeren Salatteller verschwunden, ist die Frau schon wieder da. Carole hört, wie etwas vor ihr auf den Tisch gestellt wird.

»Stellen Sie sich vor, der Teller ist eine Uhr«, erklärt nun plötzlich eine männliche Stimme. »Zwischen zwölf und sechs Uhr finden sie den Kartoffelbrei, zwischen sechs und neun Uhr liegt das niedergegarte Rind an einer Portwein-Soße und zwischen neun und zwölf das Gemüsebouquet. Guten Appetit!«

»Guten Appetit. Und lass uns von etwas anderem reden«, sagt Carole, als sich der Kellner entfernt hat. Ihre Stimme verrät, dass das Thema »tote Mutter« beendet ist.

Es ist Vanessa gerade recht. »Wo stand ich in meinem Leben, als wir uns das letzte Mal getroffen haben?«, fragt sie, um dem Gespräch eine andere Richtung zu geben.

»Du hattest kürzlich Patrizia vor die Tür gesetzt, mitten in der Nacht …«

»Ach ja, das. Diese Geschichte ist jetzt endgültig vorbei.«

»Das hast du beim letzten Mal auch schon gesagt.«

»Ich weiß. Aber dieses Mal meine ich es ernst.«

Carole verdreht ungesehen die Augen. Vanessas Liebesleben ist kompliziert. Das war es schon immer, auch damals vor beinahe fünf Jahren, als Carole und Vanessa mehr als nur Freundschaft verband. Ihre Beziehung hatte gerade mal knapp zwei Monate gedauert; sie hatten sich schnell und heftig ineinander verliebt, aber als Paar überhaupt nicht funktioniert. Eigentlich verstehen sie sich erst seit ihrer Trennung richtig gut.

»Ich habe nämlich einen Entschluss gefasst«, fährt Vanessa fort. Ein Klimpern verrät, dass sie mit dem Besteck gegen irgendetwas gestoßen ist. Ihr Glas womöglich. »Ich habe beschlossen, mich wieder mal in einen Mann zu verlieben.«

»Um Himmels willen! Warum das denn?«

»In den letzten fünf Nächten habe ich von Sex mit einem Mann geträumt.«

»Das ist natürlich ein überzeugendes Argument.« Carole lacht und sticht in eine Masse, die sie für Kartoffelbrei hält.

Auch Vanessa scheint mit der Suche nach Essbarem auf ihrem Teller beschäftigt zu sein. Als sie beide einen Moment lang schweigen, realisieren sie, wie auffällig ruhig die anderen Gäste sind. Wahrscheinlich hat Vanessa mit ihren Sex- und Liebeseskapaden gerade das ganze Lokal unterhalten. Zum Glück kann uns hier keiner sehen, denkt Carole.

»Und du, erzähl, gibt’s was Neues in Sachen Sex und Liebe?« Vanessa fragt leiser jetzt, sie flüstert fast.

»Machst du Witze? Bei mir gibt es vor allem eines: einen runden Bauch mit einem strampelnden Kleinen drin.«

»Ach komm schon.«

»Meine Flegeljahre sind vorbei. Mein Sexleben ist tot. Und dass es je wieder in neuer Blüte erstrahlen wird, ist in etwa so wahrscheinlich, wie dass ich mal zum Mond fliegen werde.«

»Das werden wir ja sehen. Weißt du mittlerweile, wer der Vater ist?«

Carole hasst diese Frage. Als ob es eine Rolle spielen würde. Energisch schüttelt sie den Kopf, bis ihr einfällt, dass Vanessa es gar nicht sehen kann. »Nein. Und das ist auch gut so. Dabei belassen wir es.«

»Männer werden sowieso überbewertet.«

»Eben! Total überbewertet!«

Ohne sich zu sehen oder sich abzusprechen, greifen die beiden Frauen gleichzeitig zu ihren Gläsern und prosten sich zu. Vanessas Weinglas klirrt gegen Caroles Wasserglas.

»Wie viele kommen denn überhaupt als Vater infrage?«, fragt Vanessa dann doch nach.

»Fünf. Vier oder fünf.«

»Und du bist keinem von ihnen hochschwanger über den Weg gelaufen?«

»Zum Glück bis jetzt nicht. Ich hoffe, Klein Silas wird mir und nicht seinem Vater ähnlich sehen. Stell dir vor, wie ich eines Tages mit Silas im Kinderwagen dem Vater begegne und der in ihm sein Ebenbild erkennt.«

»Silas! Er hat schon einen Namen! Freust du dich?«

»Auf Silas: ja. Auf das Leben als Mutter: jein. Ich merke schon jetzt, dass ich mich verändere. Andere Dinge werden plötzlich wichtig. Und mein Gehirn wird träge.«

»Wie meinst du das?«

»Ich führe mich auf wie eine schusselige, alte Oma. Schwangerschaftsdemenz! Kürzlich habe ich eine halbe Stunde lang meine Schlüssel gesucht. Ich...

Kategorien

Service

Info/Kontakt