Kinder-Palliativmedizin Essentials - Das Wichtigste für die Palliative Care bei Kindern und ihren Familien

Kinder-Palliativmedizin Essentials - Das Wichtigste für die Palliative Care bei Kindern und ihren Familien

von: Jürg Streuli, Eva Bergsträsser, Maria Flury, Aylin Satir

Hogrefe AG, 2018

ISBN: 9783456958835

Sprache: Deutsch

168 Seiten, Download: 6786 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

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Kinder-Palliativmedizin Essentials - Das Wichtigste für die Palliative Care bei Kindern und ihren Familien



1
Grundlagen


1.1
Definition „Palliative Care“ für Kinder und Jugendliche


Palliative Care für Kinder und Jugendliche (Pädiatrische Palliative Care = PPC) ist ein aktiver und holistischer Ansatz für die Betreuung und Begleitung von Kindern mit lebenslimitierenden Erkrankungen unter Einbezug von körperlichen, psychologischen, sozialen und spirituellen Aspekten.

PCC richtet den Fokus auf die Lebensqualität des Kindes und seiner ganzen Familie, lindert Leiden und unterstützt die Entscheidungsfindung und Kommunikation zwischen Kind, Familienmitgliedern und Fachpersonen während unterschiedlichen Krankheitsphasen und an verschiedenen Orten (American Academy of Pediatrics, 2000; Craig, Abu-Saad, Benini, Kuttner, Wood & Zernikow, 2007; Together for Short Lives, 2018).

1.2
Grundsätze der PPC


  • PPC bejaht und fördert das Leben, akzeptiert aber gleichzeitig Situationen, in denen Heilung nicht oder nicht mehr zu erzielen ist.
  • Der Wechsel von einem kurativen zu einem palliativen Ansatz bedeutet nicht, auf Maßnahmen zu verzichten, sondern den Fokus auf eine gezielte Symptomkontrolle und, wenn möglich, auf eine Steigerung oder mindestens bestmögliche Erhaltung der Lebensqualität zu richten. PPC kann auch parallel zu kurativer oder lebensverlängernder Therapie sinnvoll sein.
  • Dem Kind und der Familie sollten dazu individuelle Pflege-, Therapie- und Unterstützungsangebote offenstehen, die mit Blick auf ihre persönlichen Bedürfnisse gestaltet werden.
  • Das interprofessionelle PPC-Team unterstützt das existierende Behandlungsteam sowie die Familie im Erkennen, Nutzen und Optimieren der verfügbaren Ressourcen und bei Entscheidungen, in denen es Schaden und Chancen gegeneinander abzuwägen und Komplikationen zu verhindern oder zu behandeln gilt.
  • Wenn möglich, erfolgt die Betreuung an einem vertrauten, von der Familie gewünschten Ort (zu Hause, einem vertrauten Stationsteam in der Klinik oder einem Hospiz) mit flexiblen Übergängen.
  • Der Fokus von PPC richtet sich auch auf die Lebensqualität der Familienmitglieder, nachdem in der vorausgehenden kurativen Phase oft alle Ressourcen einer Familie auf die Karte „Heilung” gesetzt worden waren.
  • So begleiten und unterstützen die Mitglieder des PPC-Teams die Familienmitglieder und das Behandlungsteam durch Phasen der Unsicherheit und Neuorientierung, des Abschieds und der Trauer.
  • Eine optimale Begleitung und Betreuung durch das PPC-Team beginnt daher möglichst frühzeitig und vor der Lebensendphase und dauert über den Tod eines Patienten hinaus an (American Academy of Pediatrics, 2000; Craig et al., 2007; www.togetherforshortlives.org.uk/).

1.3
Was ist spezifisch in der PPC?


  • Geringe Fallzahlen: Mit weniger als 1% aller Todesfälle ist der Tod im Kindesalter ein sehr seltenes Ereignis. Trotzdem ist die Prävalenz lebenslimitierender Erkrankungen mit 32/10000 Kindern beachtlich und tendenziell steigend. Allein im deutschsprachigen Europa entspricht dies mehr als 50000 Kindern mit lebenslimitierenden Erkrankungen sowie mehr als 5000 Todesfällen im Kindesalter (Fraser, Miller, Hain, Norman, Aldridge, McKinney & Parslow, 2012; Zernikow, Michel & Graske, 2013).
  • Großes Spektrum an Diagnosen: Das Krankheitsspektrum im Kindesalter ist umfangreicher als jenes der Erwachsenen, mit einem großen Anteil sehr seltener Erkrankungen. Oft durchlaufen Familie und Behandlungsteam eine Phase der Unsicherheit bzgl. Diagnose, Therapieoptionen und Prognose, in der man sich (noch) nicht von einem kurativen oder zumindest krankheitsmodifizierenden Ansatz zu distanzieren vermag, der palliative Ansatz aber bereits sinnvoll sein kann.
  • Eigenheit des Kindseins: Ein Kind durchläuft während seiner Krankheit oft verschiedene Entwicklungsstufen mit unterschiedlichen Bedürfnissen und zu fördernden Fähigkeiten (evolving capacities, s. Kap. 1.4.6). Gleichzeitig ist gerade der Verlust oder die Stagnation von Fähigkeiten im Kindesalter besonders schwierig zu ertragen.
  • Das Kind im familiären Kontext: Kinder sind in hohem Maße abhängig von ihren Eltern und den familiären Ressourcen. Für die Eltern ist die Betreuung mit großem Aufwand und nicht selten mit beruflichen, sozialen und familiären Konflikten verbunden. Die Betreuung zu Hause bzw. in einem vertrauten und entwicklungsgerechten Umfeld hat für Kinder eine herausragende Bedeutung. Betroffen sind auch Geschwister, die ebenso wie der Patient und seine Eltern ein Recht auf und einen Bedarf an Unterstützung haben. Viele Syndrome und Erkrankungen treten familiär gehäuft auf, sodass eine Familie in mehrfacher Weise betroffen sein kann. Zu berücksichtigen ist dabei auch die Verunsicherung der Eltern, ob auch ein zukünftiges Kind betroffen sein wird.
  • Hoher Personalaufwand: Die Betreuung für das Kind und seine Familie mit sehr individuellen und vielfältigen Fragenstellungen findet häufig über einen langen Zeitraum, ggf. intermittierend statt. Dies benötigt entsprechende personelle Ressourcen.

1.4
Prinzipien und Modelle der PPC


1.4.1
Phasen und Modelle der PPC-Betreuung


Die PPC-Betreuung kann in vier Phasen unterteilt werden:

  1. Diagnosestellung
  2. Leben mit der Erkrankung
  3. Sterbebegleitung (End-of-life Care)
  4. Trauerbegleitung.

Die Betreuung wiederum erfolgt in verschiedenen Strukturen, wobei einander primär zwei Modelle prominent gegenüberstehen (Feudtner, 2013):

  • das Konsultationsmodell (v.a. im klinischen Setting) mit einem spezialisierten PPC-Team, welches das primäre Behandlungsteam bzgl. Case-Management, Kommunikation, Entscheidungsfindung sowie Ausformulieren und Umsetzen der Behandlungsziele vor Ort (d.h. auf der für den Patienten vertrauten Station, zu Hause oder im Hospiz) unterstützt.
  • das Stationsmodell (v.a. in der Palliative Care für Erwachsene), bei dem Patienten auf einer spezialisierten Palliativstation von einem entsprechenden aufgestellten Team betreut werden.

1.4.2
Das Stufenmodell der PPC


Die IMPaCCT-Gruppe (International Meeting for Palliative Care in Children, Trento) unterscheidet drei Spezialisierungsstufen der Palliative Care (EAPC Task Force, 2009).

Stufe 1: Der palliative Ansatz

Im Kontakt mit Kindern in lebenslimitierenden Situationen sollten die Beteiligten aus allen Disziplinen und Professionen die grundlegenden Prinzipien der Palliative Care kennen und befolgen. Im Zentrum stehen dabei eine holistische, kindgerechte und familienorientierte Haltung zur Linderung von Leiden und die Steigerung der Lebensqualität.

Stufe 2: Allgemeine Palliative Care

Ab Stufe 2 verfügen die Fachpersonen über Kompetenzen (mit Weiterbildung und Erfahrung), um die betroffenen Kinder und ihr Umfeld zu unterstützen, ohne ausschließlich auf diesem Gebiet tätig zu sein. Austausch und Begleitung durch ein spezialisiertes Palliative Care Team können in unterschiedlicher Form und Intensität stattfinden.

Stufe 3: Spezialisierte Palliative Care

Ein auf Palliative Care für Kinder und Jugendliche spezialisiertes, interprofessionelles Team koordiniert das Symptommanagement in klinisch komplexen und instabilen Situationen. Im Team sind typischerweise medizinische, pflegerische, psychologische, soziale und therapeutische Berufe vertreten. Die Unterstützung erfolgt dabei je nach Bedarf und Angebot zu Hause in enger Zusammenarbeit mit den Grundversorgern oder in einer Institution konsiliarisch bzw. auf einer Palliativstation. Die Fallführung durch ein anderes Spezialgebiet (z.B. Neurologie, Onkologie oder Stoffwechsel) ist in der Pädiatrie auch bei Beteiligung eines spezialisierten PPC-Teams die Regel, verliert jedoch erfahrungsgemäß bei nahendem Lebensende graduell an Bedeutung.

1.4.3
Holistischer Ansatz


Die PPC ist geprägt durch einen ganzheitlichen, sogenannten holistischen Blick auf das Kind und seine Familie. Der holistische Ansatz basiert auf der alten philosophischen Feststellung, das Ganze könne nicht nur anhand seiner Einzelteile verstanden werden (Aristoteles: „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“). Probleme und Lösungen werden dabei nicht nur durch die einzelnen Brillen der unterschiedlichen Spezialisten, sondern im wechselseitigen Zusammenspiel der verschiedenen Elemente betrachtet.

Im PPC-Bereich sind dies typischerweise die biologische, psychologische, soziale und spirituelle Perspektive (z.B. total pain, s. Kap. 2.2). Im Mittelpunkt stehen damit nicht nur eine lebensbedrohliche Krankheit oder ein schweres körperliches Leiden, sondern auch die Zusammenhänge mit den verschiedenen Lebensbereichen des Kindes und seines Umfelds, die von der Krankheit betroffen sind. Darin begründet sich auch die Wichtigkeit der für die im PPC-Bereich sehr stark ausgeprägte interprofessionelle und interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen unterschiedlichen Spezialisten sowie den Patienten, Eltern und ggf. weiteren Familienangehörigen oder der Familie nahestehenden Personen.

1.4.4
Von der Pathogenese zur Salutogenese


Die klassische Sichtweise der Pathogenese wird im PPC-Setting in besonderem Maße durch das Modell...

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