Durch deine Augen - Roman
von: Peter Hoeg
Carl Hanser Verlag München, 2019
ISBN: 9783446263536
Sprache: Deutsch
336 Seiten, Download: 1375 KB
Format: EPUB, auch als Online-Lesen
WIR FRÜHSTÜCKTEN ZUSAMMEN.
Lisa machte Tee, toastete Brot und presste Apfelsinen aus, die sie aus einer großen Schale voller Obst nahm.
Butter und Käse verwahrte sie in einem kleinen Kühlschrank mit Kellertemperatur in einer schattigen Ecke auf der Terrasse. Unter einer altmodischen Käseglocke lagen mehrere Sorten Käse auf einer Marmorplatte.
All das zeugte von ihrer Sorgfalt bis ins kleinste Detail. Ich spürte den Willen und das Recht der Einsiedlerin, alle Einzelheiten des Alltags selbst zu gestalten, unabhängig von anderen. Ich spürte die Einsamkeit.
»Ich erinnere mich noch an etwas anderes«, sagte sie. »Ich war Einzelkind.«
Sie erhob sich, unruhig.
Und dann kam es.
»Ich wurde adoptiert«, sagte sie. »Ist meine Erinnerung richtig?«
Ich nickte.
Sie kramte in ihrer Erinnerung, die allmählich erwachte. Sie fahndete nach dem Verlust, dem frühen, ersten, den ein adoptiertes Kind immer erlitten hat.
Sie setzte sich wieder.
Wir aßen, ohne ein Wort zu sagen.
»Warum diese Geheimnistuerei«, sagte ich schließlich. »Ich meine die Klinik. Das Verschweigen der Ergebnisse.«
Sie goss gerade Wasser auf den Tee. Jetzt stellte sie den Wasserkocher hin.
Allmählich wusste ich, wie sich ihr Zorn äußerte. Man sah ihn ihr nicht an, und man hörte ihn ihr nicht an. Es gab keine spürbare Veränderung.
»Du hast noch nie eine Organisation geführt«, sagte sie. »Du hast noch nie Verantwortung für Informationen dieses Kalibers gehabt!«
Langsam kam sie auf mich zu. Ihre Kraft war derartig stark, dass ich fühlte, wie sich bei mir Adrenalin freisetzte. Als stünde ich vor einer physischen Bedrohung.
»Wir können uns ins Bewusstsein eines Menschen begeben und haben von dort aus möglicherweise auch Zugang zum kollektiven Bewusstsein. Zum Bewusstsein der Menschheit als solcher. Die Konsequenzen sind zum jetzigen Zeitpunkt überhaupt nicht zu ermessen. Wenn wir sie ermessen können, geben wir die Ergebnisse frei. Vorher nicht.«
Jetzt stand sie unmittelbar vor mir.
»Du willst die Öffentlichkeit beschützen«, sagte ich. »Die andern. Um sie machst du dir Sorgen. Aber die andern, das sind wir selber. Das haben wir gesehen und erlebt mit den hundert Leuten, die gleichzeitig gescannt wurden. Das haben wir mit Anja erlebt. Oder mit der blinden Frau. Auf der andern Seite der Brandmauer der Persönlichkeit sind wir die andern. Wenn du vor der Reaktion der Öffentlichkeit Angst hast, hast du vor etwas Angst, das in dir selbst steckt.«
»Und das wäre was?«
»Vielleicht ist es die Macht.«
Sie überlegte. Auf dem Kamm der Zorneswelle stehend, blickte sie dahin zurück, wo die Welle herkam.
Dann lachte sie.
Der Zorn verschwand, die Welle löste sich auf, als hätte es nie eine gegeben, als wäre es bloß eine große Seifenblase gewesen.
Sie hob die Hand und streichelte meine Wange.
Ich sah etwas in ihrem Blick, das vielleicht Liebe war.
Das dauerte eine Sekunde, dann war es weg.
Es war das erste Mal, dass wir allein etwas zu uns nahmen, nur wir zwei.
Die Mahlzeit bestand bloß aus Tee, Toastbrot, Butter, Käse und Orangensaft.
Aber sie war auch noch etwas anderes, sie war ein Symbol. Vielleicht waren es gar mehrere Symbole.
Wir hatten die ganze Nacht miteinander gesprochen. Und haben irgendwann einen Bärenhunger bekommen. Wir waren ein Mann und eine Frau, die zum ersten Mal den Hunger des anderen gesehen haben.
Eine Mahlzeit ist nicht nur lebensspendend, sie erinnert auch an den Tod. Daran, dass der Körper ständig abgebaut und wieder aufgebaut wird. Sie erinnert daran, dass wir, wenn die Nahrung ausbleibt, sterben werden.
Wie wir da auf der Terrasse saßen, im frühen Morgenlicht, war die Mahlzeit auch die Besiegelung eines Pakts.
Was wir damit besiegelten, war mir nicht klar.
Aber da war etwas zwischen uns, das nicht mehr zurückgenommen werden konnte.
AUF DEM WEG zur Klinik fuhr ich hinter ihr her. Als wir auf den Parkplatz bogen, kam uns der Streifenwagen entgegen, sie winkte den Beamten zu, sie grüßten zurück.
Ihre Assistenten waren schon da und bereiteten die Sitzung vor. Am Ende eines Korridors sah ich kurz die Frau, die sauber machte und mit großer Gründlichkeit eine schwere Reinigungsmaschine über den Boden schob.
Lisa und ich blieben an der Tür stehen.
Jetzt empfand ich das Verhältnis zwischen ihr und dem Gebäude anders. Sie gehörte nicht zu den süßen Mädels im Keller. Ihr Bewusstsein umfasste, auf beinah physische Weise, alle Gebäude. Alle Angestellten. Und ich merkte, wie diese ihr entsprechend zugewandt waren. Als wäre sie die Nabe des Rads, von der die Beziehungen zu den Angestellten wie Speichen ausstrahlten.
»Sie sind alle durchleuchtet worden«, sagte sie. »Von der Uni und vom Polizeilichen Nachrichtendienst. Sämtliche Angestellten, das Reinigungspersonal, die Gärtner und ihre Gehilfen. Ich übrigens auch. Das ist Standard, wenn ein Unternehmen oder eine staatliche Institution von Industriespionage bedroht sein könnte. Da ist nichts mit verdeckter Tätigkeit, das ist einfach eine Art, wie sich die Demokratie selbst beschützt.«
»Ich auch?«
»Du auch.«
Sie lachte.
»Ich habe dein blitzsauberes Führungszeugnis gesehen. Die drei Bußbescheide wegen Geschwindigkeitsübertretung. Die drei Orte, an denen du in den letzten zwanzig Jahren gemeldet warst. Deine Steuererklärungen.«
Anja trat ein. Wir zogen die Kittel an. Nahmen auf den Stühlen Platz.
Die Scanner starteten. Unser Bewusstsein bewegte sich aufeinander zu.
Wie zuvor war das Erlebnis zunächst physischer Natur. Ein Gefühl, die Körper anderer sehr nah bei sich zu haben. Ich merkte Lisas und Anjas Herzschlag. Ihre Atemzüge.
Dann kam das Erlebnis der Fremdheit. An der Schwelle zu einem chaotischen Universum zu stehen.
Anja hatte die Augen geschlossen. Physisch konnte ich spüren, dass sie ihren Blick rückwärts in die Zeit richtete.
»Ich will vom letzten Mal erzählen«, sagte sie. »Wir waren in Schweden, da hat es stattgefunden, meistens hatte es dort stattgefunden, sie waren wohlhabend, mein Großvater hatte ein Schloss in Schonen, mit einem überdachten Pool, das Glasdach konnte im Sommer geöffnet werden. Ich war jeden Sommer da, ich wurde für vierzehn Tage hingeschickt. Dort fand es statt.«
Ich merkte den Widerstand gegen das, was kommen sollte. Den Widerstand dagegen, die Welt des isolierten und ausgenutzten Kindes zu betreten.
»Warum hast du deinen Eltern nichts gesagt? Warum hast du nicht nein dazu gesagt, mit deinen Großeltern nach Schweden zu fahren?«
Alle im Raum sahen mich an.
Anja zeigte auf ihren Mund. Sie versuchte zu sprechen, aber es kam kein Wort über ihre Lippen.
Ich spürte die Lähmung, die sie erfasst hatte, an meinem eigenen Mund. Es schnürte sich mir der Hals zusammen. Ich spürte es, als wäre es mein eigener Körper.
»Die Worte«, sagte sie.
Sie redete wie eine Stotterin, die ihr Stottern zu mäßigen versucht, um sich artikulieren zu können.
»Die Worte sind das Schlimmste nach einem Missbrauch. Nach einem Inzest. Weil du so lange etwas verschwiegen hast. So lange mit Drohungen zum Schweigen gezwungen wurdest.«
Unser beider Bewusstsein war sich jetzt ganz nah.
»Und dann vor allem bei der Frage, die man am meisten fürchtet. Warum man nicht nein gesagt hat. Warum man sich nicht geweigert hat. Denn irgendwo in einem selbst wird man immer Angst davor haben, selber schuld dran zu sein.«
Wir sahen uns in die Augen. Ein Teil, ein Prozentsatz des Schmerzes und des Unglücks, die hinter ihren Worten lagen, verpflanzte sich über die Apparate direkt in mich.
»Ein ganzes Leben lang wird man den Zweifel mit sich herumtragen, ob man verstanden wird. Ob meine Grenzen respektiert werden. Ein ganzes Leben lang.«
Sie war Anfang zwanzig. Und sprach wie eine Siebzigjährige.
Ich wusste, von wo aus sie sprach. Sie sprach von der Stelle aus, wo die Brandmauer eingerissen war, wo die Grenzen der Persönlichkeit gesprengt waren und von wo aus sie sämtliche Missbrauchsfälle, die jemals stattgefunden hatten, einsehen konnte.
Ich merkte, dass derjenige, der die Welt von dieser Stelle aus sieht, in Windeseile altert. Einerlei, wie man hinterher aussieht: Man trägt jetzt ein Teilchen vom finstersten Bereich aller menschlichen Erfahrung in sich.
»Man ist gezwungen, an die Liebe zu glauben«, sagte sie. »Ein Kind muss sich darauf ...