Hinter Glas

Hinter Glas

von: Julya Rabinowich

Carl Hanser Verlag München, 2019

ISBN: 9783446263239

Sprache: Deutsch

208 Seiten, Download: 1721 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Hinter Glas



3. Spiegelscherbe

Fast Forward


Eine Liebesgeschichte beginnt immer schon, bevor sie eigentlich begonnen hat. Dieses Flattern der Nerven, dieses heimliche Schauen, diese Angst, Wut und Hoffnung, lange, sehr lange, bevor die wirkliche Annäherung passiert. Das ist so ein elender Schwebezustand, wie das lange Fallen in den Kaninchenbau. Sie weiß es eigentlich schon jetzt, wohin die Reise geht. Aber sie kann es noch gut verdrängen. Das macht mir nichts. Alles, was sie verdrängt, landet schlussendlich bei mir. Ich hebe es für sie auf. Eines Tages wird es wieder ihr gehören.

»Kann ich deinen Radiergummi haben?« Niko setzte sein strahlendstes Lächeln auf.

»Bitte, da.« Ich sah ihn nicht einmal richtig an. Ich versuchte, das Stillleben, das uns Frau Mahler liebevoll und viel zu hoffnungsfroh aufgebaut hatte, halbwegs korrekt auf mein verkleckstes Blatt Papier zu übertragen. Die Kannen sahen allesamt verformt aus. Bildende Kunst war einfach nicht meine Stärke. Aber bemühen wollte ich mich schon aus Prinzip.

Niko lehnte sich zu mir herüber. »Der Winkel ist falsch.«

Ich schwieg und schwang den Pinsel.

»Willst du meins anschauen?«

»Nö.«

»Bist du immer so ruppig?«

»Nein, nur wenn man mich beim Arbeiten stört.«

Er legte den Radiergummi zurück.

Rosa kam an unseren Tisch und stellte sich hinter mich. »Na, Queen Bazilla«, sagte sie.

Ich zog reflexartig die Schultern hoch, aber sie schnippte nur mein Bild zur Seite. Niko war in seine Arbeit vertieft und merkte nichts. Oder er wollte nichts merken. Wer weiß.

»Das sieht aber toll aus, Niko!« Sie lachte ihn an und warf ihr Haar zurück.

Niko blähte sich auf wie ein Ochsenfrosch und sah mich erwartungsvoll an. Ich blickte auf mein Bild und ignorierte ihn. Als ich irgendwann wieder hochschaute, stellte ich fest, dass er mich konzentriert beobachtete.

Als ich am Ende der Stunde meine Zombiekannen abgab, lag Nikos Bild schon auf dem Stapel. Zwischen den Kannen ragte ein Gesicht hervor. Ich sah genauer hin. Das Gesicht sah aus wie meins. Sogar den leicht störrischen Zug um den Mund hatte er getroffen. Ich musste lächeln. Achtlos warf ich mein Blatt zu den anderen und verließ die Klasse.

Draußen wartete Niko, aber ich ging an ihm vorbei, als würde ich ihn nicht sehen. Rosa, die sich gerade anschickte, mir das Bein zu stellen, nutzte ihre Chance und begann lieber ein Gespräch. Ich hörte ihr Lachen den ganzen Gang hinunter.

Bitte. Sollte sie doch flirten. Wenn sie unbedingt wollte. Mir war das ganz egal. Wirklich.

Am Abend lag ich wach und dachte an seine Hände. Schöne Hände. Das musste ich mir eingestehen.

Der Rest der Woche verlief unspektakulär. Rosa war krank, und mit ihrem Fehlen entspannte sich meine Situation. Wenn sie nicht beständig Öl ins Feuer goss, schienen die anderen mich zu vergessen. Ich sprach ab und zu mit Niko. Ich machte meine Hausaufgaben. Ich passte ganz gut auf. Niko interessierte sich zusehends auch für andere in der Klasse, und man konnte wirklich nicht sagen, dass sie sich nicht auch für ihn interessierten. Vor allem die Mädchen. Die Tage fühlten sich nach Ruhe vor dem Sturm an, aber ich konnte nicht sagen, auf was ich eigentlich wartete. Aber am Freitag kam Rosa zurück, und alles nahm wieder an Fahrt auf.

Am Nachmittag stand noch Sportunterricht an. Einige hingen in der Mittagspause im Schulgarten ab, einige gingen nach Hause. Niko verschwand gleich nach dem Läuten. Ich war gleichzeitig erleichtert und traurig darüber. Fühlte sich seltsam an.

Ich setzte mich mit meinem Buch ins Gras. Nach den ersten fünf Seiten fiel ein Schatten über die Buchstaben. Ich hob den Kopf nicht. Manchmal half es, wenn man einfach nicht reagierte.

Zack.

Das Buch flog in hohem Bogen aus meinen Händen. Rosas Fuß erschien direkt vor meiner Nase. Ich studierte die bunten Schnürsenkel in ihrem pinken Sneaker. Sie schienen noch recht neu zu sein. Jetzt nur nichts sagen. Nicht weinen.

»Was liest du denn da?«, fragte sie mit freundlicher Stimme. Hinter ihr tauchten die üblichen Verdächtigen auf. Max. Sofie. Paul. Anna. Sie kreisten mich ein.

Ich hasste meinen Gesichtsausdruck. Hilflos. Dämlich. Ich versuchte aufzustehen, aber Max drückte mich wieder nach unten. Ich zog vorsorglich den Kopf ein. Damit sie mich nicht im Gesicht erwischten.

Rosa griff nach meinen Haaren. »Jetzt versteckt sie sich schon wieder. Lächle doch mal.«

»Wir beißen nicht«, fügte Paul hinzu. Sie klangen wie ein gut einstudierter Song.

Der Kreis um mich herum wurde mit jedem Satz enger. Jeder hatte seinen Einsatz, und keiner vergaß ihn.

Ich rührte mich immer noch nicht. Meine Rolle war uns allen auch gut bekannt. Fast vertraut.

Da fiel ein weiterer Schatten auf den Rasen.

»Was ist hier denn los, verdammt noch mal?!« Niko rempelte Sofie und Anna zur Seite. »Was macht ihr da? Seid ihr völlig bescheuert?«

Rosa starrte ihn wortlos an. Sie hatte offensichtlich ihren Text vergessen.

Niko streckte mir die Hand hin. Ich wagte nicht, sie zu ergreifen.

»Misch dich nicht ein«, sagte Max mit einem unsicheren Blick zu Rosa. Natürlich war er seit Ewigkeiten verknallt in sie, und natürlich war er ihr egal.

Rosas Mund ging auf und gar nicht mehr zu. Es war eine Art Erleuchtung. Glaube ich.

Ich stand auf.

Niko hob mein Buch hoch. »Was glotzt ihr so? Haut ab.«

Max schien zu überlegen, ob er Rosa beeindrucken würde, wenn er sich noch ein bisschen wichtigmachte.

Niko versetzte ihm einen Stoß. Ganz schön heftig. Max taumelte und trat den Rückzug an.

Meine Hände zitterten, ich klammerte sie um den Riemen meiner Schultasche, damit das keiner sah.

Rosa sah uns noch einmal prüfend an. »Dabei dachte ich, dass du eigentlich cool bist, Niko.«

Sie trollten sich, betont langsam, betont lässig. Es war eine Niederlage für sie, und sie wussten das. Ich wusste das. Eine Art Bann war damit gebrochen.

»Komm«, sagte Niko. »Ich hab uns was zu essen mitgebracht. Gehen wir.«

Mein Herz schlug bis in die Ohren.

»Das war nicht das erste Mal, oder?«

»Doch«, log ich. Gejagt werden macht einen so klein und so wertlos, so klein und wertlos wollte ich vor ihm nicht erscheinen. Und sich verbergen müssen macht stumm und unsichtbar. Ob in der Schule oder zu Hause.

»Soll ich dir das glauben?«

Ich sagte nichts. Das konnte ich gut. Jahrelange Übung.

Niko legte die Hand auf meinen Oberarm. Gänsehaut.

Woher sollte er auch wissen, was sich seit dem letzten Sommer abgespielt hatte? Im letzten Schuljahr war ich noch halbwegs gut durch den Schulalltag gekommen. Rosa ging auch damals mit mir in eine Klasse, aber ihre Eltern waren noch nicht geschieden und Rosa halbwegs erträglich. Klar, sie hatte auch da schon blöde Bemerkungen gemacht, aber diese Bereitschaft, jemanden mit Stumpf und Stiel in den Boden zu rammen, die war definitiv noch nicht so ausgeprägt gewesen. Sie war mit Sofie befreundet, und Sofie verehrte Rosa. Machte ihr alles nach und machte alles mit.

Dann kam der Sommer. Was da mit ihr passierte, weiß ich nicht. Aber nach den Ferien wurde mein Leben zur Hölle.

Wie sollte ich Niko klarmachen, dass ich seit Monaten Queen Bazilla war, vor der Rosa sich demonstrativ ekelte? Jene Zombie-Princess, die so abstoßend und angeblich ansteckend war, derart, dass die Stühle, auf denen ich gesessen hatte, mit Klopapier abgewischt wurden, ehe sich wieder jemand daraufsetzte? Sogar den Schwamm hatte Rosa schon einmal mit spitzen Fingern in den Mülleimer entsorgt, nur weil ich vor ihr die Tafel abgewischt hatte. Und der Rest der Klasse lachte oder schwieg. Im besten Fall. Klar, niemand wollte Rosas Zorn abbekommen. Die waren alle froh, dass sie ihr bevorzugtes Opfer gefunden hatte. Ich weiß nicht, ob ich mich anders verhalten hätte, wenn ich an ihrer Stelle gewesen wäre. Ehrlich. Ich weiß es nicht. Ich wurde also still. Und je stiller ich wurde, desto lauter wurden Rosa und ihre Mitläufer. Und ich wurde immer, immer stiller.

Jede Fehlstunde von mir wurde mit giftigen Bemerkungen begleitet. Und ich hatte eine Menge Fehlstunden. Durch meine Angst vor Rosa wurden es auch nicht unbedingt weniger. Zur ergebenen Sofie kamen Anna und der verliebte Max dazu. Die Boshaftigkeit potenzierte sich. Ich duckte mich und lud sie damit natürlich ein, weiterzumachen. Zu viert hatten sie einen gänzlich anderen Auftritt als...

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