Das Licht - Roman

Das Licht - Roman

von: T.C. Boyle

Carl Hanser Verlag München, 2019

ISBN: 9783446262850

Sprache: Deutsch

384 Seiten, Download: 2125 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Das Licht - Roman



VORSPIEL BASEL, 1943


War es ein Gift? War es verboten? Ein unverantwortliches Risiko? Sie wusste es nicht, doch sie war den ganzen Tag nervös und angespannt, obwohl sie sich sagte, das sei töricht: Wenn irgendjemand in diesem ganzen Gebäude wusste, was er tat, dann ihr Chef. Seit sie vor etwas mehr als einem Jahr angefangen hatte, für ihn zu arbeiten, war ihm kein einziger Fehler unterlaufen — er war präzise, vorsichtig, durch und durch verlässlich und setzte weder seine eigene Sicherheit noch die seiner Laborantin aufs Spiel. Was man nicht von allen Chemikern hier sagen konnte. Manche — sie hatte allerlei Klatsch gehört — wurden im Lauf des Tages nachlässig, setzten die Schutzbrille nicht auf oder gingen mit Pipetten voll Salpetersäure oder Natriumhydroxid durch den Raum, als wären sie mit einer Einkaufstasche voller Lebensmittel auf dem Heimweg, und in einem Fall (aber das war wirklich nur ein Gerücht) sprach man sogar von Trunkenheit am Arbeitsplatz. Und wer musste dann aufräumen, die Schuld auf sich nehmen und, wenn es sein musste, den Vorgesetzten direkt ins Gesicht lügen? Die Laboranten natürlich. Wer sonst?

Aber Herr Hofmann war nicht so. Er hielt sich buchstabengetreu an die Sicherheitsvorschriften, morgens um acht ebenso wie nachmittags um fünf, ganz gleich, ob sie die Chemikalien für den ersten oder den letzten Prozess des Tages ansetzten. Sie bewunderte seine Tüchtigkeit, seine Aufmerksamkeit für Details, seine fachliche Qualifikation, aber da war noch mehr. Zum Beispiel hatte er keinerlei Bedenken gehabt, eine Frau einzustellen, die einzige Laborantin in der ganzen Forschungsabteilung, und außerdem war er kein kalter Fisch, sondern ein Mann, in dessen Adern rotes Blut floss. Er war stets ausgeglichen, selbst an Tagen, an denen es nicht gut lief, und hatte immer einen freundlichen Blick oder ein Lächeln für sie, und die Statur unter dem Laborkittel verriet, dass er mit Hanteln trainierte und im Boxverein war. Zwar brauchte er im Labor eine Brille, und sein Haar wurde etwas schütter, doch das merkte man kaum, denn er trug es zurückgekämmt wie Adolphe Menjou, und die Brille ließ ihn nur distinguierter aussehen. Vielleicht war sie verliebt in ihn, schon möglich — aber das hätte sie natürlich keiner Menschenseele erzählt, auch nicht Dorothea Meier, ihrer besten Freundin, und ganz gewiss nicht ihrer Mutter, die, hätte sie auch nur den Hauch eines Verdachts gehabt, ihre Tochter könnte sich in einen älteren Mann verliebt haben (obendrein verheiratet und mit Kindern), schnurstracks ins Labor marschiert wäre, um ihre Tochter am Kragen zu packen und nach Hause zu schleifen.

Es war April, draußen schien die Sonne, Frühling lag in der Luft, die ganze Welt jubilierte, nur sie selbst war nervös und angespannt. Natürlich hatten Selbstversuche im Dienst der Wissenschaft eine lange, ehrwürdige Tradition — August Bier hatte ein Loch in seine Wirbelsäule gebohrt, um herauszufinden, ob die Injektion von Kokain in die Spinalflüssigkeit eine wirksame Anästhesie bewirkte; Werner Forßmann hatte durch eine Vene im Unterarm einen Katheter bis zum Herzen geführt, nur um zu demonstrieren, dass es möglich war; Jesse Lazear hatte sich absichtlich von einem infizierten Moskito stechen lassen, um zu beweisen, dass diese Insekten die Überträger von Gelbfieber waren —, doch die Misserfolge waren ebenso zahlreich gewesen wie die Erfolge. Lazear hatte seinen Beweis geführt, war aber siebzehn Tage später gestorben — was also hatte er davon gehabt? Oder seine Frau, sofern es eine gegeben hatte? Aber das würde ihrem Chef nicht passieren, sagte sie sich, gar nichts würde ihm passieren. Er würde eine sehr kleine Dosis nehmen, bloß 250 Mikrogramm, so dass schlimme Auswirkungen nicht zu befürchten waren, und wenn doch, dann würde sie da sein und ihm helfen.

Sie war hochgestimmt zur Arbeit erschienen und hatte nicht geahnt, was er vorhatte und dass dieser Tag anders sein würde als die anderen. Das Wetter war so schön, dass sie nicht die Tram genommen hatte, sondern geradelt war, und der Sonnenschein und die frische Luft hatten sie unbeschwert gemacht. »Guten Morgen, Fräulein Ramstein«, hatte Herr H. sie begrüßt, als sie, nachdem sie ihre Jacke in den Schrank gehängt und den Kittel angezogen hatte, in sein Arbeitszimmer getreten war. Er hatte am Schreibtisch gesessen und grinsend von seinem Laborjournal aufgesehen. »Haben Sie die Narzissen gesehen? Es sieht aus, als hätte jemand über Nacht Butterflocken in der Landschaft verteilt.«

»Ja, ja, es ist alles so schön, und bald ist Sommer« — und wenn das eine banale Floskel war, dann passte sie doch sehr gut, denn alles war wie immer, es war ein ganz normaler Arbeitstag, und ihr oder ihrem Chef würde nichts passieren, weder jetzt noch sonst irgendwann.

Doch dann sah er sie, noch immer grinsend, lange an und sagte: »Fanden Sie es nicht ungewöhnlich, dass ich am Freitagnachmittag früher Schluss gemacht habe?«

Doch, sie hatte es ungewöhnlich gefunden, aber nichts gesagt, und sie sagte auch jetzt nichts, sondern blieb abwartend in der Tür stehen.

»Sie wissen natürlich, das sieht mir gar nicht ähnlich. Ich glaube, ich habe in den« — er hielt inne und rechnete in Gedanken nach — »vierzehn Jahren, die ich jetzt hier bin, keine zwei Tage gefehlt. Aber ich habe mich so eigenartig gefühlt, so desorientiert, könnte man sagen, und war mir sicher, dass ich Grippe oder Fieber oder so was hatte.« Er sah sie unverwandt an. »Aber das war nicht der Grund, ganz und gar nicht. Wissen Sie, was der Grund war?«

Sie hatte keine Ahnung, aber genau in diesem Moment begann die Angst in ihr zu ticken wie eine dieser Zeitbomben, mit denen die Widerstandsbewegung in Frankreich und Holland gegen die Besatzer kämpfte.

»Es war die Chemikalie, die Verbindung, die wir hergestellt haben. Sie wissen, wie vorsichtig ich bin, besonders im Umgang mit toxischen Stoffen, aber niemand ist perfekt, und am nächsten Morgen wurde mir klar, dass während der Rekristallisation eine Spur der Lösung irgendwie an meine Haut gelangt sein musste, an den Unterarm oder das Handgelenk, vielleicht sogar an die Fingerspitzen, als ich die Handschuhe ausgezogen habe. Eine Spur, mehr nicht. Und ich kann Ihnen sagen, dass ich so etwas noch nie erlebt habe. Es war, als wäre ich berauscht, urplötzlich betrunken, hier im Labor, am helllichten Tag. Aber außerdem und noch viel seltsamer: Als ich zu Hause war, habe ich alle möglichen phantastischen Formen und Bilder gesehen, sogar mit geschlossenen Augen.«

Sie sagte das Erstbeste, was ihr einfiel: »Eine Vergiftung.«

»Ja«, sagte er, erhob sich und ging durch den Raum zu ihr. Er sah ihr in die Augen, als suchte er dort etwas. »Aber wie? Und was hat es zu bedeuten?«

Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Er stand zu dicht vor ihr, so dicht, dass sie seine Pfefferminzpastillen riechen konnte. »Ich weiß nicht«, sagte sie. »Dass Sie Glück gehabt haben?«

Er lachte auf. »Genau: Glück. Ich habe wirklich das Gefühl, dass wir da auf etwas gestoßen sind.«

»Nein«, sagte sie und wich einen Schritt zurück. All die Regeln und Vorsichtsmaßnahmen, alles, was sie in ihrer Lehrzeit und später, als ausgebildete Laborantin, gelernt hatte, all die Horrorgeschichten über versehentliche Vergiftungen, Verbrennungen, Verätzungen flatterten wie ein Schwarm schwarzer Vögel durch ihren Kopf: Niemals Wasser in Säure geben! Hantieren mit flüchtigen Stoffen nur unter einer Haube mit eingeschaltetem Abluftgebläse! Haut abdecken und Handschuhe tragen! »Ich meine, Sie haben Glück, dass es nicht schlimmer ausgegangen ist. Sie haben Glück« — sie hielt inne und spürte etwas in sich aufsteigen, eine Mischung aus Liebe und Verlustangst —, »dass Sie noch am Leben sind.«

Bei der Chemikalie handelte es sich um eine der Mutterkorn-Verbindungen, die Albert Hofmann 1938 synthetisiert hatte, als sie erst sechzehn gewesen war und noch als Au-pair-Mädchen in Neuchâtel gearbeitet hatte. Er war damals ein ehrgeiziger junger Chemiker gewesen, der gehofft hatte, ein Analogon zu Nikethamid zu finden, einem kardiovaskulären Stimulans, das von Ciba, einem der größten Konkurrenten der Firma, unter dem Namen Coramin vermarktet wurde. Die Struktur von Nikethamid — Nikotinsäurediethylamid — hatte eine verblüffende Ähnlichkeit mit der von Lysergsäure, dem Grundbestandteil der Mutterkornalkaloide, die Arthur Stoll, sein Mentor, vor achtzehn Jahren isoliert hatte, und so nahm Albert Hofmann an, dass deren Eigenschaften und Einsatzmöglichkeiten ähnlich sein würden. Drei Jahre der Forschung erbrachten jedoch nur ein einziges vermarktungsfähiges Produkt — Ergobasin, das von der Firma für den...

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