Pferde

Pferde

von: Jenny Friedrich-Freksa

Hanser Berlin, 2019

ISBN: 9783446263482

Sprache: Deutsch

240 Seiten, Download: 3307 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Pferde



Warum Pferde?


Ich steige durch den Zaun. Mein Nacken tut weh, als ich mich bücke, um zwischen den Holzlatten durchzukriechen. Zu viel Bewegung für meinen angeschlagenen Hals. Sechs Wochen ist es her, seit ich vom Pferd gefallen bin. Ich weiß nicht, was genau passiert ist, meine Erinnerung an diesen Tag ist vollständig gelöscht. Ich hatte gehofft, dass mir hier draußen irgendetwas wieder einfallen würde, aber da kommt nichts.

Die Pferde stehen auf der Weide, braune und schwarze Flecken im Grün, dazwischen der Schimmel. Seit dem Unfall habe ich ihn nicht gesehen. Im Nachhinein kommen mir die Tage in der Klinik surreal vor, der Arzt, der fälschlicherweise glaubte, ich hätte mir einen Halswirbel gebrochen, die Untersuchungen und Gedächtnistests, und dann die Wochen zu Hause, in denen ich still im Bett lag, damit mein Gehirn sich erholen konnte, mit einem unerträglich leeren Kopf, der sich erst nach und nach sortierte. Die Erinnerungen kamen zurück. Nur der Tag, an dem der Unfall passierte, blieb weiterhin verschwunden.

Ich gehe ein paar Schritte auf die Pferde zu, dann bleibe ich stehen. Ich will den Schimmel rufen, wie ich es immer tue, aber der Ton bleibt mir im Hals stecken. Ich kriege nicht einmal ein Flüstern zustande. Mein Körper überrascht sich dieser Tage immer wieder selbst. Ein paar der Tiere haben mich gesehen und blicken auf. Auch der Schimmel hebt den Kopf. Wir schauen uns aus der Ferne an. Sein Kiefer malmt ruhig von einer Seite auf die andere weiter, während er mich beobachtet, dann steht sein Maul still. Ich warte. Ich bin mir nicht sicher, ob er mich erkennt. Langsam setzt er sich in Bewegung und kommt mir entgegen. Er läuft wie immer, etwas zögerlich, den Kopf tief nach unten gesenkt, den Blick aber gleichzeitig interessiert nach vorne gerichtet. Als er vor mir steht, legt er sanft die Nase in meine Armbeuge. So bleibt er stehen. Mir kommen die Tränen, irgendwo von tief drinnen, wohin der Zugang versperrt war. In den letzten Wochen habe ich nicht geweint, es war, als hätten die verrutschten Synapsen nicht nur mein Erinnerungsvermögen lahmgelegt, sondern auch meine Gefühle. Aber jetzt fließt alles aus mir heraus, der Schreck und das ganze Ibuprofen, die Angst, dass etwas Wesentliches kaputtgegangen ist, und die Erleichterung, dass ich hier stehe, als sei nichts gewesen, an einem sonnigen Junitag, zwischen Gänseblümchen und Löwenzahn. Das Pferd wartet, während ich weine. Ich streichle ihm die Stirn, mit den Fingern schiebe ich seinen Schopf über den Augen zur Seite. Ein Zittern läuft durch meinen ganzen Körper. Danach werde ich ruhiger. Insekten summen über die Wiese, das Pferd vertreibt sie ab und zu mit dem Schweif. Irgendwann fängt es an, mit seiner Zunge an meinem Unterarm zu lecken. Ich glaube, ihm ist ein bisschen langweilig. Es reckt den Kopf nach unten, um zu grasen, und ich lege meine Hand auf seinen gebeugten Hals. Ich kraule dem Schimmel den Mähnenkamm und schaue ihn mir genauer an. Sein Bauch ist dick und rund geworden, kein Wunder, niemand ist ihn in den letzten Wochen geritten.

Vier Wochen später steige ich wieder in den Sattel, und alles ist fast wie früher. Nach dem Sturz hatte es Momente gegeben, in denen ich darüber nachdachte, mit dem Reiten aufzuhören. Das Risiko, noch einmal schwer zu stürzen, kam mir zu groß vor. Aber der Verzicht erschien mir noch viel größer, sodass ich den Gedanken sofort wieder verwarf.

Ich reite seit meiner Kindheit, und anders als mit etlichen anderen Dingen habe ich damit nie aufgehört. Es gibt vieles, womit man sich beschäftigen kann — mit Hunden oder Hasen, man kann segeln gehen oder Saxofon spielen. Warum habe ich mir Pferde ausgesucht? Und weshalb faszinieren sie mich schon so lange? Und ja, nicht nur mich, sondern auffällig viele Frauen und Mädchen?

Das Verhältnis zwischen Mensch und Pferd ist sehr alt, weit mehr als 6000 Jahre und hat im Laufe der Zeit unzählige Veränderungen durchlaufen. Diese lange Geschichte fließt natürlich in unseren heutigen Umgang mit den Tieren ein. Aus einer Vergangenheit, in der Pferde als Nahrung dienten oder als Ackertiere halfen, Felder zu bewirtschaften, in der sie über lange Zeit das wichtigste Fortbewegungsmittel und in Kriegen unersetzlich waren, wurde eine Gegenwart, in der Pferde in erster Linie für den Freizeitsport gehalten werden. Bis vor wenigen Jahrzehnten war die Freude am Reiten vor allem eine Freude der Männer. Doch wie kaum etwas anderes hat die Beschäftigung mit Pferden das Geschlecht gewechselt und wurde vom Männerding zur Frauensache, verbunden mit etlichen Klischees über weibliche Pferdeverrücktheit. Wie schreibt man als Frau über die Liebe zu Pferden, ohne in die Pferdemädchen-Ecke gesteckt zu werden, wo Begeisterung schnell als niedlicher Gefühlsüberschwang gilt, typisch für Mädchen und Frauen.

Dieses Buch erzählt von den sehr unterschiedlichen Anziehungskräften, die von Pferden und dem Reiten ausgehen. Sie haben mit dem Spaß an Sport und an Bewegung zu tun und mit einer Sehnsucht, die Stadtwelt hinter sich zu lassen und in die Natur einzutauchen. Es geht um Weite und um Freiheit, aber auch um die Überwindung von Angst, um Respekt und um das Vergnügen, mit diesen großen Tieren zu kommunizieren. Pferde sind intelligent und oft auch lustig.

Ich erinnere mich, wie eine Stute einmal versuchte, sich vor mir zu verstecken, als ich sie von der Koppel holen wollte. Sonst kam sie mir entweder entgegen oder wartete, dass ich zu ihr kam. Aber an diesem Tag hatte sie offenbar überhaupt keine Lust, abgeholt zu werden. Ich war noch ein ganzes Stück von ihr entfernt, als sie sich in die hinterste Ecke der Weide aufmachte, um sich dort hinter einen Baum zu stellen. Es war eher ein Bäumchen, eine winzige Tanne, die den großen Körper des Pferdes nur sehr dürftig verdeckte. Man muss dazusagen, dass es auf der fast leeren Weide auch kein besseres Versteck gegeben hätte. Die Tanne war der einzige Baum weit und breit.

Es gibt viele kleine Momente wie diesen mit Pferden, und es gibt die großen, von beiden handelt dieses Buch. In der Natur und in der Gegenwart von Tieren nimmt man das Menschsein anders wahr als unter Menschen, auch darum geht es in den folgenden Kapiteln.

Weil die Beziehung zwischen Mensch und Pferd so alt ist, ist der Wissensschatz riesig. Man kann sich Pferden unterschiedlich nähern, von der wissenschaftlichen Seite oder von der persönlichen. Mich interessiert beides.

Mein Wissen über Pferde liegt in meinem Kopf wie in einem etwas unaufgeräumten Archiv. Es gibt dort klassische Reitlehren und moderne, Kenntnisse über Anatomie und Bewegungsabläufe, Wissen aus der Verhaltensforschung und Tiermedizin oder aus der Kulturgeschichte. In meinem Gehirn sind Gemälde aus großen Museen gespeichert und berühmte Erzählungen, wie jene über Alexander den Großen und seinen Hengst Bukephalos, aber auch mindestens fünfzehn Bände Bille und Zottel.

Manche Erkenntnisse lassen sich wissenschaftlich verifizieren, man kann mit Experten sprechen oder Dinge nachlesen. Andere sind Ansichtssache — unter Reitern gibt es mindestens so viele Meinungen über den richtigen Umgang mit Pferden wie unter Fußballfreunden über das richtige Training für die Nationalmannschaft.

All das vielfältige Wissen über Pferde hilft, persönliche Erlebnisse einzuordnen. Doch in ihnen liegt auch eine eigene Wahrheit, eine Realität des Empfindens, gespeist aus Gefühlen und Intuition, aus guten und schlechten Erfahrungen mit Pferden. Dieses fast instinktive Wissen bestimmt das Handeln gegenüber den Tieren enorm. Man weiß sehr oft, was funktioniert und was nicht, weil man bestimmte Situationen und Reaktionen schon unzählige Male erlebt hat.

Meine eigene Geschichte mit Pferden beginnt im Westberlin der 1980er Jahre, in einer Stadt, die für viele Dinge berühmt ist, aber nicht für ihre Nähe zu Natur und Tieren. »Wie haltet ihr es dort nur aus?«, fragt mein Großvater. »Fühlt ihr euch nicht eingesperrt?« Mein Bruder und ich kennen es nicht anders. Wenn wir die Großeltern in Göttingen oder Tübingen besuchen, warten wir im Auto manchmal stundenlang an der Grenze, das ist normal. Warum ich damals unbedingt reiten lernen wollte, weiß ich nicht mehr so genau. Eine meiner Großmütter ritt früher, und auch meine Mutter hat reiten gelernt, tat es aber nur selten. Zwei Geschwister meines Vaters verstanden viel von Pferden, er selbst voltigierte als Kind und ritt ab und zu als Erwachsener. Meine Eltern haben mir Reiten nie als Hobby vorgeschlagen, sie hatten aber auch nichts dagegen.

Ich beginne, mich näher dafür zu interessieren, als zwei meiner Freundinnen anfangen, Reitstunden zu nehmen. Ich bin beeindruckt, was sie plötzlich können. Sie trauen sich sogar, auf...

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