Rechtswalzer - Kriminalroman

Rechtswalzer - Kriminalroman

von: Franzobel

Paul Zsolnay Verlag, 2019

ISBN: 9783552059382

Sprache: Deutsch

416 Seiten, Download: 1865 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Rechtswalzer - Kriminalroman



Schwarzer Freitag


Dinger wäre nie auf den Gedanken gekommen, dass Worte einen Geschmack besäßen, aber dieses »Fahrscheinkontrolle« schmeckte nach Rostblumen und brackigem Regenwasser. Lässig holte er seine Brieftasche hervor, um die Monatskarte der Wiener Linien herauszufischen. Er öffnete das Portemonnaie, griff nach dem Fahrschein  Nichts! Da waren ein Hundert-Euro-Schein, die zerfledderte Kopie seines Reisepasses, eine Gutschrift der Österreichischen Bundesbahnen, Bankomatkarte, diverse Ausweise  aber keine Monatskarte! Dinger spürte, wie sein Herz drei Gänge hinaufschaltete, seine Schweißdrüsen zu arbeiten begannen. Elvira! Seine Frau hatte sich gestern die Karte ausgeborgt und augenscheinlich vergessen, sie zurückzugeben.

Das Malte-Dinger-Universum schrumpfte auf diese Monatskarte zusammen. Er musste so verzweifelt dreingesehen haben, dass die Kontrolleure — jenes blondierte Duo mit der schlammgrünen Anglerkleidung — sofort und mit dem geschulten Blick Hunderttausender Überprüfungen den Schwarzfahrer erkannten.

— Was ist? Extraeinladung? Der Mann verschränkte die Arme, hob das Kinn und sah aus wie ein aus der Form geratener Schlagersänger, der sein Publikum fragte, ob er die Konzerthalle gleich oder erst bei der Zugabe in die Luft jagen solle.

Dinger brachte kein Wort heraus.

— Ein irdenes Gefäß schwebt über unseren Häuptern.

— Bitte?

— An Scherben haben mir auf!

— Ich  einen was?

— Einen Potschamper.

— Nachttopf, ergänzte die Blondierte.

— Keine Tanz. Kommen S’, sagte der aufgepumpte Mensch mit sanfter Stimme in breitem Wienerisch. Auf dem Ausweis, der um seinen Hals baumelte, konnte Malte den Namen Walter Hirm lesen.

— Ich  das heißt  bitte  Dinger rang um Worte, überlegte, ob er einen Ausländer spielen sollte, der nicht verstand, zu spät! Er wollte lächeln und sagen, dass er mit fremden Menschen nicht mitgehen dürfe, brachte aber nur unzusammenhängende Satzfetzen zustande, immer dieses Sich-klein-Fühlen vor Autoritätspersonen, und stieg, »Kommen S«, mit den beiden Bratwürsten aus.

Die Station Rathaus, diesmal graue Schinkenwürfel, war fast menschenleer, nur ein Straßenmusiker lehnte an einer vertäfelten Säule und sang »Hey Jude«.

— Kein Fahrschein  Macht hundertdrei Euro, raspelte die Dame mit Reibeisenstimme. Auf ihrem Ausweis stand Brigitte Cicivarek. Hirm und Cicivarek  hört sich nach dem Refrain eines tschechischen Kinderliedes an.

— Ich besitze eine Monatskarte, es ist nur so, meine Frau, Elvira  ich weiß nicht, wieso  Frauen!  Ständig verlegt sie Schlüssel, die Brieftasche, ihre Handtasche gleicht dem Bermudadreieck 

— Was glauben Sie, wie viele Ausreden wir täglich hören.

— Und wissen Sie, was wir davon halten? Notorische Schwarzfahrer, die sich auf Kosten der Allgemeinheit bereichern. Volksschädlinge!

— Aber  ich. Es stimmt wirklich. Volksschädling ist ein Naziwort, aber sag jetzt nichts. Seit die neue Regierung im Amt ist, sind solche Ausdrücke wieder salonfähig, allerdings nur in Bezug auf Moslems. Ständig ist davon die Rede, dass Christen und Juden im Koran als »Brennstoff des Höllenfeuers« gelten, »Dār as-Salām«, das Haus des Friedens für Moslems, erst erreicht wird, wenn die ganze Welt an den Islam glaubt. Ständig heißt es, der Koran sei Mohammeds »Mein Kampf«, Muslime besäßen die Lizenz zum Lügen, wenn es der Verbreitung des Glaubens diene  und wenn wir uns nicht zur Wehr setzten, würden sie uns vernichten  Aber jetzt gibt es ja LIMES, die Partei zur Bekämpfung dieser Volksschädlinge 

— Ein irdenes Gefäß schwebt über unseren Häuptern.

— Wie?

— An Scherben ham mir auf! Der Muskelprotz lächelte. Auf seinem Unterarm war ein Bikerspruch tätowiert.

— Bezahlen Sie gleich oder mit Erlagschein?

— Gleich. Kein Grund zur Panik. Beim Schwarzfahren erwischt, unnötigerweise eine Strafe bezahlt, schuld ist Elvira. Aber es gibt Schlimmeres, eine Krebsdiagnose oder wenn Carvin etwas zustieße, undenkbar  Dagegen ist das nur ein kleiner Obolus an das Universum, dafür, dass alles weiter seinen gewohnten Gang geht  Dinger griff nach seiner Brieftasche und wusste, es waren zweihundert Euro drinnen. Doch als er sie öffnete, fuhr es wie ein Blitz in ihn, sie enthielt nur noch einen Schein. Hundert Euro waren in der Schule geblieben — Carvins Schulmilch, weil selbst ein von Sauriern protegierter Knabe Calcium und Eiweiß brauchte. Die Lehrerin hatte gefragt, ob er den Jahresbetrag gleich bezahlen oder überweisen wolle. Gleich, hatte er gesagt. Und jetzt? Jetzt hatte er den Salat.

— Mir fehlen drei Euro.

— Also mit Erlagschein? Der muskulöse Hirm stand so nahe neben Malte, dass sich dieser vom bitteren, nach Zigarettenrauch, Kaffee und Magensäure riechenden Atem beinahe übergeben musste.

— Die drei Euro können Sie mir nicht erlassen?  Ich besitze eine Monatskarte  Kann man das nicht überprüfen? Dinger lächelte. Er hatte noch nie Probleme mit Autoritäten gehabt, wusste, wenn man die Amtsgewalt akzeptierte und sich subaltern verhielt, gab es in Österreich immer ein Hintertürchen, ein Augenzudrücken und Durchwinken. Deshalb liebte er Wien, hier ließ sich alles amikal regeln — man musste den Beamten nur zeigen, dass man einer von ihnen war, kein arroganter Schnösel, der die Nase im vierten Stock trug.

— Na ja. Der Muskelprotz kratzte sich am Ohrläppchen.

— Kommen Sie, ich gebe Ihnen den Hunderter, und wir vergessen die Geschichte.

— Ich habe bereits alles eingegeben, widersprach die Cicivarek und zeigte auf das Display ihres schwarzen Kastens — ein Gerät, wie es Kellner, Schaffner und Parksheriffs verwendeten. Bald werden auch Ärztinnen, Kindergärtner, Busfahrerinnen  wird jeder Mensch alles, was er tut, in so einem Kasten abspeichern müssen.

— Leider, zuckte Hirm die Achseln. Wenn die Chefin sagt, es geht nicht 

— Dann löschen Sie es wieder, Frau Chefin.

— Unmöglich! Der blondierte Koloss verneinte. Name? Geburtsdatum? Wohnadresse? Versicherungsnummer?, ratterte es aus der Cicivarek hervor.

— Paul Glücksmann, Anwaltssubstitut, Tendlergasse 12, neunter Bezirk. Wiener Gebietskrankenkasse 6234 06 03 84, gab er einen Phantasienamen und die Adresse eines Studentenheimes an, in dem er einmal gewohnt hatte. Fake News kann ich auch. Bei der Versicherungsnummer stimmte gar nichts, und mit der Berufsbezeichnung hoffte er auf Respekt. Er bemühte sich, ein ehrliches Gesicht zu machen, fürchtete aber zu erröten oder dass das Wort »Lügner« auf seiner Stirn aufblinken könnte.

— Sie haben sicher einen Ausweis, der das bestätigt, meinte die Dame.

— Ausweis? Hören Sie, ich habe meinen Sohn zur Schule gebracht und nicht damit gerechnet  Jetzt reicht es, schickte sich Dinger an, die beiden einfach stehenzulassen.

— Dageblieben, Freundchen.

— Was fällt Ihnen ein? Sie haben kein Recht, mich festzuhalten.

— Dürfen wir durchaus, sagte die Chefin. Sie glauben wohl, wir lassen uns verarschen. Und ehe Dinger sichs versah, hatte auch sie einen Arm gepackt.

— Wir haben das Recht, Sie bis zur Feststellung Ihrer Identität anzuhalten.

— Ich habe Ihnen alles gesagt. Malte spürte eine Welle unsagbarer Wut aufsteigen.

— Wir gehen jetzt zur Polizei und sehen im Melderegister nach. Die beiden zerrten ihn Richtung Ausgang, und der Musiker sang: »Remember to let her into your heart, then you can start to make it better «

— Lassen Sie los. Dinger lächelte. Wir gehen zum nächsten Bankomat, dort hebe ich drei Euro ab, damit diese lächerliche Episode ein Ende findet.

— Klingt vernünftig, brummte der Muskelmann, ohne Maltes Arm loszulassen. So verließen sie die U-Bahn-Station, Dinger eingeklemmt zwischen diesen Bullen. »Yeah, yeah, yeah.« Sie landeten vor einem Café, wo auf einer schwarzen Tafel »Kaffee to go — jetzt auch zum Mitnehmen« stand, und hielten nach einem Geldautomaten Ausschau. Dort drüben! Als Dinger seine Bankomatkarte herausholte, wurde sie ihm...

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