Der Schmerz - Roman

Der Schmerz - Roman

von: André de Richaud

Dörlemann eBook, 2019

ISBN: 9783038209645

Sprache: Deutsch

224 Seiten, Download: 564 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Der Schmerz - Roman



II

Der Sommerabend brach herein. Das ganze Dorf war um den Brunnen versammelt. Man hörte im Schatten die Stimmen der Männer, die auf den Steinbänken saßen, und in der Nachtschwärze konnte man die Krämerin erahnen, die sich auf ihrem Binsenstuhl zurücklehnte, und den Metzger, dessen Zigarette in der Dunkelheit glühte. Diese wackeren Leute versuchten sich ein Bild vom Krieg zu machen und zerbrachen sich an deutschen Wörtern schier die Zunge. Madame Delombre lag auf dem Liegestuhl vor ihrer Tür, den Kopf ihres Sohnes zwischen den Knien und träumte … Ein tieftrauriger Ausdruck lag auf ihrem Gesicht. Sie tat nichts, um ihn zu verbergen, da niemand sie sehen konnte. Jemand lief an ihr vorbei, und dann hörte man: »Guten Tag, Madame Delombre, wie geht es Ihnen?«

Als hätte man sie plötzlich geweckt, antwortete sie: »Oh! Entschuldigen Sie, Herr Pfarrer, ich hatte Sie nicht gleich erkannt.«

Ein paar Minuten später sagte der Pfarrer zu seiner Schwester: »Sie scheint mir sehr nett zu sein, diese Madame Delombre. Ach! Dieser Krieg! Sie ist noch keine fünfunddreißig und schon Witwe!«

Der arglose Dorfpfarrer wusste nicht, dass seine Soutane in Thérèses Gedanken nicht die Überlegungen eines Klageweibs, sondern Reigen nackter Männer und besessener Frauen verscheucht hatte. Der Kopf des Kleinen, der sich zwischen ihren Knien schwer anfühlte, wandelte sich zum Kopf eines Mannes, seine dünnen Kinderbeine zogen sich in die Länge, bedeckten sich mit dunklen Härchen und wurden hart wie die der jungen Männer, denen sie sonntags beim Fußballspielen zusah. Inzwischen konnte sie sich ihrer Obsession nicht mehr entziehen. Sie wurde raffiniert und einfallsreich. Selbst die züchtigsten Bücher lösten bei ihr böse Gedanken aus, und wenn sie sich vor dem Spiegel auszog, blieb sie lange bewegungslos stehen, musterte gierig ihr Gesicht. Sie glaubte vergehen zu müssen, weil es an ihrer Seite keinen Menschen gab, der sie lieben konnte, wie sie es wollte – auch keine Frau – und ihre Momente der Zweisamkeit mit dem Spiegel steigerten ihr Verlangen nur.

Wenn sie abends das Hemd wechselte, sagte sie zu dem Kind, das bereits im Bett lag: »Dreh dich zur Wand.«

Und es errötete, als nahte irgendein Mysterium – so traurig und bang war die Stimme seiner Mutter.

Im Wohnzimmer stand auf einem Tischchen ein kleiner Athlet aus Bronze, den der Hauptmann bei einem Sportwettkampf gewonnen hatte. Eine seltsame Liebe entspann sich zwischen ihm und der verzweifelten Frau. Er war kaum fünfundsiebzig Zentimeter hoch und nackt. Thérèse streichelte mit halbgeschlossenen Augen die kleinen Schultern. Unter ihren fieberhaft tastenden Händen begann ein winziges Herz in der harten, schwarzen Brust zu schlagen, und die Frau lief mit Tränen in den Augen und glühenden Wangen aus dem Wohnzimmer. Dann stürzte sie sich auf ihren Sohn und sagte, während sie ihn mit Küssen erstickte: »Ich liebe nur dich, nicht wahr?«

Einer Schmusepuppe gleich leistete das Kind den Liebkosungen seiner Mutter keinen Widerstand, und auf Seiten der Rhône sank der Abend herab, auf Seiten der Hügel stieg der Morgen hinauf, und nie kam ein Mann … In der Sonne, die immer brennender wurde, verdorrte sie vor Leidenschaft.

Das Haus war voller lächerlicher Möbel, wie reich gewordene Pferdehändler sie anhäufen. Möbel, wahllos aus zufälligen Erbschaften zusammengetragen. Im Wohnzimmer stand ein Korbsessel, und an der Wand hing ein großes Bild, das ohne die goldene Aufschrift Mit besten Empfehlungen der Konfiserie Guérin-Boutron gar nicht so hässlich gewesen wäre. Die Fenster waren klein und die Atmosphäre klamm und leblos. Weil das Haus unter riesigen Bäumen stand, drang die helle Sonne des Comtat nicht zu ihm durch.

Das Kind wuchs in dieser Atmosphäre der Traurigkeit und Liebe auf, inmitten von hässlichen Gegenständen und mit einer Mutter, der es wehrlos ausgeliefert war. In diesem Alter, in dem sich im Bauch, im Herzen und im Mark der kleinen Männer geheimnisvolle Dinge ereignen; in dem ein regnerischer Abend, der die Luft zum Knistern bringt, ein blutendes Knie oder eine erzählte Geschichte einen fatalen Einfluss auf Muskeln und Drüsen haben kann; in dem die Kinder sich vom Zufall leiten lassen – in diesem Alter wurde er auf den Weg der Leidenschaft geführt, dort gehalten, und schon neigte sich sein Herz zur Liebe und zum Schmerz wie durstige Lippen zu einem Trank, den sie noch nie gekostet haben, dessen Geschmack sie aber erahnen. Er war noch nicht in die Phase eingetreten, die Mütter als das undankbare Alter bezeichnen (wobei sie nicht wagen, diesem Wort den Sinn zu verleihen, an den sie insgeheim denken); für ihn zog der Morgen herauf, wenn an den verborgenen Regionen des Körpers die ersten Haare sprießen, die letzten Nerven reifen.

Während dieser unsichtbaren Verwandlung verändert die Welt nicht ihre Farbe, sondern ihr Licht. Die Dinge bleiben, was sie sind, aber ein Feuer, das alles ringsum beleuchtet, bemächtigt sich des Körpers und des Geistes. Georget Delombre loderte schon wie ein brennender Dornbusch, aber dieses Haus war der Dunkelheit geweiht. In diesem Alter erscheint einem die Umgebung meist trüb und leblos. Die Familie ist eine allzu vertraute Insel inmitten einer Welt, die man sich verwunschen vorstellt. Bücher und bunte Illustrierte erzählen eindrücklich vom ersehnten Abenteuer. Jede Generation von Kindern hat Bilderbücher, welche die Vorgängergeneration für sie geschrieben hat. Die Kriegskinder lernten die Welt anhand von schlammbraunen Zeitschriften kennen, in denen die Schützengräben in ihrer düsteren und verregneten Hoffnungslosigkeit abfotografiert waren, und anhand von Illustrierten, in denen Grün (für die Uniformen der Boches) und Rot (für das Blut aller) vorherrschten.

Seit Hauptmann Delombre gestorben war, interessierte sich die Witwe nicht mehr für den Krieg, aber die Flut der Zeitungen war so stark – in diesen Zeiten, in denen es galt, den Schmerz all derer zu betäuben, die nicht selbst im Fleische litten –, dass er bei ihr ankam. Der Esszimmertisch war stets übersät mit Artikeln, die vor ermordeten Männern, gemarterten Frauen, patriotischen elsässischen Hauben und gefällten Bäumen nur so strotzten.

Die Kinder kannten die gebräuchlichsten Wörter nicht, waren aber mit der Bedeutung von Vokabeln wie Vandale, Massaker und Hekatombe vertraut, von denen die Journalisten ständig Gebrauch machten. Der kleine Georges lernte wie alle anderen das Lesen mit diesen abscheulichen Blättern und, wenn er die letzte Seite von J’ai vu oder L’Illustration umgeblättert hatte, wo es beispielsweise um einen »Priester beim Lesen der Messe getötet« ging, übermannte ihn die Angst und er suchte Zuflucht in den Armen seiner Mutter. Wenn er derlei in den Abendstunden las, musste er unbedingt bei ihr schlafen, und sie fühlte lange seinen heißen Atem auf ihrer Wange und seinen fiebrigen Arm auf ihrer Brust.

Da sie von ihrer unterdrückten Leidenschaft geblendet war, beunruhigte es sie nicht, dass sich an ihrer Seite eine derart ausgeprägte und hungrige Empfindsamkeit entwickelte. Der Junge verbrachte lange Nachmittage auf dem Dachboden, wo er sich aus alten Stoffen Kostüme fertigte oder in der Bibliothek stöberte. Sie saß im Erdgeschoss und nähte, und jede Viertelstunde rief er: »Mam, bist du da?«

Sie antwortete »Ja«, und er setzte sein einsames Spiel fort. Wenn sie nicht sofort antwortete, stürmte er die Treppe hinunter, mit weit aufgerissenen Augen, blassen Lippen, zu Tode erschrocken, weil er sich für einen Augenblick allein im Haus geglaubt hatte, und hing dann ein paar Tage an den Rockschößen seiner Mutter und wollte keinen einzigen Einkauf für sie erledigen. Es dauerte oft eine Woche, bis eine Sekunde der Angst verflogen war, und wenn die Frau auf den Speicher stieg, sah sie irgendein seltsames Buch offen daliegen oder verstreute Fetzen von Seide und alter Spitze auf dem Boden.

An bestimmten Winterabenden, an denen man meinte, die Köpfe blutiger Gespenster, die der Nordwind herangeweht hatte, gegen die Fensterläden schlagen zu hören, spielte sich rund um die kleine Lampe ein wahres Drama ab. Das Kind hatte die Schule um vier Uhr verlassen, die Nacht war bereits hereingebrochen. Der Mistral wirbelte donnernd um den Platz und es gelang dem Kleinen nicht, seine Pelerine über der Brust festzuhalten. Er fand ein schreckliches Vergnügen darin, sich selbst Angst zu machen. Im Schatten erkannte er unter den anderen Lichtern das grüne Licht seines Hauses, dann schloss er die Augen, um sich vom Wind forttragen zu lassen. Der Schatten füllte sich mit eisigen Händen, die ihn wiegten, und die großen Orgeln des Windes sangen im Chor.

Er hörte den Erlkönig, war aber nicht in den Armen seines Vaters, und weil man ihm in seiner frühen Kindheit diese wunderbare Sage vorgesungen hatte – Hauptmann Delombre war mit einer famosen Baritonstimme gesegnet, in seinen letzten Lebensjahren zwar durchaus heiser vom übermäßigen Aperitifgenuss, aber noch immer angenehm –, hatte er sich ihre geheimnisvolle Magie im Herzen bewahrt.

Wenn sie nach vier Uhr in Dreiergruppen das Klassenzimmer fegten, verdoppelten sich sein Vergnügen und sein Schrecken, denn so war der Schatten noch dichter und leichter zu bevölkern, wenn er das Schulhaus verließ. Er liebte das Gefühl, wenn ihm ein Blatt über das Gesicht streifte, wenn ihm ein Hauch Mistral in die Hosenbeine fuhr. Solange er mitten auf dem weiten, leeren Platz stand, den Schatten ausgeliefert, im verwunschenen Königreich, hatte er keine Angst, doch sobald er in die Nähe der Tür kam,...

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