Die Mauer - Roman

Die Mauer - Roman

von: John Lanchester

Klett-Cotta, 2019

ISBN: 9783608115611

Sprache: Deutsch

348 Seiten, Download: 4275 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Die Mauer - Roman



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Es ist kalt auf der Mauer. Das ist das Erste, was einem jeder erzählt, und auch das Erste, was einem auffällt, wenn man dorthin versetzt wird. Das ist es, woran man die ganze Zeit denken muss, wenn man sich auf ihr befindet, und daran erinnert man sich, wenn man nicht mehr dort ist. Es ist kalt auf der Mauer.

Man sucht nach Metaphern. Es ist so kalt wie Schiefer, wie ein Diamant, wie der Mond. Wie ein verächtliches Almosen – ein besonders passender Vergleich. Aber bald begreift man, dass sich diese Kälte am meisten dadurch auszeichnet, dass sie eben keine Metapher ist. Sie lässt sich mit nichts vergleichen. Sie ist einfach nur eine reale Gegebenheit. Jedenfalls diese Art von Kälte. Kälte ist Kälte ist Kälte.

Das ist also das Erste, was dir entgegenschlägt. Die Kälte hier ist mit keiner anderen Kälte vergleichbar. Sie durchdringt alles, als sei sie eine ständige materielle Eigenschaft dieses Ortes. Die Kälte ist eines seiner grundlegendsten Merkmale, sie wohnt ihm inne. Sie schlägt dir als gebündeltes Ganzes entgegen, wenn du das erste Mal zur Mauer kommst, am ersten Tag deines Einsatzes. Du weißt, dass du zwei Jahre dort sein wirst. Du weißt, dass es im Wesentlichen überall gleich aussieht, jedenfalls geographisch, aber dass alles davon abhängt, wie die Leute sein werden, mit denen du zusammen in einer Einheit dienen wirst. Du weißt, dass du nichts daran ändern kannst. Es ist beängstigend, aber auf gewisse Weise auch ein wenig befreiend. Keine andere Wahl. Alles an der Mauer besagt, dass man keine Wahl hat.

Du durchläufst eine kurze, nicht besonders umfangreiche Ausbildung. Sechs Wochen. Hauptsächlich geht es um das richtige Halten, Pflegen und Abfeuern deiner Waffe. In dieser Reihenfolge. Ein bisschen Fitnessübungen, aber nicht viel, dafür eine Menge Training, wie man es schafft, um Mitternacht sofort aufzuwachen, Training zu Schlafstörungen, plötzlichen Panikattacken, plötzlichen Änderungen in der Dienstabfolge, Disziplintests in den frühen Morgenstunden. Das pauken sie dir unablässig ein: Disziplin ist wichtiger als Mut. In einem Kampf gewinnen diejenigen, die tun, was man ihnen befohlen hat. Es ist anders als in den Filmen. Sei nicht mutig, tue einfach nur, was dir befohlen wird. Das ist mehr oder weniger alles. Der Rest der Ausbildung geschieht auf der Mauer selbst. Du erhältst sie von den Verteidigern, die schon länger dort sind als du. Und du gibst dein Wissen dann an die Verteidiger weiter, die nach dir ankommen. Das ist also so gut wie alles, was man kann, wenn man dort eintrifft: Mitten in der Nacht aufstehen und mit einer Waffe umgehen.

Für gewöhnlich trifft man nach Einbruch der Dunkelheit ein. Ich weiß nicht, warum, aber so wird das dort eben gehalten. Man hat bereits einen langen Tag hinter sich, wenn man ankommt: Man läuft zu Fuß, nimmt einen Bus, einen Zug, dann einen zweiten Zug und schließlich einen Laster. Der Laster setzt dich dort ab. Lässt dich und deinen Rucksack einfach in der Kälte und Dunkelheit stehen. Und da ist sie dann, die Mauer, direkt vor dir, ein langgestrecktes Ungeheuer aus Beton, das sich bis in weite Ferne zieht. Obwohl die Mauer absolut senkrecht ist, bekommst du, wenn du direkt darunterstehst, das Gefühl, als würde sie überhängen. Als könnte sie auf dich herabfallen. Als lehnte sie sich gegen dich.

Die Luft ist voller Feuchtigkeit, selbst wenn es draußen nicht wirklich nass ist, was jedoch oft der Fall ist. Entweder es regnet, oder die Gischt sprüht vom Meer herauf. Für gewöhnlich ist es nicht besonders windig, wenn man direkt hinter der Mauer steht, aber manchmal eben doch. In der Dunkelheit und Feuchtigkeit sieht die Mauer schwarz aus. Der einzige Pfad oder Wegweiser oder Hinweis, was man tun oder wo man hingehen soll, ist eine Betontreppe – sie lassen dich immer in der Nähe der Treppe raus. Am oberen Ende leuchtet ein kleines, schwaches Licht, das aus dem Wachhaus kommt, aber in diesem Moment weißt du noch nicht, was du da siehst. Stattdessen drehen sich deine Gedanken hauptsächlich darum, dass die Mauer höher ist, als du erwartet hattest. Natürlich hast du sie auch früher schon einmal gesehen, im wirklichen Leben, auf Bildern, vielleicht ja sogar in deinen Träumen. (Das ist eines der Dinge, die du auf der Mauer erfährst: dass es viele Leute gibt, die von ihr träumen, lange bevor sie dorthin geschickt werden.) Aber wenn du am Fuß der Mauer stehst und hochschaust und weißt, dass du zwei Jahre lang dort sein wirst und dass das Beste, was dir in diesen zwei Jahren passieren kann, ist, dass du überlebst und wieder von der Mauer herunterkommst und nie wieder auch nur einen einzigen Tag in deinem Leben irgendwo in ihrer Nähe verbringen musst – dann sieht sie ganz anders aus. Sehr hoch und sehr gerade und sehr dunkel. (Das ist sie auch.) Die vollkommen frei liegenden Betonstufen sehen steil und rutschig aus. (Das sind sie.) Das Ganze wirkt wie ein kalter, harter, unbarmherziger Ort. (Das ist er.) Du fühlst dich gefangen. (Das bist du.) Du sehnst dich danach, dass all dies hinter dir liegt, du sehnst dich danach, woanders zu sein, du würdest alles darum geben, nicht hier sein zu müssen. Vielleicht sprichst du ja, selbst wenn du nicht religiös bist, ein Gebet, sprichst es laut heraus oder ganz leise mit zusammengebissenen Zähnen, das ist ganz gleich, denn es ändert nichts, weil dein Gebet nämlich lautet: Bitte, bitte, bitte, lass mich von dieser Mauer herunterkommen. Und doch bist du dort, auf der Mauer. Du steigst die Treppe hinauf. Du beginnst dein Leben auf der Mauer.

Ich zitterte, als ich die Stufen hinaufkletterte. Ich würde ja gerne glauben, dass das an der Kälte lag, aber das tat es wahrscheinlich nur zur Hälfte, und die andere Hälfte war Angst. Es gab kein Geländer, und die Betonstufen wurden beim Aufstieg mit jedem Schritt feuchter. Ich bin nicht schwindelfrei und noch nie besonders gut mit hochgelegenen Orten zurechtgekommen, selbst mit denen nicht, die gar nicht besonders hoch waren. Mir ging durch den Kopf, dass ich ausrutschen und herabstürzen könnte, und je höher ich stieg, desto mächtiger wurde dieser Gedanke. Ich werde herunterfallen und mir den Schädel zerschmettern und sterben, und meine Zeit auf der Mauer wird vorbei sein, bevor sie überhaupt begonnen hat, dachte ich. Ich werde zur Witzfigur werden. Weißt du noch, dieser Idiot, der…? Aber falls das passiert, werde ich die Mauer wenigstens los sein.

Endlich kam ich oben an dem Wachhaus an. Durch ein Milchglasfenster fiel Licht nach draußen. Ich konnte nicht ins Innere sehen. Ich wusste nicht, wo ich hingehen oder was ich tun sollte, aber es gab keine andere Möglichkeit, also klopfte ich. Es kam keine Antwort. Ich klopfte wieder und hörte ein Geräusch. Das nahm ich als Zeichen dafür, dass ich hereinkommen sollte.

Als ich den Raum betrat, wurde ich von einem warmen Luftschwall eingehüllt. Sofort beschlug meine Brille und ich konnte nichts mehr sehen. Ich hörte, wie jemand lachte und wie jemand anderes eine leise Bemerkung machte. Ich nahm die Brille ab und sah mich blinzelnd um. Der Raum war ein schmuckloser, nüchterner Kasten aus Beton. Sämtliche Wände waren mit Karten bedeckt. In der dem Eingang gegenüberliegenden Ecke saßen zwei Personen. Eine von ihnen war ein imposanter schwarzer Mann mit narbendurchfurchten Wangen, der einen olivgrünen Uniformpullover trug. Das war der Hauptmann, auch wenn ich das in diesem Moment noch nicht wusste. Er war der Einzige auf der ganzen Mauer, den ich jemals eine Uniform habe tragen sehen. Für uns andere war diese Kleidung einfach nicht warm genug. Er sah mich an, ohne zu lächeln. Hinter ihm standen drei Computerbildschirme mit grün flackernden Radaranzeigen.

»Ein Verteidiger, der nichts sehen kann«, sagte er. »Großartig.«

Die andere Person – ein gedrungener weißer Mann mit einer roten Strickmütze – lachte prustend. Das war der Sergeant. Aber auch das wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.

»Ich heiße Kavanagh«, sagte ich schließlich. »Ich bin neu.« Es kommt mir jetzt idiotisch vor, und selbst damals kam es mir idiotisch vor, aber ich hatte keine Ahnung, was ich sonst sagen sollte. Die beiden Männer lachten nicht einmal. Sie starrten mich einfach nur an. Der uniformierte Mann stand auf, kam zu mir herüber und sah mich von oben bis unten an. Er war groß, mindestens einen halben Kopf größer als ich.

»Ich bin der Hauptmann«, sagte er. »Das hier ist der Sergeant. Tun Sie grundsätzlich, was wir Ihnen sagen, ohne nachzufragen, warum. Es dauert etwa vier Monate, bis Sie überhaupt eine Ahnung haben, was Sie hier tun. Ich habe die uneingeschränkte Macht, Ihren Aufenthalt hier zu verlängern, ohne dass Sie dagegen Einspruch erheben können. Ich muss dafür keinen Grund angeben. Und Sie kommen...

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