Der Tod der Wahrheit - Gedanken zur Kultur der Lüge
von: Michiko Kakutani
Klett-Cotta, 2019
ISBN: 9783608115710
Sprache: Deutsch
197 Seiten, Download: 3699 KB
Format: EPUB, auch als Online-Lesen
Einleitung
Im 20. Jahrhundert kamen zwei der ungeheuerlichsten Regimes aller Zeiten an die Macht. Beide lebten von der Verletzung und Plünderung der Wahrheit, von dem Wissen, dass Zynismus, Überdruss und Angst die Menschen anfällig für die falschen Versprechungen von Führungsgestalten machen, die nach bedingungsloser Macht streben. Hannah Arendt schrieb in ihrem 1951 erschienenen Buch The Origins of Totalitarianism (dt.: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft): »Der ideale Untertan der totalitären Herrschaft ist nicht der überzeugte Nazi oder der überzeugte Kommunist, sondern der Mensch, für den die Unterscheidung zwischen Fakt und Fiktion (das heißt die Realität des Erlebens) sowie die Unterscheidung zwischen Wahr und Falsch (das heißt den Maßstäben des Denkens) nicht mehr existieren.«1
Beunruhigend ist für den heutigen Leser, dass Arendts Worte sich immer weniger wie eine Nachricht aus einem vergangenen Jahrhundert anhören und immer mehr wie ein schauriges Spiegelbild der politischen und kulturellen Landschaft, in der wir heute leben – einer Welt, in der Fake News und Lügen nicht nur von russischen Trollfabriken in industriellem Maßstab in die Welt gesetzt werden, sondern auch in endlosem Strom aus dem Mund und den Tweets des Präsidenten der Vereinigten Staaten fließen und sich über die sozialen Medien mit Lichtgeschwindigkeit rund um die Welt verbreiten. Nationalismus, Stammesdenken, Verwirrungstaktik, Angst vor gesellschaftlichen Veränderungen und der Hass auf Außenstehende sind wieder auf dem Vormarsch, und gleichzeitig verlieren die Menschen, eingeschlossen in ihre Parteisilos und Filterblasen, zunehmend das Gespür für eine gemeinsame Realität und die Fähigkeit, über gesellschaftliche und konfessionelle Grenzen hinweg zu kommunizieren.
Damit soll keine direkte Analogie zwischen den heutigen Verhältnissen und den unermesslichen Schrecken aus der Ära des Zweiten Weltkriegs gezogen werden, aber ich möchte einige Bedingungen und Einstellungen betrachten – Margaret Atwood sprach von »Warnlampen« in George Orwells 1984 und Animal Farm (dt. Farm der Tiere)2 –, die Menschen anfällig für Demagogie und politische Manipulation und Staaten zur leichten Beute für spätere Autokraten machen. Ich werde untersuchen, wie die Missachtung von Tatsachen, die Verdrängung der Vernunft durch das Gefühl und die Aushöhlung der Sprache den Wert der Wahrheit als solcher vermindern, und was das für Amerika und die ganze Welt bedeutet.
Arendt schrieb 1971 in ihrem Essay Die Lüge in der Politik: »Der Historiker weiß, wie verletzlich das ganze Gewebe faktischer Realitäten ist, darin wir unser tägliches Leben verbringen. Es ist immer in Gefahr, von einzelnen Lügen durchlöchert oder durch das organisierte Lügen von Gruppen, Nationen oder Klassen in Fetzen gerissen oder verzerrt zu werden, oftmals sorgfältig verdeckt durch Berge von Unwahrheiten, dann wieder einfach der Vergessenheit anheimgegeben. Tatsachen bedürfen glaubwürdiger Zeugen, um festgestellt und festgehalten zu werden, um einen sicheren Wohnort im Bereich der menschlichen Angelegenheiten zu finden.«3
Der Begriff truth decay (»Zerfall der Wahrheit«), mit dem die Rand Corporation die »schwindende Bedeutung von Tatsachen und Analysen« für das öffentliche Leben in Amerika beschreibt, hat gerade Eingang in den postfaktischen Wortschatz gefunden, zu dem auch die mittlerweile bekannten Ausdrücke »Fake News« und »alternative Fakten« gehören.4 Und es geht auch nicht nur um Fake News: Ebenso gibt es Fake-Wissenschaft (konstruiert von Klimawandelleugnern und Impfgegnern), Fake-Geschichte (vorangebracht von Holocaust-Revisionisten und jenen, die die Überlegenheit von Weißen propagieren), Fake-Amerikaner auf Facebook (erschaffen von russischen Trollen) sowie Fake-Follower und Fake-Likes in sozialen Medien (erzeugt von Bots).
Trump, der 45. Präsident der Vereinigten Staaten, lügt in so großem Umfang und in so hohem Tempo, dass er einer Berechnung der Washington Post zufolge im ersten Jahr seiner Amtszeit 2140 falsche oder irreführende Behauptungen aufgestellt hat5 – das sind im Durchschnitt fast 5,9 pro Tag. Seine Lügen – die so ungefähr alles betreffen, von den Ermittlungen zur russischen Einmischung in die Wahl über seine Beliebtheit und seine Leistungen bis hin zu seinem Fernsehkonsum – sind nur die hellsten unter den vielen Alarmlampen, die vor seinem Angriff auf demokratische Institutionen und Normen warnten. Er greift regelmäßig die Presse, die Justiz, die Geheimdienste, das Wahlsystem und die Beamten an, durch die unser Staat funktioniert.
Der Angriff auf die Wahrheit beschränkt sich auch nicht auf die Vereinigten Staaten. Rund um die Welt appellieren Populismus und Fundamentalismus immer stärker an Furcht und Wut als Ersatz für vernünftige Diskussionen, untergraben demokratische Institutionen und ersetzen Fachkenntnisse durch die Weisheit der Masse. Falsche Behauptungen über die finanziellen Beziehungen Großbritanniens zur EU (die auf einem Kampagnenbus der Brexit-Befürworter verkündet wurden) trugen dazu bei, dass die Abstimmung zugunsten des Brexit ausging6, und Russland verstärkte seine Kampagne der Dezinformatsiya im Vorfeld der Wahlen in Frankreich, Deutschland, den Niederlanden und anderen Ländern, um mit konzertierten Propagandamaßnahmen die Demokratien in Misskredit zu bringen und zu destabilisieren.
Papst Franziskus erinnert uns: »Keine Desinformation ist harmlos; im Gegenteil: Dem zu vertrauen, was falsch ist, hat unheilvolle Folgen.«7 Der frühere US-Präsident Barack Obama erklärte: »Es ist eine der größten Herausforderungen für unsere Demokratie, dass wir keine gemeinsame Faktengrundlage teilen – und das in erheblichem Ausmaß.«8 Die Menschen seien heute »in ganz unterschiedlichen Informationsuniversen unterwegs«. Und der republikanische Senator Jeff Flake warnte in einer Rede: »2017 war ein Jahr, in dem die Wahrheit – die objektive, empirische, evidenzbasierte Wahrheit – stärker unter Beschuss stand und misshandelt wurde als je zuvor in der Geschichte unseres Landes, und das von der Hand der einflussreichsten Person in unserer Regierung.«9
Wie konnte es dazu kommen? Wo liegen die Wurzeln der Unwahrheit in der Trump-Ära? Wie wurden Wahrheit und Vernunft zu derart bedrohten Arten, und was lässt ihr drohender Zerfall für den öffentlichen Diskurs und die Zukunft unserer Politik und Regierungsführung erwarten? Das sind die Themen des vorliegenden Buches.
In Trump – einem Kandidaten, der seine politische Karriere mit der Ursünde begann, Obamas Geburtsort anzuzweifeln – kann man ohne Weiteres einen schwarzen Schwan erkennen, der sein Amt einem idealen Zusammentreffen mehrerer Faktoren verdankt: einer frustrierten Wählerschaft, die noch unter den Nachwirkungen des Finanzcrashs von 2008 ächzte; russischer Einmischung in die Wahl und einer Fülle gefälschter Pro-Trump-Nachrichten in den sozialen Medien; einer stark polarisierenden Gegnerin, die zum Symbol für die von Populisten verabscheute Washingtoner Elite geworden war; und Wahlkampfmitteln in Höhe von geschätzt fünf Milliarden Dollar von Medienunternehmen, die versessen auf die von dem früheren Reality-TV-Star erzeugten Quoten und Klicks waren.10
Hätte ein Romanautor sich einen Bösewicht wie Trump ausgedacht – ein überlebensgroßes, übertriebenes Musterbeispiel für Narzissmus, Verlogenheit, Ignoranz, Vorurteile, Rüpelhaftigkeit, Demagogie und tyrannische Impulse (ganz zu schweigen davon, dass er täglich bis zu einem Dutzend Cola light konsumiert)11 –, man hätte ihr oder ihm wahrscheinlich eine überbordende Fantasie und mangelnde Plausibilität vorgeworfen. Tatsächlich wirkt der Präsident der Vereinigten Staaten oftmals nicht wie eine überzeugende Persönlichkeit, sondern wie der von einem verrückten Karikaturisten erfundene Mischmasch aus König Ubu, der ausfallenden Bauchrednerpuppe Triumph the Insult Comic Dog und einer von Molière aussortierten Gestalt.
Aber die eher clownesken Persönlichkeitsaspekte von Trump sollten uns nicht darüber hinwegtäuschen, welche ungeheuer ernsten Folgen sein Angriff auf die Wahrheit und die Herrschaft der Gesetze nach sich zieht und welche Schwachstellen er sowohl in unseren Institutionen als auch in unserer digitalen Kommunikation offengelegt hat. Dass ein Kandidat, der bereits während seines Wahlkampfs wegen seiner früheren Lügen und betrügerischen Geschäftspraktiken bloßgestellt wurde, in der...