Erstaugust - Erzählungen

Erstaugust - Erzählungen

von: Lisa Elsässer

Rotpunktverlag, 2019

ISBN: 9783858698384

Sprache: Deutsch

180 Seiten, Download: 350 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Erstaugust - Erzählungen



Erstaugust


Das Huhn, das als erstes ins heiße Wasser getaucht worden war, lag nun auf meinem Schoß. Es hatte noch immer den Kopf, und es hatte noch alle Federn. Es war tot, sah aber aus wie lebendig. Wie es getötet worden war, das wusste ich nicht. Die Bäuerin hatte mich einfach nur gefragt, ob ich das Huhn rupfen will, und ich sagte Ja, obwohl ich doch überhaupt keine Ahnung hatte, wie man ein Huhn rupft. Sie nahm es noch einmal hoch, zog an einer Feder, legte mir das Huhn wieder auf meine weich gewordenen Knie, und dann rupfte ich ihm alle Federn aus, bis es ganz nackt war und ich plötzlich begriff, was eigentlich mit Hühnerhaut gemeint war.

Wo hatte es mich da hinverschlagen, fragte ich mich mit kindlichem Erbostsein. Es war doch erst der zweite Tag in der neuen Familie, und schon hatte ich mir angewöhnt, einfach zu allem, was mir vorgeschlagen wurde, Ja zu sagen. Ich stellte mir vermutlich vor, dass mir durch das Jasagen mehrere Tage erlassen wurden, ich damit erbetteln konnte, schneller wieder zu Hause zu sein. Ungefähr so! Ich war noch ganz benommen von der Tatsache, an einem völlig fremden Ort und unter fremden Menschen den Sommer verbringen zu müssen. Ich hatte den Geruch von Mutters Kleid, in das ich beim Abschied am Bahnhof meine Nase bohrte, noch nicht entsorgt, wollte ihn mir nicht vertreiben lassen durch dieses tote Huhn!

Hedwig war das jüngste Kind der mir noch fremden Familie, und sie saß neben mir und sah mir beim Rupfen zu. Sie bürstete das Haar einer Puppe, die sie auf ihrem Schoß hielt. Am liebsten hätte ich ihr den Hals umgedreht. Sie saß da und gackerte oder kicherte wie ein Huhn, und ich war das Ferienkind, das mitten am Tag bei schönstem Wetter eine Hühnerhaut hatte. Sie war das verwöhnte Küken der Gastfamilie und ich der höchst unfreiwillig gestrandete Familiengast. Hedwig war zwei Jahre jünger als ich, das hieß, sie war sechs.

Nachts träumte ich von einem Igel, der einen Hals wie ein Huhn hatte. Der Igel lag auf meinem Schoß. Ich wachte erschrocken auf, schlief aber sogleich wieder ein, als ich das fremde Zimmer wahrnahm, die Fenster an einer mir unvertrauten Wand, und ich sah, dass nicht meine Schwester, sondern Hedwig im Bett lag, das an der gleichen Wand wie meines stand. Ich hätte mit meinen Füßen ihre Füße jederzeit berühren können, aber das taten sie nie, die ganzen sechs oder acht Wochen nicht, die ich so Fuß an Fuß mit Hedwig schlief. Auch die zufälligen oder gezielten Berührungen von Hedwigs Seite wies ich heftig zurück. Das drückte ich wortlos und mit großer Ablehnung gegen die kleinen, warmen Füße von Hedwig aus. Zu groß war mein Widerstand, mich auf diese Nähe einzulassen, die mir womöglich einen weiteren Sommer bei ihr beschert hätte. Ich mochte Hedwig, sie sah meiner kleinen Schwester zum Verwechseln ähnlich. Das gleiche krause Haar und der gleiche zarte Körper. Hedwig hatte die Angewohnheit, weinend zu ihrer Mutter zu rennen, wenn die Spiele zwischen uns nicht friedlich verliefen. Hedwig hatte mir ihre Puppe für ein paar Minuten ausgeliehen, und ich konnte ihr nichts anderes überlassen als mein vages Versprechen, ihr die Puppe zurückzugeben, sobald sie selber wieder damit spielen wollte. Ich hielt mich nicht an das Versprechen! Ich hatte der Puppe zu trinken gegeben und wollte darauf warten, ihr auch die Windeln zu wechseln. Ich rannte mit der Puppe auf dem Arm um Hedwig herum, bis ihre ausgestreckten Arme erschlafften und sie ins Haus lief. Sie versteckte sich unter der großen Schürze ihrer Mutter, während ich ihre Puppe unter meinen Pullover schob, ihr die gleichen Tröstungen, die gleichen Streicheleinheiten zukommen ließ, wie Hedwig sie von ihrer Mutter bekam. Langsam bewegte sich die Mutter mit Hedwig unter der Schürze in meine Richtung, zog mich mit ihrer freien Hand an sich, und ich spürte ihre warme Hand an meinem Gesicht, schluckte das beginnende Weinen hinunter, das erst unter ihrer Hand das Licht der Welt erblickte und gleich wieder erstarb, so groß war die Angst vor einem Schrei.

Diesmal hatte die Fahrt im Zug wesentlich länger gedauert als die ersten Fahrten, die mir als Kind jeweils den Sommer eröffneten wie ein höchst seltenes Abenteuer, dessen Reiz mir bei der Ankunft am fremden Ort meistens schon verleidet war, weil ich da nichts Neues oder wesentlich anderes als zu Hause erlebte, und heute kommt es mir vor, als wäre ich damals allein im Zug gefahren. Ich erinnere mich nicht an den Menschen, der mich begleitet hat, an kein Gesicht, das mir nicht gefallen hat, keinen übel riechenden Körper, an dem ich Schweißflecken unter den Armen hätte ausmachen können, und an einen Koffer erinnere ich mich auch nicht. Ich erinnere mich auch nicht, dass ich zu Hause aufbegehrt hätte und zum Beispiel sagte: Was? Schon wieder, wohin, wie lange und warum? Und so ging es irgendwohin, und lange, sehr lange hörte ich nichts mehr von dort, wo ich eigentlich hingehörte. Ich muss mit Watte oder Stahlwolle eingepackt gewesen sein. Anders kann ich mir das Fehlen all dieser Erinnerungen nicht erklären.

Nur Mutters Kleid beim Abschied. Das ohrenbetäubende Geräusch der Eisenbahn und dieser seltsame Geruch, den ich aber erst viel später dem Bremsen des schweren Eisenbahnmaterials zuordnen konnte. Und ein mir von jemandem in die Hand gedrücktes rotes Stofffähnchen mit dem weißen Kreuz in der Mitte, das bei der Fahrt flatterte, der kalte Zugwind am offenen Bahnfenster, der das Haar und jedes Fühlen durcheinanderwirbelte.

Das Haus, in dem ich diese Wochen verbrachte, das könnte ich heute noch genau aufzeichnen. Ich könnte die Menschen, mit denen ich dann die Sommerwochen verbrachte, das Wohnzimmer, die Schlafkammer zeichnen, und ganz besonders gut könnte ich Hedwig zeichnen, wenn ich zeichnen könnte. Alles noch da, auch das Huhn, mit und ohne Federn, der Suppentopf, die Fettaugen auf der Brühe, in der das Huhn nach dem Rupfen schwamm, der Teller, auf dem beim Nachtessen ein Hühnerbein lag, meine verschiedenen Gesichter beim Betrachten und wie wenig ich doch anzufangen wusste mit einem von eigener Hand gerupften Stück Grauen. Ich aß den auf dem Teller liegenden Reis, schob das Huhn an den Rand, bis ich mit dem Reis fertig war, schob das Stück Huhn, das immer noch zu frieren schien, wieder in die Mitte des Tellers und kotzte den Reis auf das Huhn, bis von ihm nichts mehr zu sehen war, nicht die garstige, ekelhaft frierende Haut, nicht die blauen Äderchen. Die Bäuerin legte ihre große Hand an meine Stirn und sprach von einem wahrscheinlichen Heimwehfieber. Ich musste im Bett lange über dieses Wort nachdenken. Ich wusste zwar, was Fieber war, was Heimweh, aber von einer Krankheit, die Heimwehfieber hieß, hatte ich noch nie gehört. Und warum die Bäuerin glaubte, sie könne diese Krankheit von meiner Stirn ablesen, war mir ein Rätsel.

Später im Zimmer sagte Hedwig, ich sei denn schon eine ganz Heikle, eine Schnäderfräßige sagte sie, und bevor ich ihr das mit Rotz durchtränkte und zerknüllte Taschentuch an den Kopf werfen konnte, hörte ich bereits ihr leises Schnarchen.

Ich blieb in dieser arbeitsamen Bauernfamilie das einsame Arbeiterkind. Es gab Momente, da sehnte ich mich nach dem mir verhassten Holunderbaum, der zu Hause im Garten stand und der die Eigenart hatte, einem die Sommertage mit den reifen Beeren, die es zu zupfen galt, so sehr zu vergällen, dass man sich irgendwohin wünschte. Egal wohin. Dass dieses Irgendwohin mir erfüllt wurde, als der Baum erst am Blühen war, fand ich dann schon ziemlich gemein. Ich sehnte mich am fremden Ort nach meiner kleinen Schwester, deren Haare ich liebend gerne bürstete, weswegen wir uns immer in die Haare gerieten, weil sie es leid war, mir ihren Kopf für meine höchst ausgefallenen Frisurenideen hinzuhalten. Einmal hatte ich ihr auch die Haare abgeschnitten, und Mutter holte den Teppichklopfer. Hedwig hatte auch sehr schönes Haar, aber ich vermutete dort Ungeziefer oder die Speichelreste ihrer Mutter, die Hedwig gern aufs Haar küsste. Ich sehnte mich nach dem anderen, dem viel, viel schöneren Dialekt zu Hause, der kein so ekelhaft klirrendes und rollendes rrr kannte wie hier, das mich in den Ohren schmerzte wie das Surren einer Mücke in der Nacht. Aber alles Sehnen hockte stundenlang mit mir auf einer alten Steintreppe, die entweder ins Haus oder aus dem Haus führte, auf der ich mir die kindlichen Fragen stellte, zum Beispiel, ob der liebe Gott meiner Mutter nicht das von den Holunderbeeren ins Ohr flüstern könnte, meiner kleinen Schwester etwas von der schönen Frisur und ob er ihnen das wohl ohne diese giftigen rrr überbringen würde, weil sie es ansonsten gar nicht verstehen könnten. Ich stellte mir dieses Flüstern so innig vor wie ein Gebet, dem doch meine Mutter niemals widerstehen konnte. Sie würde, so stellte ich mir vor, ihre Hände falten und dann sofort eine Tasche packen, in den Zug steigen und in den anderen Dialekt hineinfahren, um mich vor jeder Nachahmung dieser furchtbaren Sprache zu bewahren.

Träumst du?, fragte plötzlich die hinter mir stehende Bauersfrau, und ich sagte: Gleich wird meine Mutter kommen und mich abholen! Mit einer unsanften Geste strich sie mir übers Haar, ich wusste...

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