Vergessene Kulturen der Weltgeschichte - 25 verlorene Pfade der Menschheit

Vergessene Kulturen der Weltgeschichte - 25 verlorene Pfade der Menschheit

von: Harald Haarmann

Verlag C.H.Beck, 2019

ISBN: 9783406734113

Sprache: Deutsch

223 Seiten, Download: 13482 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Vergessene Kulturen der Weltgeschichte - 25 verlorene Pfade der Menschheit



1. Das Geheimnis der Schöninger Speere


Die Jägerkultur des Homo heidelbergensis


Vor 320.000 Jahren


Wir schreiben das Jahr 1994: Im östlichen Teil Niedersachsens, in der Region von Schöningen in der Nähe von Helmstedt, wo Braunkohle im Tagebau gewonnen wird, wird der Erdboden vom Schaufelradbagger viele Meter tief ausgehoben. Archäologen begleiten den Arbeitsprozess und erkunden das Terrain, bevor der Bagger die Bodenschichten aufreißt. In einer Tiefe von zehn Metern finden sie im Oktober einen gut erhaltenen Holzstab. Offensichtlich ist er von Menschenhand bearbeitet und geglättet worden, die Astansätze sind sorgfältig abgetrennt. Seit Anfang der 1990er-Jahre waren Archäologen und Paläobotaniker verstärkt auf der Suche nach Spuren für Jagdtätigkeit des Frühmenschen im einst wildreichen Flusstal der Mißaue.

Die Grabungen wurden intensiv fortgesetzt, und es kamen immer mehr Artefakte ans Licht: Steinwerkzeuge (kleine Faustkeile, Schaber, Spitzen), aber auch weitere Geräte aus Holz. Die Sedimentschicht, in der die Gerätschaften gefunden wurden, barg auch Reste von Pflanzen (Pollen, Samen) und Tierknochen (Wildpferd, Auerochse, Waldnashorn, Hirsch, Wolf). Die Holzgeräte waren nur deshalb erhalten, weil sie am Rande eines prähistorischen Sees (am Fuße des Elm) gelegen hatten, dessen Wasser die Artefakte mit Schlamm überspült hatte, und diese Sedimentschicht war anschließend luftdicht verschlossen geblieben, so dass kein Faulprozess einsetzen konnte, der das Holz zerstört hätte.

Allmählich zeichnete sich für die Archäologen ein sensationelles Szenario ab. Sie waren bei ihrer Grabung auf ein Jägerlager gestoßen. Unter den Artefakten waren acht gut erhaltene Speere – die ältesten Jagdwaffen der Welt. Die Datierung der Holzgeräte und die Pollenanalyse brachten dann eine weitere Sensation: Das Jägerlager datiert in eine interglaziale Periode, in die Reinsdorf-Warmzeit, ein Klimagroßzyklus zwischen der Elstereiszeit (Ende: ca. 350.000 Jahre vor der Jetztzeit) und der Saale-Riß-Kaltzeit (Beginn: ca. 300.000 Jahre vor der Jetztzeit), also lange vor der letzten Eiszeit (Weichsel-Würm-Kaltzeit), die vor etwa 115.000 Jahren begann und vor rund 11.500 Jahren endete.

Es war somit schnell klar, dass dieses Lager in so großer Tiefe nicht vom anatomisch modernen Menschen, dem Homo sapiens stammen konnte. Von der Frühzeit unserer Hominidenspezies wissen wir relativ viel: deren Vertreter gelangten vor rund 42.000 Jahren nach Europa. Ihre Vorfahren kamen aus Afrika, wo ihre Migration vor rund 150.000 Jahren begonnen hatte. Die Route führte durch die Landschaften des Nahen Ostens und durch Anatolien in westlicher Richtung. Der Weg nach Westen war damals noch nicht vom Meer unterbrochen, denn Europa war noch über eine schmale Landbrücke am Bosporus mit Kleinasien verbunden. Die Periode der Landnahme war die letzte Eiszeit. Südosteuropa war eisfrei, und so konnten die Migranten die Waldzone der Balkanregion erkunden und weiter nach Mitteleuropa vordringen, bis zur arktischen Tundra, der Kältesteppe, die sich am Rande des ewigen Eises erstreckte.

Die Jäger machten sich auf ihren Streifzügen schnell mit der vielfältigen einheimischen Fauna Europas vertraut. Da waren der mit dem asiatischen Elefanten verwandte europäische Waldelefant und sein nächster Verwandter, das robuste Mammut, der Steppenelefant. Mammuts ernährten sich von den Gräsern, Flechten und dem Moos der Tundra, die einer verschneiten Savanne ähnelte, mit großflächigem und reichlichem Futterangebot. Die Gräser und Flechten wuchsen während des kurzen arktischen Sommers, wenn die Temperaturen für einige Zeit im Plusbereich lagen und die obere Erdschicht aufgetaut war. Über die Tundra bewegten sich auch Rentiere in großen Herden.

Der Steppengürtel und die gemäßigte Zone, die sich südlich der Tundra ausdehnten, waren von Wildpferden, Höhlenbären, Höhlenhyänen und Höhlenlöwen, Braunbären, Wollnashörnern, Steppenbisons, Auerochsen, Steinböcken und Riesenhirschen bevölkert (Ziegler 2009). Die beliebtesten Jagdtiere forderten das besondere Geschick der Jäger heraus und machten auch das Zusammenwirken im Team erforderlich.

So lernten die Menschen der Eiszeit auch, das Mammut erfolgreich zu jagen, denn ein einziges erlegtes Tier bot eine große Menge an Fleisch, Fell und Knochen, die zum Bau von Behausungen verwendet werden konnten. Die Stoßzähne waren von besonderem Interesse, sie wurden nicht selten mit Ornamenten verziert, oder die Eiszeitjäger schnitzten aus dem Elfenbein Statuetten. Die älteste vom Frühmenschen geschnitzte Figurine ist die Miniaturgestalt einer Frau, die von Archäologen die «schwäbische Eva» genannt wird. Sie wurde mit anderen eiszeitlichen Artefakten im Jahre 2008 an einem Ort auf der Schwäbischen Alb, im Hohlen Fels (Baden-Württemberg), ausgegraben. Es stellte sich heraus, dass diese Funde zwischen 35.000 und 40.000 Jahren alt sind (Conard 2009: 268).

Die damaligen Menschen waren aber nicht die ersten Eiszeitjäger. Denn lange vor ihnen waren schon Vertreter anderer Hominiden-Spezies in Mittel- und Westeuropa auf die Jagd gegangen. In Europa hatten vor der Ankunft des modernen Menschen drei Spezies des Frühmenschen gelebt: der ältere Homo erectus, der Homo heidelbergensis und der späte Neandertaler. Der moderne Mensch ist in Europa nur noch mit dem Neandertaler zusammengetroffen, sie haben teilweise in enger Nachbarschaft und an etlichen Orten, etwa in Südfrankreich und Nordspanien, auch in Kohabitaten gelebt (Otte 2014). Die Annahme sozialer Beziehungen zwischen beiden Spezies findet auch Rückhalt in humangenetischen Erkenntnissen. Neuerdings ist nachgewiesen, dass bis zu 3 Prozent unseres Genbestands vom Neandertaler ererbt sind (Sankararaman et al. 2014).

Die beiden anderen Spezies waren damals bereits ausgestorben. Während der Neandertaler ein zeitlicher und damit entwicklungsmäßiger Vorläufer des anatomisch modernen Menschen ist, rangiert der Heidelberger Mensch entwicklungsmäßig vor diesen beiden Spezies (Grimaud-Hervé et al. 2015: 84ff.). Die Periode, während derer der Homo heidelbergensis in Europa und Afrika verbreitet war, beginnt um 800.000 vor der Jetztzeit und endet vor etwa 100.000 Jahren.

Bis vor wenigen Jahren war der Heidelberger Mensch allein durch Knochenfunde bekannt. Der erste dieser Spezies zugeordnete Knochenrest war ein Kieferknochen, der 1907 nahe der Stadt Mauer (südöstlich von Heidelberg, daher der Name der Spezies) entdeckt wurde. Mit Hilfe weiterer Knochenfunde aus den folgenden Jahren wurde allmählich die Rekonstruktion des Körperbaus möglich. Der Schädel des Heidelberger Menschen zeigt eine Verdickung der Knochen über den Augenbrauen, die Stirn war flach und nach hinten gezogen. Überhaupt war der Schädel länger als der des modernen Menschen mit seiner hohen Stirn. Das Gehirn des Homo heidelbergensis wird auf ein um etwa 10 Prozent kleineres Volumen geschätzt als das des modernen Menschen. Das deutet auf eine entwicklungsmäßige Vorstufe. Was der Heidelberger Mensch mit seinem Gehirn zu leisten im Stande war, darüber konnte man lange Zeit nur spekulieren. Aber die sensationellen Funde vom Rande der norddeutschen Tiefebene brachten in den 1990er-Jahren den Durchbruch für Erkenntnisse über Tätigkeiten und Verhaltensweisen dieser Hominiden-Spezies.

Und damit sind wir wieder im Raum Schöningen und bei den außergewöhnlichen Speeren. An diesem Fundort gab es nur Knochen von Tieren, im nahe gelegenen Bilzingsleben kamen aber auch menschliche Schädelreste ans Licht, ein Unterkiefer sowie einige Zähne. Beide Fundorte datieren in dieselbe Warmzeit, und auch die Artefakte sind sehr ähnlich. Anhand der Schädelreste ließen sich einige Hauptmerkmale rekonstruieren: lang gestreckte Schädelform, stark betonter Überaugenwulst, abgewinkeltes Hinterhaupt.

Durch weitere Untersuchungen ist inzwischen geklärt, dass die Jäger vom Schöninger See tatsächlich Vertreter des Homo heidelbergensis waren. 2015 konnte mit einer Thermolumineszenz-Analyse auch das Alter der Speere präziser eingegrenzt werden: auf 337.000 bis 300.000 Jahre. Das ist die Spätzeit des Heidelberger Menschen.

Die Speere sind verschieden lang, einige 1,80 Meter, andere 2,50 Meter. Einer ist aus Kiefernholz, die übrigen wurden aus geraden, jungen Fichtenstämmen...

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