Die Liebe im Ernstfall

Die Liebe im Ernstfall

von: Daniela Krien

Diogenes, 2019

ISBN: 9783257609493

Sprache: Deutsch

288 Seiten, Download: 901 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Die Liebe im Ernstfall



{5}Paula


Der Tag, an dem Paula feststellt, glücklich zu sein, ist ein Sonntag im März.

Es regnet. Bereits in der Nacht hatte es angefangen und seither nicht mehr aufgehört. Als Paula gegen halb neun erwacht, prasselt es auf das schräge Schlafzimmerfenster. Sie dreht sich zur Seite und zieht die Decke bis ans Kinn. In der Nacht ist sie nicht ein einziges Mal aufgewacht. Auch an Träume kann sie sich nicht erinnern.

Ihr Mund ist trocken, und ein leichter Druck im Kopf erinnert sie an den vorangegangenen Abend. Wenzel hatte gekocht und einen französischen Rotwein dazu aufgemacht. Später hatten sie nebeneinander auf dem Sofa gesessen und Musik gehört – Mahlers Lied von der Erde, Beethovens letzte Klaviersonate, Lieder von Schubert, Brahms und Mendelssohn. Auf Youtube hatten sie nach diversen Interpreten gesucht, die sie miteinander verglichen, und sie freuten sich wie Kinder, wenn sie einer Meinung waren.

Paula hätte bei ihm bleiben können, die Nacht mit ihm verbringen können, aber sie behauptete, ihr Medikament zu Hause vergessen zu haben. Das Hydrocortison befand sich in ihrer Handtasche. Was fehlte, waren Zahnbürste und Gesichtsreinigung. Wenzel hätte diese Dinge unwichtig gefunden und sie zum Bleiben überredet.

{6}Gegen zwei Uhr nachts war sie in ein Taxi gestiegen. Wenzel hatte vor dem Haus gestanden, bis das Auto um die Ecke bog.

 

Sie greift nach der Wasserflasche neben dem Bett und trinkt, dann schaltet sie das Telefon ein und liest seine Nachricht. Guten Morgen, Liebste. Mein erster Gedanke gilt wie immer Dir. Jeden Morgen und jeden Abend ein Gruß. Seit zehn Monaten schon, ohne Ausnahme.

Auch Leni mag Wenzel, und Wenzel mag Leni.

Bei ihrer ersten Begegnung hatte er sie mit einer sekundenschnellen Zeichnung ihres Gesichts beeindruckt. Die Ähnlichkeit war frappierend, und Leni wollte mehr, um in der Schule damit angeben zu können.

 

Paula sieht auf die Uhr. Noch neun Stunden, bis Leni zurückkommt. Sie wird ihre Sachen abwerfen, ein Hallo murmeln und sich in ihr Zimmer zurückziehen oder aber einen ohne Punkt und Komma vorgetragenen Wochenendbericht abliefern, inklusive Fotos ihrer Halbgeschwister und Schwärmereien über Filippas Kochkünste.

Während Paula seinen Morgengruß beantwortet, sehnt sie sich nach Wenzel.

Früh ist ihre Lust auf ihn am größten. Als sie in der Küche den Kaffee aufsetzt, schreibt sie ihm eine eindeutige Nachricht.

Seit es Wenzel gibt, vermisst sie Leni an den Wochenenden weniger. Und was kann sie schon tun? Leni ist kein kleines Kind mehr. Morgens vor dem Spiegel übt sie auf unterschiedliche Weise zu lächeln, sie schneidet Löcher in {7}Hosen, trägt Shirts, die ihr scheinbar beiläufig von der Schulter rutschen, benutzt Lipgloss und verschickt rätselhafte Nachrichten an den Klassenchat der 7b, meist bestehend aus Emojis und Abkürzungen. Sie redet manchmal ohne Unterlass, nur um kurz darauf in aggressives Schweigen zu verfallen. Mit nächtlichen Alpträumen kommt sie allein zurecht, und nackt hat Paula ihre Tochter schon lange nicht mehr gesehen. Nicht einmal, als Leni eines Morgens fragte, ob man mit dreizehn schon Hängebusen haben könne. Sie habe sich ihre Brüste angeschaut und festgestellt, dass sie so eine Form hätten. Und dann zeichnete sie mit der rechten Hand eine lächerlich übertriebene Form in die Luft, den linken Arm hielt sie vor ihren Oberkörper gepresst. Und noch bevor Paula etwas erwidern konnte, beschuldigte Leni sie, ihr überhaupt nur das Schlechteste vererbt zu haben, die Sommersprossen und die helle Haut, die roten Haare, die knochigen Knie, die Kurzsichtigkeit und die Begriffsstutzigkeit in den Fächern Physik und Chemie.

Vererbung sei Zufall und keine Entscheidung, hatte Paula bemerkt und wollte ihrer Tochter übers Haar streichen. Doch Leni entzog sich ihr, lief hinaus und schlug die Tür zu. Kurz darauf kam sie wieder und warf sich in Paulas Arme, wie um sich aufzufüllen für die nächste Stufe der Distanz.

 

Es regnet nach wie vor. Paula presst Orangen und schäumt Milch für den Kaffee auf. Auf dem Tisch steht ein Strauß Tulpen.

Noch ein Jahr zuvor hätte die Länge des vor ihr liegenden Tages Panik ausgelöst. Sie hätte angefangen zu putzen oder {8}zu waschen, wäre joggen gegangen oder ins Kino, hätte Judith angerufen, um mit ihr hinauszufahren zu ihrem Pferd. Es war egal gewesen, was sie tat, entscheidend war gewesen, dass sie etwas tat. Denn sonst wären die Dämonen gekommen und hätten sie vor sich hergetrieben.

***

Nach der Trennung von Ludger hatte sie sich oft gefragt, wann das Ende seinen Anfang genommen hatte. Wann waren die Dinge außer Kontrolle geraten?

Johannas Tod war ein entscheidender Bruch gewesen. Doch mit der Zeit datierte sie ihr Scheitern auf andere, frühere Ereignisse, weiter, immer weiter zurück, bis es kein Weiter zurück mehr gab.

Begonnen hatte alles mit einem Fest.

Paula und Judith waren zufällig vorbeigekommen, als der Bioladen in der Südvorstadt eröffnete. Sie waren am See gewesen, hatten nackt in der Sonne gelegen, sich gegenseitig eingecremt, Eis gegessen und Blicke auf sich gezogen. Zufrieden mit sich und ihrer Wirkung waren sie anschließend am Wildpark vorbei durch den Auwald zurück in die Stadt geradelt, wo noch immer eine klebrige Hitze hing.

Schon von weitem hatten sie die Luftballons gesehen, die Pflanzkübel voller Blumen und die vielen Leute vor dem Geschäft. Sie hatten Lust auf ein kühles Getränk und deshalb angehalten.

Ludger stand nicht weit von der Tür entfernt, als sie den Laden betraten. Paula sah ihn sofort. Später sagte er, dass auch er sie aus den Augenwinkeln wahrgenommen hatte {9}und seine Blicke ihr gefolgt waren. Paula trug ein moosgrünes, trägerloses Kleid und einen Sonnenhut, unter dem die roten Locken hervorquollen.

Draußen brannte die Sonne, der Geruch nach Abgasen und Lindenblüten stand in den Straßen, und jeder Windhauch wehte das stickig-süße Gemisch in den Laden herein. Ludger trug ein Leinenhemd. Seine Haare waren blond, die Augen blau. Er war kein Eroberer.

Kurz darauf verließen sie das Fest. Sie schoben ihre Räder nebeneinanderher und plauderten.

Immer wieder sah Ludger zu ihr herüber, aber er hielt ihrem Blick nicht stand. Wenn er länger sprach, blieb er stehen.

Wie Paula suchte er die schattigen Wege.

Am Ufer des Flusses streif‌te er beiläufig ihren Arm.

Auf einer Parkbank im Abendlicht küsste sie ihn.

*

In den ersten Wochen sahen sie sich täglich.

Die Treffen begannen an einer Eiche im Clara-Park. Paula, die immer zu früh kam, sah ihn mit seinem Rennrad in den Weg einbiegen und winkte ihm schon von weitem. Jedes Wiedersehen begann mit einer leichten Verlegenheit, die nach dem ersten Kuss jedoch verschwand.

Von dem Baum aus unternahmen sie Spaziergänge durch die Parks und die angrenzenden Stadtviertel. Paula mochte die Art, wie er den Kopf schief‌legte und strahlte, wenn er sie ansah. Seine tiefe Stimme und sein ruhiges Erzählen gefielen ihr. Sein Bewegungsdrang steckte sie an, sein Wissen {10}über ökologisches Bauen, autarkes Leben und Fauna und Flora beeindruckte sie.

 

Häufig kam Ludger sie in der Buchhandlung besuchen.

Manchmal sah sie zuerst seinen Kopf auf‌tauchen, wenn er auf der Rolltreppe in die Abteilung Belletristik hochfuhr. Manchmal überraschte er sie, während sie mit Sortieren beschäftigt war oder Bestellungen aufgab. Dann berührte er dezent ihre Hand oder ihren Arm, und sie drehte sich zu ihm um und empfand eine heimliche Freude darüber, dass die Kolleginnen wohl bemerkten, wie gutaussehend er war.

Die gemeinsamen Nächte verbrachten sie bei ihm. Nur einmal übernachtete er in ihrer Wohnung, die sie damals mit Judith teilte. Bei Pizza und Rotwein waren sie zu dritt zusammengesessen. Von jedem Gesprächsgegenstand schlug Ludger den Bogen zu seinem Fachgebiet – dem ökologischen Fußabdruck, den ein Mensch hinterließ, und wie man ihn so klein wie möglich hielt. Immer wieder unterbrach er Judith, um ein Thema zu vertiefen, eine ungenaue Aussage zu korrigieren.

Paula hatte den wippenden Fuß und den angespannten Zug um den Mund ihrer Freundin gesehen und Bescheid gewusst.

Am Tag danach kam Judith in ihr Zimmer. Mit einem Stapel medizinischer Fachbücher in den Händen erklärte sie Paula, dass sie so kurz vor den Abschlussprüfungen Ruhe in der Wohnung brauchte und es besser sei, wenn Ludger vorerst nicht mehr käme.

*

{11}Nachts lagen sie eng beieinander.

Immer berührten sich ihre Hände oder Füße. Paula strich über seinen Rücken, zählte dabei die Glockenschläge vom Kirchturm gegenüber, und wenn es noch lang genug bis zum Morgen war, legte sie ihre Hand zwischen seine Beine.

Sie sorgte sich nicht über die Art, wie sie miteinander schliefen, und dass Ludger zu allem, was sie taten, das sagte. Magst du das? Willst du das? Sie wunderte sich auch nicht, dass er zurückwich, als sie zum ersten Mal mit ihrer Zunge die unnennbaren Stellen seines Körpers erkundete. Schließlich ließ er es zu. Ganz still lag er da, seine Arme über dem Gesicht verschränkt.

Danach waren sie offen.

Ludger erzählte vom Tod seiner Eltern. Als er berichtete, wie sie am Ende eines Staus von einem LKW zerquetscht worden waren, wurde seine Stimme hölzern. Sie waren auf dem Weg zu ihm gewesen. Wenige Tage zuvor hatte er sein Architekturdiplom bekommen.

Paula küsste seine Schultern und...

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