Tamed - Wie der Mensch die Natur und sich selbst zähmte

Tamed - Wie der Mensch die Natur und sich selbst zähmte

von: Alice Roberts

wbg Theiss, 2019

ISBN: 9783806239522

Sprache: Deutsch

374 Seiten, Download: 1437 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Tamed - Wie der Mensch die Natur und sich selbst zähmte



Einleitung


„Höre und merke auf und lausche, denn dieses geschah und ereignete sich und wurde und war, O meine Meistgeliebte, als die zahmen Tiere noch wild waren. Der Hund war wild, und das Pferd war wild, und die Kuh war wild […] und sie streiften wild und im Alleingang in den Weiten Wilden Wäldern umher.“

Rudyard Kipling: „Die Katze, die frei umherstreifte“

Über Hunderttausende von Jahren lebten unsere Vorfahren in einer Welt, in der ihre Existenz von wilden Pflanzen und Tieren abhing. Sie waren Jäger und Sammler, hervorragende Überlebensspezialisten, und sie nahmen die Welt so, wie sie sie vorfanden.

Dann kam die neolithische Revolution – zu unterschiedlichen Zeitpunkten und auf unterschiedliche Weisen an verschiedenen Orten, auf jeden Fall aber war es eine wesentliche Veränderung in der Interaktion der Jäger und Sammler mit anderen Arten. Sie zähmten diese wilden Arten und wurden zu Hirten und Bauern. Die Domestizierung von Pflanzen und Tieren sollte den Weg in die moderne Welt ebnen, der menschlichen Population ein explosives Wachstum bescheren und die Entstehung der ersten Kulturen ermöglichen.

Wenn wir im Folgenden die lange Geschichte bekannter Arten aufdecken, werden wir feststellen, wie wichtig diese Pflanzen und Tiere für das Überleben und den Erfolg unserer eigenen Art waren und sind. Diese anderen Arten sind nun in unserem Team, sind heute auf der ganzen Welt zu finden und haben unser Leben enorm verändert. Wir werden in der Zeit zurückreisen, um ihre teilweise überraschenden Ursprünge aufzuspüren. Aber wir werden auch herausfinden, wie sich diese Pflanzen und Tiere dadurch verändert haben, dass sie ein Teil unserer Welt wurden, als wir sie zähmten.

Die Entstehung der domestizierten Arten


Als der viktorianische Wissenschaftler Charles Darwin mit der Arbeit an seinem Buch Die Entstehung der Arten begann, dem Fundament der heutigen Evolutionsbiologie, wusste er, dass er im Begriff war, eine Bombe platzen zu lassen – und das nicht nur innerhalb der Biologie. Ihm war klar, dass er seriöse Grundlagenarbeit leisten musste, bevor er zu den Erklärungen seiner außergewöhnlichen Einsichten kam, wie sich die Arten im Laufe der Zeit durch das unbewusste Wirken der natürlichen Auslese, die Generation um Generation ihr Zauberwerk verrichtet, veränderten. Er musste seine Leser mitnehmen. Sie würden zusammen einen Berg erklimmen; es würde schwierig werden, aber die Aussicht vom Gipfel würde atemberaubend sein.

Und so entschied sich Darwin dafür, seine Entdeckungen nicht einfach nur zu erläutern. Stattdessen widmete er ein ganzes Kapitel – in meiner Ausgabe volle 27 Seiten – der Beschreibung von Arten, die sich unter dem Einfluss von Menschen weiterentwickelt haben. Innerhalb einer Population von Pflanzen oder Tieren gibt es immer Variationen, und durch die Interaktion mit dieser Vielfalt können Bauern und Züchter Rassen und Arten über Generationen hinweg verändern. Im Laufe der Jahrhunderte und Jahrtausende haben unsere Vorfahren bei domestizierten Arten und Stämmen solche Veränderungen etabliert, indem sie Überleben und Fortpflanzung einiger Varianten förderten und den Erfolg anderer einschränkten. So formten sie Tiere und Pflanzen, bis sie den menschlichen Bedürfnissen, Wünschen und Vorlieben besser entsprachen. Darwin bezeichnete die Auswirkung der menschlichen Auswahl auf diese domestizierten Arten als „künstliche Auslese“. Er wusste, dass seinen Lesern diese Vorstellung bekannt war und dass sie sie akzeptierten. So konnte er darlegen, wie die Auslese durch Bauern und Züchter – das Auswählen einzelner Zuchttiere oder -pflanzen und das Verwerfen anderer – im Laufe der Generationen zu kleinen Veränderungen führt, und dass sich über die Zeit so viele dieser Veränderungen ansammeln, dass manchmal unterschiedliche Stämme oder Subtypen entstehen – aus einem einzigen Ahnenbestand.

Tatsächlich war diese sanfte Einführung in die Macht der Auslese, biologische Veränderungen herbeizuführen, mehr als ein literarischer Schachzug. Darwin hatte selbst damit begonnen, die Domestizierung zu untersuchen, weil er glaubte, dass sie Aufschluss über den Mechanismus der Evolution im Allgemeinen geben könnte, also darüber, wie wilde Pflanzen und Tiere sich allmählich verändern. Er schrieb: „… schien es mir wahrscheinlich, dasz ein sorgfältiges Studium der Hausthiere und Culturpflanzen die beste Aussicht auf Lösung dieser schwierigen Aufgabe gewähren würde. Und“, so fügt er fast augenzwinkernd hinzu, „ich habe mich nicht getäuscht“.

Nach der Erörterung der Auswirkungen künstlicher Auslese konnte Darwin dann sein Hauptkonzept der natürlichen Auslese als dem Mechanismus hinter der Evolution des Lebens auf der Erde erklären, dem unbewussten Prozess, der im Laufe der Zeit Veränderungen vermehrt und nicht nur neue Stämme, sondern ganz neue Arten herausarbeitet.

Wenn wir sein Werk heute lesen, stolpern wir über den Begriff „künstlich“. Zum einen kommt uns die andere Bedeutung von „künstlich“ im Sinne von „unecht“ in die Quere. In dieser Bedeutung hat Darwin das Wort aber nicht verwendet; er meinte „künstlich“ im Sinne von „kunstfertig“. Aber selbst in dieser Lesart impliziert der Begriff einen Scharfsinn, der die Rolle der bewussten Absicht bei der Domestizierung der Arten übertrieben darstellt. Die moderne Pflanzen- und Tierzucht mag nach sorgfältig geplanten, bewussten Zielen erfolgen, aber die frühe Geschichte unserer Verbindungen mit den Arten, die zu unseren größten Verbündeten wurden, belegt einen schockierenden Mangel an jedweder Planung.

Wir könnten also versuchen, einen neuen Begriff für „künstlich“ zu finden, aber da gibt es noch ein anderes Problem. Brauchen wir – angesichts der Tatsache, dass wir inzwischen die grundlegende Rolle der natürlichen Auslese in der Evolution akzeptieren, dass Darwin den Großteil von uns nicht mehr von dieser biologischen Realität überzeugen muss – tatsächlich eine separate Beschreibung für die Weise, wie die Menschen die Evolution domestizierter Arten beeinflusst haben?

Die getrennte Beschreibung der künstlichen und der natürlichen Auslese half Darwin dabei, seine Argumentation aufzubauen und ein anspruchsvolles neues Konzept vorzustellen, aber die Unterscheidung ist im Grunde nicht richtig. Es ist eigentlich nicht wichtig, dass wir Menschen – und nicht die physikalische Umgebung oder andere Arten – die Menge der Individuen in Gruppen mit mehr oder weniger Fortpflanzungserfolg einteilen. Bei keiner anderen Art würde man diese Unterscheidung treffen. Zum Beispiel üben auch Honigbienen auf Blüten einen Selektionsdruck aus, der im Laufe der Zeit zu Veränderungen an diesen Blüten führt, die sie für ihre Bestäuber attraktiver machen. Die Farben, Formen und Düfte von Blüten sind nicht dazu gemacht, unsere Sinne zu erfreuen, sondern haben sich entwickelt, um ihre geflügelten Verbündeten zu betören. Haben die Honigbienen damit eine künstliche Auslese durchgeführt? Handelt es sich nicht vielmehr um eine bienenvermittelte natürliche Auslese? Vielleicht wäre es besser (wenn auch zugegebenermaßen etwas schwerfälliger), im Zusammenhang mit unserem Einfluss auf domestizierte Arten von „menschenvermittelter natürlicher Auslese“ zu sprechen.

Die natürliche Auslese sortiert bestimmte Varianten aus, während andere überleben, sich vermehren und damit ihre Gene an die nächste Generation weitergeben. Die künstliche bzw. „menschenvermittelte natürliche“ Auslese funktioniert oft nach denselben Prinzipien, wenn Bauern und Züchter bestimmte Pflanzen oder Tiere von der Zucht ausschließen, die nicht so gefügig, produktiv, kräftig, groß oder niedlich wie die anderen sind. Darwin beschrieb diese negative Auslese in der Entstehung der Arten so:

Wenn eine Pflanzenrasse einmal wohl ausgebildet worden ist, so sucht sich der Samenzüchter nicht die besten Pflanzen aus, sondern entfernt nur diejenigen aus den Samenbeten, welche am weitesten von ihrer eigenthümlichen Form abweichen. Bei Thieren findet diese Art von Auswahl ebenfalls statt, denn kaum dürfte Jemand so sorglos sein, seine schlechtesten Thiere zur Nachzucht zu verwenden.

Indem sie die Abweichler jäten und die Tiere aussortieren, mit denen sie nicht weiterzüchten wollen, oder auch nur, indem sie bestimmte Tiere besser versorgen als andere, sind Menschen inzwischen zu mächtigen Mittlern der natürlichen Auslese geworden. Wir haben eine große Vielzahl von Pflanzen und Tieren als Verbündete im Spiel des Lebens rekrutiert.

Und doch scheint eine solche Zähmung manchmal fast zufällig zu erfolgen, wie wir noch sehen werden. Und gelegentlich sieht es so aus, als würden die Pflanzen und Tiere sich eigentlich selbst domestizieren. Vielleicht sind wir gar nicht so allmächtig, wie wir früher dachten. Selbst wenn wir bewusst planen, eine Art zu domestizieren, sie für uns nützlicher zu machen, setzen wir in Wirklichkeit nur ein natürliches, schlummerndes Potenzial frei, das es dieser...

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