Böse Delphine - Roman

Böse Delphine - Roman

von: Julia Kohli

Lenos Verlag, 2019

ISBN: 9783857879722

Sprache: Deutsch

190 Seiten, Download: 337 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Böse Delphine - Roman



1


Ich folgte Bissig zum Warenlift. Er drückte den Knopf für das dritte Untergeschoss und parkierte seinen Transportwagen neben mir. Wir schwiegen. Er schwieg besser.

Im Lift starrte ich auf die gestapelten Zeitschriftenbündel auf seinem Wagen und vermied Augenkontakt. Es war kurz vor sechs Uhr morgens. Aus unerklärlichen Gründen stimmte mich das euphorisch. Als öffnete sich bald ein Tor zu einer besseren Welt. Vielleicht war es auch das Kerosin, das am Flughafen durch alle Ritzen drang. Bewegung, Kraft und Zukunft lagen in diesem beissenden Dunst.

Der Lift setzte sich unsanft in Bewegung, sog Bissig und mich nach unten und liess die Bündel auf dem Wagen erzittern. Eines fiel sofort herunter. Ich hob es auf und platzierte es wieder an seinen Ort. Bissig rückte es zurecht und liess seine Hand auf dem Bündel ruhen. Er traute mir offenbar nicht. Es war mein erster Tag am Flughafen.

Unter der Erde angekommen, betraten wir ein Betonlabyrinth. Ich begleitete Bissig durch den niedrigen, engen Gang. Mangelhaft isolierte Kabel ragten alle paar Meter wie Fühler aus den rohen Wänden. Ich bemühte mich, in der Mitte zu gehen. Vielleicht war da Starkstrom. Arbeiter in blauen Overalls kamen uns entgegen. Ein älterer runder Mann salutierte und zwinkerte mir dabei zu.

Wir erreichten den Raum, in dem die Arbeit verrichtet werden sollte. Der Lagerraum für sämtliche Flughafenkioske. Zeitschriften und Kisten stapelten sich hier. Es roch nach Desinfektionsmittel und Keller. An der Wand vor mir hing ein Poster, auf dem sich eine nackte Blondine räkelte. Ihre Haut spannte sich über ihren prallen, muskulösen Körper und schimmerte in öligem Braun. Härter als die Betonwand. Die Brüste, dem Bersten nahe, schielten sinnentleert in Bissigs neonbeleuchteten Kellerraum. Breitbeinig – in Cowboystiefeln – stand sie vor einem Motorrad und mimte den Katzenblick. Den rechten Zeigefinger hielt sie neckisch im Mund. Ihr zur Fratze verzogenes Gesicht erinnerte mich an Billy Idol.

Während ich direkt vor der nackten Blondine stand und sie neugierig betrachtete, tat Bissig nichts dergleichen und redete mit sich selbst. Wahrscheinlich war die Idee mit dem Bild auch nicht seine gewesen. Es musste das Relikt seines Vorgängers sein – ich stellte mir einen buckligen Knilch vor.

Bissig seufzte laut, als hätte er meine Gedanken gehört. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und hantierte unmotiviert mit Lieferscheinen.

Der hölzerne Tisch war auf der Schreibfläche mit einer hässlichen hellgrünen Plastikschicht überzogen worden. Das Ding schien es aus den Fünfzigern bis in den Flughafenkeller geschafft zu haben. Die Farbe des Plastiküberzugs erinnerte mich an die graugrüne Hermes-Schreibmaschine, die im Haus meiner Eltern im Estrich stand. Als Kind hatte ich Stunden unter dem Dach verbracht, sinnlose Wortfragmente auf Papierfetzen getippt und mit Gewalt an den silbernen Hebeln gezogen. Ich lag oft vor der Maschine und schaute mitten in dieses tote Orchester aus Buchstaben. Immer wieder versuchte ich den Prozess zu studieren, vom Druck auf die Taste zum Aufschlag. Etwas an dieser eiskalten Maschinenlethargie machte mich wütend. Ich trieb es mit Tippen bald auf die Spitze. Das Band verhedderte sich, das fröhliche Klingeln wurde immer dumpfer.

Der Anblick von Bissigs Schreibtisch beelendete mich. Die Schweiz in den fünfziger Jahren: Bunker, Chalets, Stewis, »administrativ Versorgte«, dick bebrillte Schriftsteller, die ihrer Sekretärin an den Hintern fassten und von ihren sexuellen Abenteuern in Paris schwafelten. Wieso hatte ich diesen Job angenommen?

Bissig trödelte weiter vor sich hin, summte ein Lied und redete kein Wort mit mir. Nach fünfminütigem Schweigen brach er die Stille und erklärte mir die Zeitschriftenzirkulation: woher die neuen Magazine kämen, was mit den alten Magazinen geschehe und welche Gefahren in diesen Arbeitsprozessen lauerten. Nein, die alten Hefte würden nicht einfach verschenkt oder gar weggeworfen, wie manch naiver Mensch glauben wollte. Das Zeug müsse penibel registriert und gebündelt werden. Das Bündeln überhaupt stelle eine der Hauptaufgaben der Kioskarbeit dar, erfuhr ich. Bündeln sei auch nicht einfach Bündeln. Das perfekte Paket zu schnüren sei gar nicht so einfach. Nicht zu dick solle es sein, aber auch nicht zu flach. Circa zwanzig Zentimeter hoch. Und Achtung! Die Kanten: scharf wie Rasierklingen! So mancher habe sich schon eine tiefe Schnittwunde beim Hantieren mit Heften geholt. Das Allerwichtigste sei die Qualität der Schnurbindung. Am besten schnüre man mit einem Doppelstrang, so vermeide man, dass die Bündel plötzlich auseinanderfielen. Dies könne nämlich später passieren, wenn die Pakete auf den Laster geworfen werden. Und diese Typen von der Transportfirma, so versicherte mir Bissig mit abfälligem Blick, die seien nicht besonders zimperlich.

Ich hatte bald zwanzig Bündel geschnürt und verspürte eine gespenstische Zufriedenheit. Jedes Bündel ein Abschluss, jedes Bündel ein Abschied. Registriert, abgestrichen, aufgeladen. Ich hatte noch nichts falsch gemacht. Bissig redete nun immerzu; er war auf den Geschmack gekommen. Doch ich konnte ihm nicht mehr folgen. Meine Gedanken glitten auf den Hochglanzmagazinen ab, stürzten in die Schluchten der wackligen Bündeltürme, folgten den farbigen Schnüren hinauf und hinunter und legten sich zwischen den Gartenzeitschriften zur Ruhe. Ich versuchte mich an Elias’ Gesicht zu erinnern.

Zuerst sah ich seine Zähne wieder. Agent Dale Cooper in Twin Peaks hatte ähnliche. Gesunde, nicht perfekte, aber ordentliche Zähne. Zuversichtliche Zähne. Je mehr ich mich darauf konzentrierte, desto undeutlicher wurde das Bild wieder. Auch der Rest des Gesichts verschwamm.

Ich schaute auf. Bissig sortierte Ware im Gestell. Seine Gestalt glich einem Kegelmännchen. Ich schätzte ihn auf Mitte vierzig. Die dunkelblaue Latzhose betonte seinen Bauch fast grausam. Während sein braunes Haar ölig und dünnfädig nach hinten gekämmt war, schmiegte sich als Gegenstück dazu ein fast schon verwegener, struppiger Schnurrbart an seine Lippen.

Ich begann mir sein Leben vorzustellen. Wie er wohl seinen Feierabend verbrachte? Ich ahnte, dass er einsam war, und er tat mir leid. Doch würde ich mit ihm Zeit verbringen wollen? Ob er Prostituierte besuchte? Vielleicht mochten ihn die Prostituierten, er war einer der verlorenen, gutmütigen Kerle. Ich stellte mir Bissig schwitzend und röchelnd auf einer schmuddeligen roten Steppdecke vor. Unappetitlich, aber harmlos. Er würde sich kümmern, sollte es zu einer Schwangerschaft kommen. Nein, er würde sich sogar freuen und der Betroffenen damit auf die Nerven gehen. Bestimmt besuchte er immer dieselbe Frau. Zu viel Abwechslung war nichts für ihn. Alles musste seinen Platz haben, keine Eile, keine Überraschungen.

Als das Bündeln erledigt war, ging es raus. Hinauf. Wir mussten nun die Kioske mit Zeitungen und Magazinen beliefern. Wie ein treuer Hund lief ich Bissig hinterher und machte Bekanntschaft mit den Kioskverkäuferinnen. Man war stets freundlich. Ich war jetzt eine von vielen mit rot-weiss gestreiftem Hemd, in der Hierarchie irgendwo zwischen Putzfrau und Stewardess. Tiefer als die Verkäuferinnen im eleganten Pralinenshop, höher als diejenigen beim Burger-Take-away. Tiefer als die Bankangestellten, etwa auf derselben Stufe wie die fröhlichen Männer auf den Putzmobilen, die langsam und zuverlässig ihre Kreise zogen – in diesem Moment Erbrochenes beseitigten und einen nassen Streifen hygienischer Illusion zurückliessen.

Die Sommersonne heizte die Glasverkleidung des Flughafens auf, und ich sah, wie der Himmel am Horizont lieblich orange-gelb durch das Kerosin flimmerte. Als würde sich die Welt hinter dem Flughafen auflösen – eine erstaunlich beruhigende Vorstellung.

Ich befand mich am Puls der Welt, in einer sicheren Festung. Nur der Boden vibrierte durch die vorbeirollenden Koffer. Die Wichtigkeit des Menschen und seiner Destination legte sich wie ein penetrantes Eau de Toilette über die einfachsten Dinge. Selbst die Flughafenpflanzen schienen verheissungsvoll in ihren Töpfen zu sitzen und gespannt auf die charmant gehauchten Durchsagen zu hören.

Nach der einstündigen Episode am Tageslicht verschwanden Bissig und ich wieder im Keller. Er hatte sich kleine Aufgaben ausgedacht, die er mir zutraute. Ich sollte mit einer Preispistole Etiketten auf Kioskware kleben. Das Gesetz verlange es leider so. Bissig seufzte.

Hunderte von Kaugummis warteten darauf, ausgezeichnet zu werden. Ich leerte sie aus, etikettierte jede Kaugummipackung und legte sie einzeln wieder zurück in ihre Kiste, dicht beieinander, in Reih und Glied. Heimlich freute ich mich über diese Arbeit, da sie mir erlaubte, meinen Gedanken nachzuhängen.

Ich stellte mir ein Treffen mit Elias vor. In einer dunklen Bar – irgendwo am Stadtrand. Wir würden uns gegenübersitzen und uns verlegen anlächeln. Wir hätten uns bestimmt viel zu erzählen.

Ich betrachtete meine Hände. Sie...

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