Wie später ihre Kinder
von: Nicolas Mathieu
Hanser Berlin, 2019
ISBN: 9783446265080
Sprache: Deutsch
464 Seiten, Download: 2499 KB
Format: EPUB, auch als Online-Lesen
1
Anthony stand am Ufer und starrte geradeaus.
In der bleiernen Sonne wirkte das Wasser des Sees wie dickes Öl. Die samtene Oberfläche kräuselte sich, wenn ein Karpfen oder ein Hecht vorbeischwamm. Anthony atmete tief ein. In der Luft lag wieder dieser Geruch von Schlamm, von aufgeheizter Erde. Auf seinem breiten Rücken hatte der Juli Sommersprossen ausgesät. Er trug nichts als alte Fußballshorts und eine gefälschte Ray-Ban. Die Hitze war unerträglich, aber daran allein lag es nicht.
Anthony war gerade vierzehn geworden. Nachmittags konnte er ein ganzes Baguette mit La Vache qui rit verdrücken. Nachts setzte er manchmal seine Kopfhörer auf und schrieb Lieder. Seine Eltern nervten. Im Herbst würde er in die neunte Klasse kommen.
Der Cousin ließ es ruhig angehen. Er lag auf seinem Handtuch, dem guten, das sie im Ferienlager auf dem Markt in Calvi gekauft hatten, und döste vor sich hin. Selbst im Liegen sah er groß aus. Man schätzte ihn locker auf zweiundzwanzig, dreiundzwanzig. Das verschaffte ihm Zugang zu Orten, an denen er nichts verloren hatte. Zu Bars, zu Clubs und zu Mädchen.
Anthony zog eine Kippe aus dem Päckchen in seiner Hosentasche und wollte vom Cousin wissen, ob ihn nicht auch manchmal alles anödete.
Der Cousin verzog keine Miene. Unter seiner Haut zeichneten sich deutlich die Muskeln ab. Von Zeit zu Zeit setzte sich eine Fliege auf die Falte unter seiner Achsel. Dann zitterte seine Haut wie bei einem Pferd, das von einer Bremse belästigt wird. Anthony wäre gern wie er, schlank, mit durchtrainiertem Oberkörper. Jeden Abend machte er in seinem Zimmer Liegestütze und Sit-ups. Aber er war nicht der Typ dafür. Er blieb breit, massiv wie ein Steak. In der Schule hatte ihn mal ein Aufseher wegen irgendeiner unwichtigen Sache angemacht. Anthony wollte das draußen regeln, hatte dann aber alleine dagestanden. Außerdem hatte der Cousin eine echte Ray-Ban.
Anthony zündete sich die Kippe an und seufzte. Der Cousin wusste genau, was er wollte. Anthony bearbeitete ihn seit Tagen, zum Nacktstrand zu fahren, der nur aus Optimismus so genannt wurde, außer Mädchen oben ohne gab es dort nichts zu sehen, wenn überhaupt. Anthony war trotzdem völlig besessen.
»Los, lass uns hinfahren.«
»Nein«, knurrte der Cousin.
»Komm schon. Bitte!«
»Jetzt nicht. Geh schwimmen.«
»Ja klar …«
Anthony starrte mit seinem seltsam schiefen Blick aufs Wasser. Eine Art Trägheit hielt sein rechtes Augenlid halb geschlossen, verzerrte sein Gesicht, sodass er ständig schlecht gelaunt aussah. Eine Sache von vielen, die ihn fertigmachte. Wie diese lähmende Hitze, dieser massige, ungelenke Körper, die riesigen Füße und das Pickelgesicht. Schwimmen … Sehr witzig, der Cousin. Anthony spuckte durch die Schneidezähne.
Vor einem Jahr war der junge Colin ertrunken. Am 14. Juli, das konnte man sich gut merken. Damals hatten alle möglichen Leute aus der Gegend die Nacht am See und im Wald verbracht, um sich das Feuerwerk anzuschauen. Sie hatten Lagerfeuer gemacht und gegrillt. Wie jedes Jahr gab es kurz nach Mitternacht eine Schlägerei. Die Soldaten aus der Kaserne gingen auf die Araber aus dem Plattenbauviertel los, und dann mischten sich die Breitschädel aus Hennicourt ein. Schließlich machten auch die Dauercamper mit, vor allem die jungen, aber auch ein paar Familienväter, Belgier mit dicken Bäuchen und Sonnenbrand. Am nächsten Tag fand man leere Verpackungen, blutige Holzstücke, zerschlagene Flaschen und sogar eine Optimisten-Jolle des Segelclubs, die im Baum gelandet war. Das sah man nicht jeden Tag. Den jungen Colin fand man nicht.
Dabei hatte er den Abend am See verbracht. So viel stand fest, weil seine Freunde mit ihm dort gewesen waren, und die bezeugten es in den Tagen darauf. Ganz normale Jungs, die Arnaud, Alexandre oder Sébastien hießen, gerade mal Abiturienten, noch ohne Führerschein. Sie waren gekommen, um bei der traditionellen Schlägerei dabei zu sein, ohne selbst mitzumachen. Nur dass sie dann doch hineingezogen wurden. Der weitere Verlauf blieb im Dunkeln. Mehrere Zeugen hatten einen Jungen gesehen, der verletzt zu sein schien. Es war die Rede von einem blutgetränkten T-Shirt und einer Wunde am Hals, die aussah wie ein tiefer, saftiger, schwarzer Schlund. Im allgemeinen Durcheinander war ihm wohl niemand zu Hilfe gekommen. Am nächsten Morgen war das Bett des jungen Colin leer.
In den folgenden Tagen hatte der Polizeipräsident die benachbarten Wälder durchkämmen lassen, während Taucher den See absuchten. Stundenlang beobachteten die Gaffer die Fahrten des orangen Schlauchboots. Die Taucher ließen sich mit einem fernen Platschen rücklings ins Wasser fallen, dann hieß es abwarten, in einer Totenstille.
Man sagte, die alte Colin sei in der Klinik, auf Beruhigungsmitteln. Man sagte auch, sie habe sich erhängt. Oder sie sei im Nachthemd auf der Straße gesehen worden. Der alte Colin arbeitete bei der städtischen Polizei. Weil er Jäger war und alle davon ausgingen, dass die Araber schuld seien, hoffte man regelrecht auf Vergeltung. Der Vater war der untersetzte Kerl, der im Feuerwehrboot mitfuhr, sein kahler Schädel unter der drückenden Sonne. Die Leute am Ufer behielten ihn im Auge, seine Reglosigkeit, diese unerträgliche Ruhe und seinen Kopf, der wie eine Tomate vor sich hin reifte. Seine Geduld hatte für Empörung gesorgt. Alle hätten sich gewünscht, dass er etwas unternahm, dass er eine Regung zeigte, wenigstens eine Mütze aufsetzte.
Auch der Nachruf, der wenig später in der Zeitung erschien, bewegte die Gemüter. Auf dem Foto sah der junge Colin gesund aus, normal, blass, was alles in allem gut zu einem Opfer passte. Sein Haar lockte sich an den Seiten, seine Augen waren braun, und er trug ein rotes T-Shirt. Dem Artikel war zu entnehmen, dass er sein Abitur mit sehr gut bestanden hatte. Wenn man die Familie kannte, war das eine ganz schöne Leistung. Sieh mal einer an, hatte Anthonys Vater gesagt.
Die Leiche war nie gefunden worden, und der alte Colin ging wieder zur Arbeit, ohne groß Aufsehen zu erregen. Seine Frau hatte sich nicht erhängt oder so. Sie hatte bloß Tabletten geschluckt.
Jedenfalls hatte Anthony wirklich keine Lust, in dieser Brühe zu baden. Seine Kippe zischte, als sie auf die Wasseroberfläche traf. Er schaute in den Himmel und kniff die Augen zusammen. Für einen Moment glichen sich seine Lider einander an. Die Sonne stand hoch, es musste drei Uhr sein. Die Zigarette hatte einen unangenehmen Geschmack auf seiner Zunge hinterlassen. Ganz klar, die Zeit war stehengeblieben. Und trotzdem näherte sich das Ende der Sommerferien rasend schnell.
»So ne Scheiße …«
Der Cousin setzte sich auf.
»Du nervst.«
»Ist doch echt stumpf. Jeden Tag dasselbe.«
»Okay, komm …«
Der Cousin legte sich das Handtuch um die Schultern und nahm sein Mountainbike.
»Mach schon. Es geht los.«
»Wohin?«
»Mach, hab ich gesagt.«
Anthony stopfte sein Handtuch in den alten Chevignon-Rucksack, nahm seine Uhr aus dem Turnschuh und zog sich hastig an. Er hatte gerade sein BMX aufgestellt, als der Cousin schon auf den Weg einbog, der um den See führte.
»Warte auf mich, verdammt!«
Seit Anthony klein war, klebte er an ihm wie ein Schatten. Schon ihre Mütter hatten als junge Frauen immer zusammengesteckt. Die berüchtigten Mougel-Schwestern. Eine ganze Weile hatten sie alle Tanzsäle der Gegend unsicher gemacht, dann waren sie unter die Haube gekommen, große Liebe und so. Hélène, Anthonys Mutter, hatte sich für einen Casati entschieden. Irène hatte es noch schlechter erwischt. Wie dem auch sei, die Mougel-Schwestern, ihre Kerle, die Cousins, die angeheiratete Verwandtschaft, alles eine Welt. Um das zu verstehen, musste man sich nur anschauen, wie es ablief bei Hochzeiten, auf Beerdigungen, an Weihnachten. Die Männer redeten wenig und starben früh. Die Frauen färbten sich die Haare und verloren nach und nach ihren Optimismus. Im Alter hielten sie die Erinnerung an ihre Männer wach, die krepiert waren, auf der Arbeit, in der Kneipe oder an einer Staublunge, die Erinnerung an Söhne, die sich totgefahren hatten, und an alle, die abgehauen waren. Irène, die Mutter vom Cousin, gehörte zur Kategorie der verlassenen Ehefrauen. Und so war der Cousin früh erwachsen geworden. Mit sechzehn Jahren mähte er den Rasen, fuhr ohne Führerschein, kümmerte sich um das Essen. Er durfte sogar in seinem Zimmer rauchen. Er war furchtlos und selbstsicher. Anthony wäre ihm bis in die Hölle gefolgt. Mit den Eigenarten seiner Familie hingegen konnte er sich immer weniger anfreunden. Seine Leute kamen ihm ziemlich...