Die letzte Fassade - Wie meine Mutter dement wurde

Die letzte Fassade - Wie meine Mutter dement wurde

von: Burkhard Spinnen

Schöffling & Co., 2019

ISBN: 9783731761624

Sprache: Deutsch

160 Seiten, Download: 794 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Die letzte Fassade - Wie meine Mutter dement wurde



Das Warten


Wenn mein Vater sich nicht gut fühlte, bekam er große Angst um seine Gesundheit, ging aber nicht gleich zum Arzt. Wenn er dann endlich ging, berichtete er zwar von seinen Symptomen, spielte sie aber herunter. Sein Hausarzt, den er seit Jahrzehnten auch privat kannte, ließ sich auf dieses gefährliche Verdrängungsspiel in der Regel ein; bislang war mein Vater ja nie ernstlich krank gewesen. Seit seiner Militärzeit im Zweiten Weltkrieg hatte er nur eine Woche im Krankenhaus verbracht, für einen Routineeingriff. Meistens lautete der Rat des Arztes, mein Vater solle sich keine Sorgen machen. Man werde eben älter, das sei alles. Damit hatte er auch lange Recht.

Im Alter von dreiundsiebzig Jahren geriet mein Vater an eine Praxisvertretung, die hinter seinen bagatellisierten Symptomen etwas Ernstes vermutete. Wenige Tage später erhielt er die Diagnose eines tödlichen Nierenkarzinoms. Der Arzt, mit dem ich kurz darauf sprach, erläuterte mir die Statistik: Nach einem Befund wie dem meines Vaters belaufe sich die Lebenserwartung des Betroffenen auf sechs Monate bis maximal zweieinhalb Jahre. Der Krebs habe bereits gestreut; die Chance, ihn vollständig zu vernichten, sei praktisch gleich Null.

Mein Vater wurde operiert, eine Niere wurde entfernt. Die folgende Behandlung mit Medikamenten schlug nach Aussage der Ärzte so gut an, wie man überhaupt hoffen durfte. Daher lebte mein Vater noch beinahe die vollen zweieinhalb Jahre – wenngleich mit all den scheußlichen Nebenwirkungen der Medikamente und mit einer Todesangst, die ihn wohl keine Minute mehr verließ. Er erholte sich körperlich, um dann wenige Monate vor seinem Tod rapide zu verfallen. Psychisch blieb er während fast der ganzen Zeit er selbst, wenngleich etwas leiser und langsamer. Einige wenige Male sprach er mit mir über seinen Zustand; auch von der Angst und der Todeserfahrung während seiner Jahre im Krieg war jetzt die Rede. Ich hatte das Gefühl, dass er, der höchst sachliche und zupackende Mann der Wirtschaftswunderjahre, am Ende seines Lebens manchmal in die Gefühlswelt seiner von Politik und Krieg verdorbenen Jugend zurückkehrte. Meistens allerdings behandelte er seine Erkrankung wie einen Betriebsunfall, der ihm vor allem peinlich war und den es, wenn irgend möglich, zu überspielen galt, auch wenn das viel Kraft kostete. Erst kurz vor Schluss ließen ihn die Schmerzmittel verstummen und verdämmern.

An einem heißen Tag mit dem albernen Datum des 9. September 1999 wurde mein Vater begraben. Meine Mutter, sechsundsiebzig Jahre alt, war jetzt Witwe, so wie er es ihr immer prophezeit hatte und so wie ihre Mutter und ihre Großmütter es auch gewesen waren. Doch niemand hätte sie, da sie nun, nach über fünfzig Jahren, ohne ihren Ehemann war, für vereinsamt oder gar gebrochen halten können. Das war auch überhaupt nicht der Fall. Sie hatte viel Erfahrung damit, allein zu sein und Dinge nur für sich zu tun. Wahrscheinlich lag eine Neigung dazu schon in ihrem Charakter begründet. Ich glaube, ich kann das beurteilen; vermutlich habe ich diesen Wesenszug von ihr geerbt.

Nach ihrem Volksschulabschluss hatte meine Mutter, die wie mein Vater aus einfachen, ja ärmlichen Verhältnissen stammt, eine Hilfstätigkeit in der Textilindustrie erlernt, die in einen Beruf als Arbeiterin mündete. Niemand in ihrer Familie und in ihrem Umfeld war willens und imstande gewesen, sie irgendwie zu fördern; dazu fehlte auch schlicht das Geld. Außerdem war ihr als Frau sowieso nichts anderes beschieden, als Hausfrau und Mutter zu werden.

Meine Mutter war ein hübsches Mädchen von sechzehn Jahren, als der Krieg ausbrach. Rasch wurde sie eine attraktive junge Frau. Mit neunzehn hatte sie einen deutlich älteren Freund, der schon im Berufsleben stand. Im Krieg war er Feldwebel. Er hätte meine Mutter geheiratet und versorgt; eine Verlobung soll er nur abgelehnt haben, weil er fürchtete, den Krieg nicht zu überleben. Tatsächlich verliert sich die Spur des Mannes, der nach dem Willen meiner Mutter der Vater ihrer Kinder hätte werden sollen, in den Wirren eines Rückzugs an der Ostfront.

Bei Kriegsende war meine Mutter zweiundzwanzig. Mit Hilfe von Freundinnen, die das Handwerk beherrschten, hatte sie sich das Schneidern beigebracht. Der Zweck war anfangs der, Kleider zu besitzen, die zu teuer waren, als dass man sie hätte kaufen können. Doch in der Ehe mit meinem Vater, den sie kurz nach Kriegsende kennengelernt hatte, wurde ihre Schneiderei allmählich eine Art diskreter Beruf. Meine Mutter gab die höchst ungeliebte Arbeit in der Fabrik auf und nähte stattdessen für Verwandte, Bekannte und Nachbarn, von den einfachsten bis zu den anspruchsvollsten Kleidungsstücken. Der Bedarf war gewaltig.

Ich erinnere mich gut, ja, es ist eine der stärksten Erinnerungen an meine frühe Kindheit um 1960: Wir sind in der kleinen, ofengeheizten Küche unserer Wohnung unter dem Dach. Die Nähmaschine steht rechts von mir in einer Ecke vor dem Fenster, der Küchentisch ist mit einer dicken Decke zum Schneidertisch umfunktioniert. An der Tür hängt ein großer Spiegel, und davor steht eine Frau, die ein Kostüm anprobiert. Meine Mutter steckt gerade noch ein paar Änderungen mit Nadeln ab. Ich beobachte das Ganze, kniend auf der roten Couch hinter dem Tisch. Die Frau vor dem Spiegel hat Tränen in den Augen. Mir ist das peinlich, aber ich weiß, sie weint vor Glück. Meine Mutter hat ihr dieses Kostüm geschneidert, in dem ihre vom neuen Wohlstand ramponierte Figur wieder weibliche Konturen zeigt. Auf der anstehenden Hochzeit, Erstkommunion oder Geburtstagsfeier wird sie sich fühlen wie ein Filmstar. Und das sagt sie auch, mehrmals, mit genau diesen Worten.

Mit solchen Arbeiten verdiente meine Mutter jahrelang das gesamte Haushaltsgeld, später floss der Ertrag in ihre eigene Garderobe. Sich schick anzuziehen war eine ihrer drei großen Leidenschaften. Verständlicherweise blieb ihr Modegeschmack irgendwo in den frühen siebziger Jahren hängen, aber ich behaupte: Mit achtzig war sie geschmackvoller und weiblicher gekleidet als neunzig Prozent ihrer Altersgenossinnen.

Bei ihren Näharbeiten, für die sie später einen eigens ausgebauten Kellerraum besaß, war meine Mutter also alleine gewesen, abgesehen von mir in meinen Kinderjahren und den Besuchen ihrer Kundinnen. Und auch ihre zweite Leidenschaft hatte sie im Wesentlichen alleine praktiziert. Wieder ohne Anleitung, hatte sie sich mit etwa fünfzig das Modellieren in Ton beigebracht. Meistens kopierte sie traditionelle Figuren und Ensembles, vor allem für Weihnachtskrippen. Auch diese Figuren fanden zahlende Abnehmer, so dass meine Mutter ihr Hobby vor meinem Vater und vor sich selbst noch einmal als Nebenerwerb legitimieren konnte. Ihr Meisterstück war eine fast lebensgroße Madonnenfigur, die Platz in einer neu gebauten Kapelle fand. Um das Teil brennen zu können, nutzte meine Mutter den professionellen Brennofen meines ehemaligen Kunstlehrers, der unter uns Schülern als Freak gegolten hatte. Ihn mit meiner Mutter fachsimpeln zu sehen, war ein äußerst merkwürdiges Erlebnis.

Als mein Vater starb, hatte meine Mutter die Schneiderei und das Modellieren zwar weitgehend aufgegeben, nicht aber ihre selbstgenügsame und häusliche Lebensweise. Sie war gesund und fit; und wenn sie durch die Krankheit und den Tod meines Vaters, der es gern gesellig gehabt hatte, den Anschluss an Freunde und Bekannte teilweise verlor, so litt sie nicht sehr darunter. Die Hauptsache war, dass ihr das Wichtigste blieb, ihre dritte und größte Leidenschaft: das Haus.

Wenn sich damals, 1999, jemand Sorgen um ihr zukünftiges Leben machte, dann war das ich. Irgendwann, dachte ich damals, wird sie das viel zu große Haus verlassen müssen, weil sie es nicht mehr alleine versorgen kann. Sollte sie es da nicht lieber bald tun, um sich rasch in den neuen Lebensraum einzugewöhnen und möglichst lange davon zu profitieren? Sie könnte zum Beispiel in die Innenstadt ziehen, in die Nähe der Modeläden, die sie immer so interessiert hatten. Und vielleicht sogar gleich in eine Einrichtung, wo man ihr, wenn das einmal nötig wäre, viele Arbeiten abnehmen könnte. Oder wie wäre es mit einem Umzug in meine Stadt, um ihrem einzigen Kind, ihrer Schwiegertochter und ihren beiden Enkeln näher zu sein? Unsere Söhne waren damals neun und sechs, ein perfektes Alter für rührige Großmütter.

Tatsächlich aber habe ich nicht ein einziges Mal mit meiner Mutter über einen möglichen Umzug gesprochen. Ich habe es nicht gewagt. Schon der Vorschlag wäre nämlich ein Affront, wenn nicht gar ein Sakrileg gewesen. Ihr Haus war nämlich nicht nur ein Haus, ein angenehmer Platz zum Leben. Für meine Mutter war es vielmehr das Symbol ihres sozialen Aufstiegs und der Repräsentant ihres Selbstwertes.

Als Kind hatte sie in einem Haus gelebt, das kaum diesen Namen verdiente, schon der Umzug ihrer Eltern in das notdürftig ausgebaute Dachgeschoss eines ziemlich schäbigen Altbaus war damals eine große Verbesserung. Ich habe diese Wohnung meiner Großeltern noch kennengelernt; die Küche ein lichtloser Verschlag, die Toilette teilte man sich mit anderen Mietern, ein Bad gab es nicht. Nach ihrer Heirat 1949 wohnten meine Eltern zur Untermiete in zwei Zimmern, erst mit meiner Geburt 1956 zogen sie in eine Wohnung mit Küche, Bad und drei Räumen, allerdings wiederum unter einem schrägen Dach. Der Flur besaß keine verschließbare Tür zum Treppenhaus, was bei einer sehr neugierigen und chronisch unterbeschäftigten Vermieterin zu einem dramatischen Verlust an Privatsphäre führte. Selbst ich habe damals diese Wohnung als irgendwie komisch und ungeschützt empfunden, verglichen mit denen meiner Mitschüler in der Nachbarschaft. Meine Eltern müssen sehr...

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