Aus Sicht des Gehirns

Aus Sicht des Gehirns

von: Gerhard Roth

Suhrkamp, 2019

ISBN: 9783518738153

Sprache: Deutsch

243 Seiten, Download: 2286 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Aus Sicht des Gehirns



131. Eine kleine Hirnkunde


Manche Menschen, darunter Hirnforscher, sind der Meinung, unser Gehirn sei das komplizierteste System im Universum. Das soll natürlich unserem Selbstwertgefühl schmeicheln. Wer aber kennt schon das Universum?

Klar ist, dass man viele Jahre intensiven Studiums braucht, um das menschliche Gehirn in seinem Aufbau und seinen Funktionen gut zu verstehen. Es gibt allerdings einige Dinge, die einem die Sache erleichtern. Das Wichtigste ist dabei die Erkenntnis, dass das menschliche Gehirn in seinem Aufbau keineswegs einzigartig ist, sondern ein typisches Säugetiergehirn darstellt. Wenn wir also wissen, wie ein Säugetiergehirn aufgebaut ist, dann verstehen wir auch den Aufbau des menschlichen Gehirns. Allerdings sind die Gehirne von Säugetieren, und zwar auch scheinbar »primitive« wie die von Ratten und Mäusen, ebenfalls kompliziert aufgebaut. Hier hilft die zweite Erkenntnis, dass das Gehirn der Säugetiere ein typisches Wirbeltiergehirn ist und entsprechend den Gehirnen von Neunaugen, Knorpelfischen (Haien und Rochen), Knochenfischen, Amphibien (z. B. Fröschen und Salamandern), Reptilien (z. B. Schildkröten, Schlangen, Eidechsen, Krokodilen) und Vögeln im Grundaufbau sehr ähnlich ist.

Als Ausgangspunkt können wir das einfachste Gehirn nehmen, das sich bei den Wirbeltieren findet, und hier bietet sich das Gehirn der Frösche und Salamander an, mit denen ich mich seit vielen Jahren intensiv beschäftige (genauer gesagt handelt es sich um sekundär vereinfachte Gehirne – aber das spielt im vorliegenden Zusammenhang keine Rolle). In Abbildung 1 sind der Grundaufbau des Wirbeltiergehirns, ein Salamandergehirn und das menschliche Gehirn gezeigt, natürlich in unterschiedlichem Maßstab. Der oberen Abbildung entnehmen wir, dass sich alle Wirbeltiergehirne aus dem Vorderende eines rohrartigen Gebildes, des Neuralrohrs, entwickeln, dessen Wände die Hirnmasse und dessen Hohlraum die so genannten Ventrikel darstellen. Den langen hinteren Teil stellt das Rückenmark dar, das die Wirbelsäule durchzieht und die ursprüngliche Rohrartigkeit noch am meisten beibehält. Der vordere Teil, das Gehirn, unterteilt sich durch Wandverdickungen, Einschnü14rungen und Ausweitungen in fünf Teile. Dabei handelt es sich um das Verlängerte Mark (lateinisch Medulla oblongata) als Fortsetzung des Rückenmarks, um das Kleinhirn (Cerebellum), das Mittelhirn (Mesencephalon), das Zwischenhirn (Diencephalon) und das Endhirn (Telencephalon), auch Großhirn genannt. Das Endhirn oder Großhirn ist in seinem vorderen Teil bei allen Wirbeltieren paarig angeordnet; die beiden Großhirnhälften nennt man Hemisphären (d. h. Halbkugeln). Bei Vögeln und Säugetieren unterscheidet man noch einen weiteren, sechsten Hirnteil, die Brücke (lateinisch Pons), der aber nur ein besonderer Teil des Mittelhirnbodens, des Tegmentum, ist.

15Abbildung 1: Oben links: Aufbau des Wirbeltiergehirns zu Beginn der Entwicklung (nach Zigmond et al. 1999; verändert). Oben rechts: Aufsicht auf ein Salamandergehirn (aus Roth 1987). Unten: Längsschnitt durch das menschliche Gehirn (nach Eliot 2001; verändert).

Diese fünf bzw. sechs Teile sind bei Amphibien und Reptilien und den meisten Fischen hintereinander angeordnet; bei Säugetieren und Vögeln vergrößern sich aber das Zwischenhirn und das Endhirn überdurchschnittlich, und bei Säugetieren vergrößert sich zusätzlich die Hirnrinde und dehnt sich nach allen Seiten aus, so dass sie schließlich bei einigen Säugetieren wie den Primaten die übrigen Teile des Gehirns fast ganz überdeckt. So kommt es, dass beim menschlichen Gehirn ebenso wie bei den Gehirnen anderer großer Säugetiere äußerlich fast nur die Großhirnrinde sichtbar ist (Abbildung 2). Diese eindrucksvollen Veränderungen, die sich sowohl in der Stammesgeschichte (Phylogenese) als auch der Individualgeschichte (Ontogenese) zeigen, ändern aber nichts an der Tatsache, dass der Grundaufbau des menschlichen Gehirns überhaupt nichts Besonderes an sich hat. Bei den Affen, insbesondere den Großaffen, zu denen auch wir Menschen gehören, ist allerdings das Gehirn in Höhe des Zwischenhirns »abgeknickt«, so dass Rückenmark, Verlängertes Mark, Brücke und Mittelhirn eine schräge Position einnehmen und das Endhirn mit der Großhirnrinde waagerecht nach vorn ausgerichtet ist. Dies hängt mit der zunehmend aufrechten Körperhaltung der Affen und der entsprechenden Umformung des Schädels bei diesen Tieren zusammen.

Abbildung 2: Oben: Seitenansicht des menschlichen Gehirns. Sichtbar ist die Großhirnrinde mit ihren typischen Windungen (Gyrus/Gyri) und Furchen (Sulcus/Sulci) und das ebenfalls stark gefurchte Kleinhirn. Abkürzungen: FC Stirnlappen; OC Hinterhauptslappen; PC Scheitellappen; TC Schläfenlappen; 1 Zentralfurche (Sulcus centralis); 2 Gyrus postcentralis; 3 Gyrus angularis; 4 Gyrus supramarginalis; 5 Kleinhirn-Hemisphären; 6 Gyrus praecentralis; 7 Riechkolben; 8 olfaktorischer Trakt; 9 Sulcus lateralis; 10 Brücke; 11 Verlängertes Mark. (Nach Nieuwenhuys et al. 1991, verändert.) Unten: Längsschnitt durch das menschliche Gehirn mit den wichtigsten limbischen Zentren (nach Spektrum der Wissenschaft, verändert).Weitere Erläuterungen im Text.

Das menschliche Gehirn wiegt bei Männern im Durchschnitt 1,35 Kilogramm und bei Frauen im Durchschnitt 1,22 Kilogramm. Dieser Unterschied hängt teilweise mit dem etwas geringeren Körpergewicht von Frauen zusammen, ist aber nicht allein hierdurch erklärbar. Frauen und Männer unterscheiden sich außer in ihrem Körper auch in vielen anderen Dingen voneinander, z. B. wie sie fühlen, denken, entscheiden und sich verhalten. Nichts davon hat 16aber mit diesem Unterschied im Gehirngewicht zu tun, wie überhaupt die Leistungen menschlicher Gehirne, z. B. Intelligenz und Kreativität, und das Gehirngewicht in einer Spannbreite zwischen einem und zwei Kilogramm wenig bis nichts miteinander zu tun haben.

Das menschliche Gehirn ist nicht nur in seiner Grundstruktur sehr konservativ, sondern auch in seinem Feinaufbau. Wie alle anderen Organe unseres Körpers besteht das Gehirn aus Zellen, und zwar aus Nervenzellen, Neurone (oder Neuronen) genannt, und Gliazellen. Nervenzellen sind die direkten Grundbausteine der Funktionen unseres Gehirns, während Gliazellen Stütz- und Versorgungsfunktionen für die Nervenzellen ausüben. Inwieweit sie bei der neuronalen Erregungsverarbeitung mitwirken, ist noch nicht ganz geklärt. Das menschliche Gehirn enthält schätzungsweise hundert Milliarden Nervenzellen, wovon allein das Kleinhirn dreißig Milliarden Nervenzellen beinhalten soll, aber Gliazellen gibt es etwa zehnmal so viele wie Nervenzellen. Allerdings gilt, dass die Zahl der Gliazellen bei einer Vergrößerung des Gehirns gegenüber den Nervenzellen überproportional zunimmt, was zur Folge hat, dass kleine Gehirne viel mehr Neurone als Gliazellen und große Gehirne viel mehr Gliazellen als Neurone haben. Das hängt damit zusammen, dass bei einer Gehirnvergrößerung der Versorgungsaufwand für die Nervenzellen, an denen die Gliazellen beteiligt sind, unverhältnismäßig wächst.

Nervenzellen kommen in vielerlei Gestalten im Gehirn vor. Alle haben aber dieselbe Funktion: Erregung wird aufgenommen, verarbeitet und wieder abgegeben. Wie Abbildung 3 zeigt, besteht eine typische Nervenzelle aus einem Zellkörper, von dem meist viele verzweigte Fortsätze, Dendriten genannt, entspringen, über die sie Erregungen von anderen Nervenzellen aufnimmt, und einem ebenfalls am Zellkörper oder an einem Hauptdendriten entspringenden Fortsatz, Axon genannt (es kann davon auch mehrere geben), über die die Zelle Erregungen an andere Nervenzellen weitergibt. Allerdings gibt es auch Nervenzellen, die axonlos sind, und bei denen die Erregungsverarbeitung zwischen den Dendriten verläuft.

Grundlage der Erregungsverarbeitung im Nervensystem (einschließlich des Gehirns) ist die Tatsache, dass die Hülle (Membran), die die Nervenzellen und ihre Fortsätze umgibt, elektrisch aufgeladen ist. Durch Messungen stellen wir fest, dass das Zell18innere gegenüber der Umgebung eine negative Spannung von 40-70 Millivolt...

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