Die Zertrennung - Aufzeichnungen eines Mitglieds des Sonderkommandos
von: Salmen Gradowski, Aurélia Kalisky
Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag, 2019
ISBN: 9783633752249
Sprache: Deutsch
354 Seiten, Download: 7667 KB
Format: EPUB, auch als Online-Lesen
Flaschenpost an die Welt danach
Frühjahr 1945. Seit dem 27. Januar ist Auschwitz-Birkenau, das größte deutsche Konzentrations- und Vernichtungslager, befreit.[1] Militärärzte und Sanitäter der Roten Armee, unterstützt von Freiwilligen des polnischen Roten Kreuzes, und ehemalige Häftlinge, die im Auschwitzer Krankenrevier arbeiteten, bemühen sich, die Überlebenden zu versorgen. Mehr als die Hälfte der ungefähr 7500 Menschen, die die Nazis vor ihrer Flucht nicht evakuiert hatten, sind völlig entkräftete Frauen. Juden, die in anderen Lagern der Umgebung oder in Verstecken überlebt haben, kommen zum Gelände, in der Hoffnung, Hilfe zu finden. Viele suchen auch nach Informationen über ihre verschwundenen Angehörigen.
Wenn sie die Wahrheit über das, was hier geschehen ist, nicht schon gekannt haben, so zerstört spätestens der Anblick des Lagers das bisschen Hoffnung, das ihnen geblieben war. Das Ausmaß des Verbrechens lässt sich beim Anblick der Relikte nur erahnen. Ein Ozean von Strümpfen. Berge leerer Koffer. Halden von Schuhen, Prothesen, Brillen, Spielsachen. Ihre hartnäckige Präsenz zeugt vom Verschwinden der Menschen, von denen nichts oder fast nichts geblieben ist. Sie wurden verbrannt und ihre Asche an verschiedenen Orten des Geländes entsorgt. Sieben Tonnen Haare sind noch da, in etwa 300 großen Säcken aus Papier. Polnische Goldgräber und Schatzsucher, oft Kinder und Jugendliche, durchsuchen den Boden des Geländes in der Hoffnung, kleine Wertgegenstände oder Goldzähne zu finden.[2] Auf dem gigantischen Territorium des Lagers sind auch Spurensucher und Beweissammler unterwegs: Angehörige von Untersuchungskommissionen, die offiziell beauftragt sind, Beweise des Verbrechens zusammenzutragen.[3] Sie erfassen Objekte, sammeln Dokumente und befragen Zeugen. Die Sicherung der Spuren und Beweise wird entscheidend dafür sein, ob die Verantwortlichen vor Gericht gestellt werden können und wie die Geschichte des Verbrechens geschrieben wird.
Einer der Überlebenden, die sich Antworten auf ihre Fragen erhoffen, ist Chaim Wollnerman, 33 Jahre alt. Er stammt von hier, aus der Kleinstadt Oświęcim[4]. Vor dem Krieg hatte er eine kleine Textilfabrik geleitet; da er sich aber auch für Medizin interessierte, hatte er ein Diplom in Erster Hilfe und Militärmedizin abgelegt. Dank seiner medizinischen Kenntnisse konnte er in den verschiedenen Ghettos und Lagern, in die er seit September 1941 deportiert worden war, als Pfleger eingesetzt werden. Nachdem er am 13. Februar 1945 im niederschlesischen Konzentrationslager Groß-Rosen befreit worden war, kehrte er im März nach Oświęcim zurück. Dort geht er jeden Tag ins Lager Auschwitz-Birkenau, in der Hoffnung, etwas über seine Freunde und seine Familie herauszufinden. Er sieht die Ruinen der zerstörten Krematorien[5] und die Magazine voller Gegenstände, die den Opfern gehört hatten und darauf warteten, ins Reich versandt zu werden. Im Mai 1945 wird er zum Vorstandsvorsitzenden der »jüdischen Religionsversammlung« in Oświęcim gewählt und mit der Aufbewahrung jüdischer Schriften betraut. Ein paar Wochen später, im Sommer, kommt ein junger Pole auf ihn zu und bietet ihm ein Objekt zum Kauf an, das er im Boden der Auschwitzer Krematorien gefunden hat. Es handelt sich um ein in einer Blechbüchse enthaltenes Manuskript, geschrieben in enger jiddischer Schrift. Als Wollnerman die ersten Zeilen gelesen hat, wird ihm klar, dass er ein einzigartiges Zeugnis in Händen hält:[6]
Lieber Leser, Du wirst in diesen Zeilen die Leiden und Nöte beschrieben finden, die wir, die unglücklichsten Kinder der ganzen Welt, durchgemacht haben in der Zeit unseres »Lebens« in der irdischen Hölle, die Auschwitz-Birkenau heißt.
In den drei Briefen, die jedem der drei Teile des Manuskripts vorangestellt sind, nennt der Autor die Vornamen seiner in Auschwitz ermordeten Familienmitglieder und fügt in einem Fall den Namen und die Adresse eines in New York lebenden Onkels an. Der Finder wird gebeten, sich an jenen zu wenden, um ein Foto des Autors von ihm zu erbitten und es zusammen mit dem Manuskript zu veröffentlichen. Der Name des Autors selbst wird nicht genannt, aber in zwei der drei Briefe findet sich anstelle einer Unterschrift eine Zahlenreihe:
(7) (30) (40) (50) – (3) (200) (1) (4) (1) (6,6) (60) (100) (10)
Wollnerman kommt bei dieser Reihe die jüdische Tradition der Gematrie in den Sinn, nach welcher Buchstaben in Zahlenwerte überführt werden können.[7] So kann er den Namen des unbekannten Autors entschlüsseln: Salmen Gradowski.[8] Die Handschrift erweist sich als Zeugnis eines jener Häftlinge, die im Sonderkommando arbeiten mussten. Diese Männer, deren Zahl zwischen etwa fünfzig und mehreren hundert variierte, arbeiteten direkt bei den Gaskammern, sie mussten den gesamten Tötungsprozess begleiten und die Leichen der Opfer verbrennen. Die Angehörigen des Sonderkommandos wurden von der SS als »Geheimnisträger« betrachtet. Dass einige von ihnen, darunter Salmen Gradowski, Aufzeichnungen machen und sie verstecken konnten, grenzte an ein Wunder.[9] Sogleich macht sich Wollnerman an die Entzifferung des Manuskripts. Viele Seiten kleben durch Feuchtigkeit und Schimmel aneinander, die Schrift ist stellenweise unlesbar. Wollnerman schreibt ab.
Etwa zur gleichen Zeit, als Wollnerman seine Nachforschungen in Auschwitz beginnt, kommt einer der wenigen Überlebenden des Auschwitzer Sonderkommandos, der 23-jährige Shlomo Dragon, ins Lager zurück. Es war ihm gelungen, während eines »Todesmarschs«[10] zu fliehen. Er hat Salmen Gradowski persönlich gekannt und weiß von den vergrabenen Dokumenten. Am 5. März 1945 findet er unweit des Krematoriums III[11] eine Feldflasche aus Aluminium, die ebenfalls ein Manuskript Gradowskis enthält.[12] Es handelt sich um ein Notizbuch mit 91 beschriebenen Seiten und einen auf zwei lose Blätter geschriebenen Brief, datiert auf den 6. September 1944. Wie in den drei Briefen, die im von Chaim Wollnerman gefundenen Manuskript enthalten sind, wendet sich der Verfasser direkt an den »Finder« und »Leser«:
Ich habe das geschrieben, als ich im Sonderkommando war. […] Ich wollte es, wie noch viele andere Schriften von mir, zur Erinnerung für die künftige Friedenswelt hinterlassen, die wissen soll, was hier geschehen ist. […] Lieber Finder. Ihr sollt überall suchen, auf jedem Fleckchen. Da liegen zu Dutzenden Dokumente von mir und anderen begraben, die ein Licht werfen wollen auf alles, was hier geschehen und passiert ist.
Auch hier formuliert Gradowski den Wunsch, sein Text möge publiziert werden, mit seinem Foto, das man von seinem Onkel in New York erhalten könne. Shlomo Dragon vertraut seinen Fund Mitgliedern der sowjetischen Untersuchungskommission an, die Gradowskis Bitte nicht nachkommen. Das Manuskript landet im Archiv des Museums für Militärmedizin in Leningrad.
Eine Jugend im »Jiddischland«
Chaim Salmen Gradowski wurde zwischen 1908 und 1910 in Suwałki geboren, einer Stadt an der litauischen Grenze, die damals zum Zarenreich und nach dem Ersten Weltkrieg zum unabhängigen Polen gehörte. Er wuchs in einer religiösen Familie auf, in der es mehrere bedeutende Rabbiner gegeben hatte. Sein Vater, zum Rabbiner ausgebildet, war Kantor für die Sabbatgottesdienste zu den Hohen Feiertagen[13] im Beit Midrasch[14], wo er noch abends die Gemara studierte. Im Yizkor-Buch[15] von Suwałki werden Gradowskis Eltern, Shmuel und Sarah, als besonders gutmütige und gastfreundliche Menschen beschrieben[16]. Salmens jüngere Brüder, Moyshl und Avrom-Eber Gradowski, hatten in der berühmten Jeschiwa von Łomża[17] studiert und lehrten an einer der religiösen Schulen (Jeschiwot) in Suwałki. Salmen ...