Ein halbes Lächeln - Die besten Storys - Mit neuen Erzählungen

Ein halbes Lächeln - Die besten Storys - Mit neuen Erzählungen

von: Anne Enright

Penguin Verlag, 2020

ISBN: 9783641233228

Sprache: Deutsch

352 Seiten, Download: 1170 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Ein halbes Lächeln - Die besten Storys - Mit neuen Erzählungen



Drei Geschichten über die Liebe


1.


»Weißt du, was ich denke?«, fragte sie. »Dieser Kerl hat keiner Fliege je etwas zuleide getan. In seinem ganzen Leben nicht.«

Sie wirkte so grimmig, dass er sich wünschte, er hätte das Thema nicht angeschnitten.

»Na schön«, sagte er. Er veränderte die Position auf seinem Sitz – ein Barhocker am Ende des Tresens – und bewunderte ihren Unterarm, der auf der Tresenplatte vor ihm ruhte. Er sah ihn so deutlich, war so gebannt von dessen Schlichtheit, dass er gar nicht bemerkte, wie er sich ihr näherte, bis sie diesen besonderen Teil ihrer Anatomie seinem Blick entzog. Sie waren betrunken. Sie würden möglicherweise miteinander schlafen. Starke Zweifel überkamen ihn. Er fragte sich, ob Frauen sie ebenfalls spürten – diese Last. Dann sagte er: »Ich muss jetzt.« Sie rutschte vom Barhocker, und ihre Knie knickten ein wenig ein, als ihre Füße den Boden berührten. Doch sie fing sich, griff sich ihre Handtasche wie ihre verletzte Würde und ging.

Sie kehrte zurück, um ihr Telefon zu holen, das sie auf dem Tresen liegen gelassen hatte, wandte sich ihm zu und sagte: »Ich wollte nur noch einmal sagen, dass dieser Kerl keiner Fliege je etwas zuleide getan hat.« Er packte sie beim Unterarm – ihre Haut war kühl – und deutete mit dem Kopf zur Tür.

»Was?«

»Komm schon«, sagte er.

Der Club befand sich im Keller, und sie küssten sich im Außenbereich, wobei der Drink ihnen in dem kalten Windstoß zusetzte. Doch sie war zu betrunken. Wirklich. Er war nicht mit dem Herzen dabei. Nicht dass er es so gewollt hätte. Doch er klammerte sich an ein Geländer, drehte sich ruckartig um, setzte sich auf eine Treppenstufe – in seinem guten Anzug, genau genommen sein Anzug für Vorstellungsgespräche – und sagte: »Er ist einfach nur dumm. Ich meine, er mag harmlos sein, aber er ist zudem einfach dumm.«

»Du bist der Dumme«, antwortete sie. »Du bist der, der dumm ist.«

Er war geradeheraus. Er wollte, dass die Leute es sich gut gehen lassen. Er wollte eine Frau, die klein und blond ist. Er hatte es nie wirklich ganz durchdacht, doch wenn er sich seine Frau und Kinder vorstellte, war sie stets klein, hellhaarig, lieb und auf ihre Art tough. Und die Kinder waren aus irgendeinem Grund stets kleine lockenköpfige Mädchen. Sie hatten ein großes Trampolin und ein reizendes Kreischen. Und vor alldem – vor der kleinen Frau und den kleinen Mädchen in ihrem Haus mit dem hübschen Garten – wollte er nichts als eine tolle Zeit haben.

Es war lediglich ein merkwürdiger Beginn. Das war alles. Der Arm einer Frau auf einer Tresenplatte. Sie hatte ein lustiges Gesicht. Sie sah nicht aus wie eine Gattin, und sie sprach nicht, als hätte sie eine tolle Zeit. Und dann diese Größe. Sie war sehr lang. Selbst ihr Arm war lang.

»Vielleicht«, sagte er. »Vielleicht bin ich dumm.«

»Das bist du nicht«, antwortete sie.

»Ich habe gerade meinen Job verloren«, sagte er.

Sie drängte sich an ihm vorbei, und ihr Trenchcoat streifte seine Schulter. Er starrte ihre Beine an, während diese ihn gerade verließen.

»Ich habe einen Job«, sagte sie. »Ich habe einen großartigen Job.«

Sie stand auf der obersten Treppenstufe und entnahm ihrer Tasche einen Hut. Ein verrückt aussehendes wolliges Ding.

»Mach schon«, sagte sie.

Sein Rücken war kalt vom Sitzen auf der Treppe. Und er war immer noch kalt, als sie in ihrem Apartment in der Barrow Street ins Bett fanden. Sie machte eine Bemerkung über seine Kälte. Er wäre sofort danach gegangen, doch seine besseren Manieren hielten ihn davon ab, und am Morgen war sie wirklich nett.

Er schrieb sich nicht ihre Nummer auf. Er konnte es einfach nicht. Als der Augenblick kam, sagte er: »Schau dir dieses Wetter an«, als hätte er es nicht erwarten können, sich ihm draußen auszusetzen. Doch er verbrachte eine lange Zeit damit, ihre Facebook-Seite zu checken: Una Molloy – ein Stück von ihrem verrückten Hut, ein Auge, eine Augenbraue, ein Bild von Sonnenblumen auf einem Feld, fünfhundertdreiundzwanzig Freunde. Ein paar Tage später bat sie ihn, die Nummer fünfhundertvierundzwanzig zu werden, und sie gingen ins Kino und dann zurück in ihr Gemach – dort sei Wein im Kühlschrank, sagte sie. Sie taten dies ein paarmal, weil es billig war, und sie sprachen über das Radfahren entlang der Dublin Bay an irgendeinem Sonntagmorgen, doch es war alles ziemlich unbeholfen. Er kam sich vor wie ein Mann, der vorgab, eine Freundin zu haben, öffnete und schloss die Tür seines Schrankes vor einer Reihe leerer Anzüge.

Eines Abends schleppte sie ihn ins Theater. Sie sagte, sie habe Freikarten, doch er glaubte ihr nicht recht, und sie saßen in der Dunkelheit und beobachteten zwei Typen, die auf der Bühne hin und her liefen, endlos, wie im Purgatorium: Es war, als sähen sie zu, wie Farbe trocknet.

»Ich glaubte, das könnte der Punkt sein«, sagte sie. Ihr Haar war braun, und sie trug flache Schuhe, da sie so groß war, und er war überzeugt, dass sie etwas Entzückendes hatte, etwas, das über ihn hinausreichte. Ihr langer Arm auf der Lehne zwischen ihnen, bar in der Dunkelheit.

Auf der Bühne wurde fortwährend getrunken. Eine Frau erschien, und sie alle sprachen über ein großes Gemälde, das an der hinteren Wand hing. Die Frau war wohl mit einem der Männer verheiratet, vögelte aber mit dem anderen, und der Ehemann schlug vor, Champagner zu trinken. Also sagten alle »Hoho«, und es dauerte eine Weile, bis sie feststellten, dass er den Korken nicht aus der Flasche herausbekam. Der Schauspieler drehte ihn und klemmte sich die Flasche zwischen die Knie, und sie bemerkten, dass er versuchte, nicht zu lachen – das ganze Theater bemerkte es. Er stand vor dem schrecklichen Gemälde, zog an dem Korken, und seine Stimme wurde schwächer und leichter, während ihm der Text ausging.

Die Frau, die eine Kräuterzigarette rauchte, sah zu ihm hinüber. Nach einem Moment erstaunlicher Stille schnappte er sich ein paar Gläser und tat so, als gieße er ein, der Korken immer noch in der Flasche. Die drei stießen schwach an. Sie taten so, als ob sie trinken würden, während sie Tränen vergossen.

»Ich möchte nur sagen«, hob der Ehemann an, bis er nur noch wimmerte. Nach einer längeren Pause versuchte er es erneut.

»Ich möchte nur sagen.« Darin ein hoher Misston, als winsele ein Hund. Die Schauspieler litten Qualen. Der andere Mann wandte sich ab. Die Frau beugte sich etwas vor und hielt sich an der Stuhllehne fest.

»Du lieber Himmel, das war lustig«, sagte er, als sie das Foyer erreichten.

»Ich weiß nicht, warum sie es Corpsing nennen«, sagte sie. »Aber das ist es. Es ist, als finge ein Leichnam zu reden an oder etwas in der Art.«

»Es war wirklich lustig«, sagte er.

»Allerdings, und niemand stirbt.«

»Nein«, antwortete er, sah sie an und erinnerte sich, wie das Lachen ihnen auf der Bühne den Text ausgelöscht hatte und auch ihm in der fünften Reihe, der plötzlich wusste, was Liebe ist, wusste, dass sie prächtig sein würde, und seine Hand ausstreckte, um ihren Arm zu berühren.

2.


Elaine träumte, das Baby könne sprechen. Sie träumte, das Baby spreche in Wirklichkeit mit ihr, ganz toll und lang; endlose Sätze voller großer Wörter und mit einer ausdrucksstarken und süßen Stimme. Das Baby war in der Tat sehr interessant. In dem Traum trugen alle Wollpullover, Glockenröcke und kniehohe Stiefel und saßen in einem Café, das aussah wie ein Gemälde eines Cafés der Siebzigerjahre im Dubliner Zentrum. Draußen durch den abgeschrägten Türrahmen konnte man die Straßenmusiker der Grafton Street hören. Drinnen bahnte sich etwas Schreckliches an, doch das Baby scherte es nicht.

Elaine erwachte mit Sodbrennen und dem Gefühl, ans Bett gefesselt zu sein, nicht nur wegen der Hitze, sondern wegen der Anziehungskraft des gesamten Planeten, der dieser Tage zwischen ihr und der Grafton Street zu liegen schien. Sie befand sich in einem Zimmer in Melbourne und das Baby in ihr, in diesem Zimmer in Melbourne. Jeden Morgen erwachte sie, und erst nach zwei Sekunden ging ihr auf, wo sie war, doch sie vergaß nie, dass sie schwanger war, nicht mal, während sie schlief. Und an diesem Morgen konnte sie sich wegen des massiven Gewichts der Welt unter ihr und dem Gewicht des Babys auf ihr nicht rühren. Sie tastete über das Laken nach Joe und stellte fest, dass er bereits aufgestanden war.

»Joe!«, rief sie. »Joe!«

Er kam zurück aus der Küche.

»Alles in Ordnung?« Wegen des Traumes musste sie weinen.

»Was ist los?«

Sie vermisste ihre Mutter. Vermisste sie wirklich. Und der Planet war groß.

»Nur«, sagte sie. »Man ist nicht weit weg, bis man ein Baby hat, dann ist man wirklich, wirklich weit weg.«

»Ich weiß«, sagte er. »Es sind aber doch viele Leute hier. Ich bin hier.«

Manchmal stand der Mond in Melbourne am Morgenhimmel, und Elaine konnte sich nicht erinnern, ob dies auch in Dublin so war oder ob der Mond dort nur nachts oder am Nachmittag sichtbar wurde. Es war, als hätte sie vergessen, in welche Richtung sich die Erde dreht. Sie legte ihre Hand auf den Bauch, als das Baby wie gerufen wach wurde und sich bewegte.

»Oh«, sagte sie.

»Was macht es da drin?«

»Es ist hungrig«, erklärte Elaine.

3.


Sie besuchte ihren Vater im Altenheim. Er saß aufrecht im Bett, mit einer Tasse Tee auf dem Servierwagen. Als Erstes fiel ihr auf, dass die Luft...

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