Unsere Welt neu denken - Eine Einladung

Unsere Welt neu denken - Eine Einladung

von: Maja Göpel

Ullstein, 2020

ISBN: 9783843723114

Sprache: Deutsch

160 Seiten, Download: 2491 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Unsere Welt neu denken - Eine Einladung



Eine Einladung


»Mitte des 20. Jahrhunderts erfahren die Menschen zum ersten Mal, wie ihr Planet aus dem All aussieht. Vielleicht werden künftige Historiker einmal zu der Einsicht gelangen, daß dieser Anblick unser Bewußtsein grundlegender veränderte, als es selbst der – das menschliche Denken zutiefst erschütternden – kopernikanischen Revolution des 16. Jahrhunderts durch das Verbannen der Erde aus dem Mittelpunkt der Welt gelungen war.«Aus dem »Brundtland-Bericht« der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung der Vereinten Nationen

London, Oktober 2019. In der morgendlichen Rushhour klettern zwei Männer auf das Dach einer U-Bahn, sodass diese den Bahnhof nicht mehr verlassen kann. Die Pendler*innen, die mit dem Zug zur Arbeit fahren wollen, stehen vor verschlossenen Waggons. Da die Aktion bald den ganzen Betrieb lahmlegt, wird es auf dem Bahnsteig enger und lauter. Während die Leute langsam verärgert realisieren, dass sie zu spät kommen werden, entrollen die Männer auf dem Zugdach ein Transparent, auf dem steht: »Business as usual = Death«, was so viel heißt wie: Weitermachen wie bisher bedeutet den Tod.

Im Fall der Pendler*innen hätte weitermachen wie bisher bedeutet, zur Arbeit zu gehen. In ein Büro etwa oder in eine Fabrik. Sich an einen Computer zu setzen, in eine Konferenz, an eine Maschine, etwas herzustellen oder in Auftrag zu geben. Umsatz und Gewinn zu steigern, zum Wachstum beizutragen, den eigenen Job, die eigene Existenz zu sichern. Um Miete zu zahlen, Kredite zu bedienen und den Kindern und sich etwas kaufen zu können. Kurz: weiterzumachen mit dem Leben, wie Sie, wie wir alle es kennen und gewohnt sind.

Was kann daran falsch, ja sogar tödlich sein?

Die beiden Männer, die an diesem Londoner Herbsttag auf dem Zug stehen, gehören zu einer Gruppe von Umweltaktivist*innen, die sich »Extinction Rebellion«1 nennt, was so viel bedeutet wie »Aufstand gegen das Aussterben«. Wobei das Aussterben, gegen das sie rebellieren, nicht bloß das der tierischen Arten meint, das wir in so rasant ansteigendem Ausmaß in Kauf nehmen. Es geht ihnen nicht nur um Wale, Bienen oder Eisbären. Nein, sie meinen ganz ohne Ironie das Aussterben der eigenen Art, der Menschheit. Also uns.

Verglichen mit Greta Thunberg – jenes Mädchen, das mit einem Schulstreik eine der größten Protestbewegungen in der Geschichte der Menschheit ausgelöst hat – sind die Mitglieder von Extinction Rebellion die zivil Ungehorsamen unter den Klima- und Umweltschützer*innen. Sie verlangen von der Politik zwar auch, dass sie endlich nachhaltig etwas gegen die Erderwärmung unternimmt, und unterbreiten dafür konkrete Vorschläge. Aber sie gehen nicht nur demonstrieren, sondern blockieren öffentliche Abläufe, oft in bunten Kostümen und mit der Grundregel, immer freundlich zu bleiben. An jenem Londoner Herbsttag sperren Hunderte Aktivist*innen Straßen, ketten sich an Brücken oder kleben sich in der Eingangshalle eines Flughafens fest. Sie wollten ohne Gewalt und für so viele Menschen wie möglich spürbar das unterbrechen, was sie für die wahre Ursache des Klimawandels und der ausufernden Zerstörung von Leben halten: unseren ganz normalen Alltag.

Für die Leute, die an diesem Morgen nicht in ihren Zug steigen können, ist das so schwer auszuhalten, dass sie die zwei Aktivisten mit Sandwichs und Getränken bewerfen. Als das nichts hilft, klettert einer der Pendler schließlich nach oben und zieht die Männer vom Dach auf den Bahnsteig hinunter, wo sie von der wütenden Menge verprügelt werden, noch bevor die Polizei eingreifen kann und sie schließlich festnimmt.

Bei dieser Konfrontation ging es nicht um ein nährendes Stück Brot, um einen Schluck sauberes Wasser, ein schützendes Dach über dem Kopf oder um den letzten Liter Benzin. Es ging nur um ein paar Minuten Verspätung auf dem Weg zur Arbeit. Die einen wollen die Welt retten, die anderen wollen ins Büro. Die einen wollen mit Gewohnheiten brechen, die anderen daran festhalten. Und obwohl man anerkennen muss, dass es beiden Gruppen im Kern um ihre Existenz und die ihrer Kinder geht, scheint das eine Anliegen das andere auszuschließen. Anscheinend muss der eine verlieren, damit der andere gewinnen kann. Es gibt nur entweder oder, nur »wir« oder »die«.

Sieht so die Zukunft in Zeiten des Klimawandels aus?

Wird das unser Leben, werden das unsere Kämpfe sein?

In unserer heutigen Welt kommen nahezu gleichzeitig überall Systeme unter Druck, die über Jahrzehnte verlässlich funktioniert zu haben scheinen und die Menschheit Tag für Tag und immer umfassender mit Energie, Nahrung, Medikamenten und Sicherheit versorgten. Sie prägten eine Epoche, in der es, grob gesagt, von allem immer mehr gab. Wohlstand, auch für die Armen. Fortschritt, in allen Bereichen von Wissenschaft und Technik. Frieden, auch zwischen Ländern, deren politische Systeme grundverschieden sind. Wenn alles immer mehr wird, fallen auch Verteilungsfragen nicht so stark ins Gewicht. Das Erstaunen darüber, dass diese Epoche einmal enden könnte, der Widerstand, den der bloße Gedanke daran auslöst, und die Ratlosigkeit, was danach kommen könnte, zeigen, wie sehr wir uns an diesen Zustand gewöhnt haben, für wie normal wir ihn halten. Was in der Generation unserer Eltern noch als Privileg galt, ist heute für die meisten Menschen Alltag.

Gleichzeitig spüren wir, dass ein »Weitermachen wie bisher« nicht funktionieren wird.

Es sind ja nicht nur der Klimawandel, das Plastik in den Weltmeeren, der brennende Regenwald oder die Massentierhaltung. Da sind auch die explodierenden Mieten in den Städten, die wild gewordenen Finanzmärkte, der immer größer werdende Graben zwischen Arm und Reich, zunehmende Burn-out-Zahlen und die unüberschaubaren, vielschichtigen Folgen der Gentechnik und der Digitalisierung. Längst hat sich ein Gefühl von Zeitenwechsel in unsere Wahrnehmung von der Welt eingeschlichen. Unsere Gegenwart wirkt zerbrechlich, während unsere Zukunft unaufhaltsam auf jene Szenarien zuzulaufen scheint, die wir aus Weltuntergangsfilmen kennen. Aus den von der Moderne so sehr geförderten Utopien sind Dystopien geworden. Aus unserem Vertrauen in die Zukunft Sorge und Angst. Was im kleineren Maßstab gute Lösungen und hohen Komfort versprach, ist, global aufsummiert, zur Bedrohung geworden. Wir ahnen, dass wir vor immensen Umwälzungen stehen: Das, was einmal sein wird, lässt sich mit dem, was gerade noch war, immer weniger erklären, Selbstverständlichkeiten und Patentrezepte lösen sich auf. Jede Antwort auf ein Problem scheint zugleich ein anderes zu verschlimmern. Und so nehmen auch die Auseinandersetzungen darum zu, welches Problem unter allen als Erstes zu lösen sei. Was aber, wenn wir Hebel fänden, mit denen wir mehrere Probleme gleichzeitig angehen könnten? Hebel, die zwar viele Gewissheiten infrage stellen, es uns aber erlauben, statt reaktiv eine schlechte Zukunft abzuwehren, proaktiv eine wünschenswerte Zukunft zu gestalten?

Solche Werkzeuge zu erkunden ist meine Einladung an Sie. Denn Zukunft ist nichts, was bloß vom Himmel fällt. Nichts, das einfach nur so passiert. Sie ist in vielen Teilen das Ergebnis unserer Entscheidungen.

Deshalb möchte ich Sie dazu einladen, die Welt, in der Sie, ich, wir alle leben, genauer anzuschauen, um das, was in ihr möglich ist, wieder neu zu denken. Das hat die Menschheit in ihrer Geschichte schon mehrfach getan, typischerweise in Krisenzeiten. Viele technologische Durchbrüche sind aus der Not heraus entstanden, eine Alternative zu finden. So wie jetzt die erneuerbaren Energien. Viele gesellschaftliche Umbrüche sind aus der Überzeugung entstanden, dass die Dinge sich doch auch anders gestalten lassen. Und siehe da: Frauen können wählen und Länder regieren.

Die heutigen Umwälzungen verfügen über eine Größenordnung, die nicht nur Teile, sondern die Ganzheit von Gesellschaften umfasst. Sie werden in der Wissenschaft als große Transformationen beschrieben und umfassen wirtschaftliche, politische, gesellschaftliche und kulturelle Prozesse – und damit meinen sie auch die Art und Weise, wie wir auf die Welt schauen. Beispielhaft werden hier gern die neolithische oder die – sehr viel später stattfindende – industrielle Revolution genannt. Im ersten Fall sind kleine, nomadische Gruppen sesshaft geworden und mit der Zeit zu feudalen Agrargesellschaften herangewachsen. Im zweiten Fall hat besonders die fossile Energienutzung eine ganz andere Organisation von Wirtschaft und Gesellschaft ermöglicht, Bürgertum und Nationalstaaten kamen ins Spiel.

Unsere heutige Welt unterscheidet sich fundamental von der Welt vor zweihundertfünfzig Jahren, als die industrielle Revolution begann. Und doch suchen wir heute vorwiegend mit der damaligen Sichtweise auf die Welt nach Lösungen. Wir haben vergessen, unsere Denkmuster auf ihre Tauglichkeit für die Gegenwart zu prüfen. Sie zu hinterfragen macht den Blick auf die Hebel frei, mit denen wir aus der Krise in die Zukunftsgestaltung im 21. Jahrhundert kommen.

Dieses Buch ist also kein Klimabuch. Es handelt nicht davon, um wie viel Grad die durchschnittliche Temperatur auf der Erde in den kommenden Jahren steigen und welche Folgen dies für das Leben auf unserem...

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