Erwachen

Erwachen

von: Nir Baram

Carl Hanser Verlag München, 2020

ISBN: 9783446266612

Sprache: Deutsch

384 Seiten, Download: 1941 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen


 

eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Erwachen



Er rollte sich auf dem breiten Bett hin und her und Schichten von Bettlaken wickelten sich um seine Schultern, Rippen, Knie, Fußsohlen, bis es nicht ein Glied zu geben schien, das sich, außer der Gesichtsmuskeln, bewegen ließ. Als er sein Gesicht betasten, sich dessen Berührung ins Gedächtnis rufen wollte, fand er im Wirrwarr der Stoffe die Hände nicht. Er blickte zu den schwarzen Vorhängen an den Fenstern, als wollte er wissen, ob gerade Tag oder Nacht sei, entsann sich, dass er über den Fußboden kriechende Splitter von Licht, zitternde vergoldete Streifen an der Wand, ein Flackern der Sonne, Autoscheinwerfer, Lichter von Türmen gesehen hatte. Auf dem Bett hatten sich Stifte, Hefte, eine Schüssel, zwei Kaffeetassen angesammelt, die Laken waren übersät mit Tintenklecksen, curryfarbenen Spritzern von Suppe, Speichel, Schokoladenkrümeln, und einige Flecken riefen ihm eine schwarzviolette Sauce eines Fleischgerichts in Erinnerung. Hin und wieder, bei einer der zahlreichen gewundenen Drehungen des Körpers, stieß er in einem Heft, auf einem alten Schwarz-Weiß-Foto, auf sein lächelndes Gesicht: Er blickte tiefernst direkt in die Kamera, wohingegen auf den Lippen sich die Rundung eines geheimnisvollen Lachens abzeichnete, das sich als verschlagen oder spöttisch deuten ließ. Die Gestalter der Programmvorschauen liebten dieses Foto, die darin steckende Kraft der Jugend, und sooft er erwogen hatte, ihnen ein aktuelles zu schicken, war er davon abgekommen; die meisten Menschen würden das Foto und nicht ihn zu sehen bekommen, und es wäre besser, dass in ihrem Bewusstsein der Mann mit dem bemerkenswert jungen Gesicht verankert wäre. Manchmal kam es ihm so vor, als würde dieses Foto bei ihm für Bodenhaftung sorgen, von der Kontinuität seines physischen Daseins zeugen, während sämtliche andere Gewissheiten sich in Luft auflösten.

Er wusste nicht, wie lange er schon hier war, wie viele Tage, an denen er vom Schlafen ins Erwachen und auf halbem Wege ins verhangene Nicht-Schlafen geglitten war, ohne, weder beim Träumen noch Wachen, etwas Klares wahrzunehmen. Mehrdeutige Gestalten und Ereignisse stießen gelegentlich ins Zentrum seines Bewusstseins vor, bewegten sich in alles umhüllendem strahlend weißem Glanz. Ihn überkam Hunger oder Durst oder Übelkeit, und das Ganze löste sich augenblicklich auf, als rotierte vor seinen Augen ein Riesenrad der Emotionen, und bei jeder Umdrehung, die es tat, beförderte es eine Emotion nach oben, die hell aufleuchtete und sich sogleich davonstahl, einen blassen Kondensstreifen hinter sich herziehend, der kurz darauf verschwand.

Das Festival war zu Ende und alle Gäste — Schriftsteller, Lektoren, Journalisten und Leute aus der Öffentlichkeitsarbeit — hatten das Hotel bereits verlassen, und sicherlich auch die Stadt. Bei Ereignissen dieser Art war Jonathan stets angespannt, wenn der Augenblick bevorstand, da der Wirbel im Vergehen war, und die Phasen dieser Auflösung verfolgte er auf Schritt und Tritt — die Leute verschwanden, und mit ihnen auch die Aushänge auf den Plätzen, die Absperrungen, die Lichter, die Freiwilligen, die Cocktail-Lounges oder Restaurants als pulsierendes Herz des Festivals. Alles leerte sich, und voilà! hatte man es mit einem Ort zu tun, den es gegeben hatte und den es nun nicht mehr gab. Zuweilen wunderte er sich, warum die anderen Schriftsteller den Abschied mit einer gewissen Seelenruhe hinnahmen, während er alle Orte aufsuchte, an denen das Festival getobt hatte, und um die verlorengegangenen Tage trauerte. Manchmal war ihm danach zumute, das Gefühl der Trauer mit einem anderen Gast zu teilen, aber er blieb immer unverstanden. Man tröstete ihn, es gäbe noch andere Festivals an anderen Orten oder dieses Festival in genau einem Jahr wieder, und man konnte seinen Kummer nicht nachvollziehen. Zwar erkannte er das Fortschreiten der Zeit an, die jedes Ereignis hinter sich lässt, aber gegen seinen Willen blieb ein Teil von ihm dort zurück, etwas scheinbar zu Ende Gegangenes lebte in seiner Seele fort.

Nun ließ er eine bestimmte Nacht Revue passieren, womöglich die letzte, bevor er bewusstlos ins Bett gefallen war. Er war bei jemandem zu Hause auf einer Party gewesen, und bei seinem Eintreffen hatten im Wohnzimmer vier ihm unbekannte Leute getanzt. Sie blickten ihn an und waren in seinen Augen schön. Eine Frau, die schwanger war, legte beim Tanzen eine Hand auf ihren Bauch und mit der anderen schwang sie eine elektrische Spielzeugkerze, deren rot-orangefarbene Flamme wie eine echte Flamme flackerte. Sie empfingen ihn warmherzig, allerdings ohne wirkliches Interesse.

Er trank einen Wodka und begab sich mit den Augen auf die Suche nach Carlos, der ihn zu der Party eingeladen hatte, er war erstaunt, dass keiner wissen wollte, wer er sei. Später setzte er sich auf den kalten Boden, und der Wind ließ seine Haut frösteln und er zurrte den roten Wollschal fester um den Hals und starrte auf die bunte Lichterkette, die von der Decke herabhing, und auf eine herumflatternde Motte; er mochte eingenickt sein, darüber hinaus hatte er keine Erinnerung an die Wohnung.

Dann stand er in einem brechend vollen Club, im Hintergrund lief einheimische Musik in fröhlich-trägem Rhythmus, und wie alle besorgte er sich am Tresen eine große Flasche Tequila und trank mitten auf der Tanzfläche daraus, Männer wie Frauen steuerten auf ihn zu und nahmen ihm die Flasche aus der Hand, gönnten sich einige Schlucke und reichten sie an andere weiter, später gab ihm einer die Flasche zurück. Dann überkam ihn ein dumpfer Schmerz in den Knien und im Rücken — schon ein Jahr plagt ihn dieser Schmerz zusammen mit einem periodisch auftretenden Zittern in den Rippen, und erst kürzlich, zum ersten Mal in seinem Leben, war er sich der Anstrengung bewusst geworden, die es kostete, um vom Stehen ins Liegen oder Sitzen zu gelangen. Täglich stellten sich bisher unbekannte neue Beschwerden ein und erweckten manchmal bei ihm den Eindruck, als würde er in seinen Körper ein Auge entsenden, das Leber, Herz, Lungen, Nieren, grau wie Zigarettenrauch, überprüfte, die sich in Krämpfen wanden. 

Eine junge schwarzhaarige Frau nahm ihm die Flasche aus der Hand, und spielerisch führte sie die feuchten Finger auf seine Stirn. Dann goss sie ein wenig Tequila in die hohle Hand und er schloss die Augen und trank aus ihrer Hand, sie legte einen feuchten Finger auf seine Zunge, und er schloss die Lippen, leckte den Tequila und kostete ihre Haut, da lächelte sie und presste sich an ihn, befreite ihren Finger und führte ihn an sein Gesicht, er legte eine Hand auf ihren Oberschenkel und für einen Augenblick tanzten sie zusammen und er roch Parfüm, Sand und Ketchup, aber als er die Augen öffnete, war sie mit der Flasche schon weitergezogen. Seine Verfassung war mit einem Schlag besser geworden. Vielleicht war er aus dem Schlummer erwacht und begeistert, dass er nun hier war, bei vollem Bewusstsein und mit allen Sinnen, seine Atemzüge tat, nicht zusammengebrochen war, wie er befürchtet hatte, sondern am Leben festhielt und die Wärme der Menschen um ihn, die in ihnen verborgenen Möglichkeiten wahrnehmen konnte. Vielleicht lässt Berührung Einsamkeit verfliegen und alles Übrige ist Unfug, ging es ihm durch den Kopf, und seine Augen wandten sich den Frauen zu, ihren Gesichtern und Brüsten und nackten Beinen, dem Schweiß ihrer Körper, der die glatten Schultern glänzen ließ, der Unbeschwertheit ihrer Bewegungen beim Tanzen und ihren Händen, die durch die Luft glitten, über ihre Hüften strichen, ihre Brüste umschlangen. Er hielt nach der jungen Frau Ausschau, die zuvor mit ihm getanzt hatte, vielleicht stellte er sich nur vor, dass sie barfuß gewesen war.

Er hatte das Bedürfnis, sich an dieser Nacht zu laben, und drängte sich unter die Leute, eilte an die Bar, kaufte eine weitere große Flasche, trank und erneut verschwand die Flasche. Dann blieb Carlos neben ihm stehen, sie traten hinaus auf den Hof, um eine kleine Theke standen Leute und stopften Würstchen in sich hinein. Er roch Senf und Ketchup, und Carlos, der über eine Ermittlung sprach, die er für eine Regierungsorganisation leitete, über Studenten, die verschwunden waren, reichte ihm ein winziges Fläschchen und ein Taschenmesser. Vorsichtig schüttete Jonathan ein wenig Pulver auf die silberne Klinge, näherte sie seiner Nase, sog das Pulver ein und zog gleich darauf eine dickere Line, die er ebenfalls hastig einsog, und als er Carlos das Fläschchen zurückgab, bedauerte er, nicht noch eine gezogen zu haben. Danach wurde das Gedränge um ihn dichter und er wurde hierhin und dahin geschubst, Carlos war ihm abhandengekommen und ebenso die Gesichter, an die er sich aus der Wohnung erinnerte.

Eine junge mollige Frau mit Brille umarmte ihn — sie kam ihm von einem früheren Moment dieses Abends oder Festivals bekannt vor — und sagte, dass es ihr sehr...

Kategorien

Service

Info/Kontakt