Das Evangelium der Aale

Das Evangelium der Aale

von: Patrik Svensson

Carl Hanser Verlag München, 2020

ISBN: 9783446266827

Sprache: Deutsch

256 Seiten, Download: 2129 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Das Evangelium der Aale



Der Aal


Mit der Geburt des Aals ist es so: Sie findet im nordwestlichen Teil des Atlantiks statt, der als Sargassosee bezeichnet wird; ein Ort, der für die Entstehung des Aals in jeder Hinsicht geeignet ist. Denn die Sargassosee ist eher ein Meer im Meer als ein abgegrenztes Seegebiet. Wo sie beginnt und endet, ist nicht absehbar, unsere gewohnten Kriterien zur Vermessung der Welt lassen sich hier nicht anwenden. Sie liegt nordöstlich von Kuba und den Bahamas und östlich der nordamerikanischen Küste, gleichzeitig ist sie ständig in Bewegung. Mit der Sargassosee verhält es sich ähnlich wie mit einem Traum: Man kann nicht genau sagen, wann man eintaucht und wann man wieder hinausgleitet, man weiß nur, dass man drin gewesen ist.

Dieser flüchtige Charakter ergibt sich daraus, dass die Sargassosee ein Meer ohne Küsten und Inseln ist. Sie wird in allen Richtungen von mächtigen Strömungen begrenzt: im Westen vom lebenspendenden Golfstrom, im Norden von dessen Verlängerung, dem Nordatlantikstrom, im Osten vom Kanarenstrom und im Süden vom Nordäquatorialstrom. Fünf Millionen Quadratkilometer groß, bewegt sich die Sargassosee wie ein langsamer warmer Wirbel innerhalb dieses geschlossenen Kreislaufs. Was hereinkommt, gelangt nicht immer ganz leicht wieder hinaus.

Das Wasser ist tiefblau und klar und an manchen Stellen bis zu siebentausend Meter tief. An der Oberfläche treiben riesige Teppiche aus klebrigen Braunalgen, die man Sargassum oder Golftang nennt. Sie haben dem Meeresgebiet seinen Namen gegeben. Bis zu mehrere Tausend Meter lange Geflechte aus dicken Algenranken bedecken die Wasseroberfläche, schenken Leben und bieten zahlreichen Kreaturen Schutz: kleinen wirbellosen Tieren, Fischen, Quallen, Schildkröten, Garnelen und Krabben. In der Tiefe wachsen weitere Sorten Seegras und andere Pflanzen. Ein wogendes Leben im Dunkeln, wie ein Wald bei Nacht.

Hier entsteht der europäische Aal, Anguilla anguilla. Hier laichen im Frühling die ausgewachsenen Aale ab, hier legen und befruchten sie ihre Eier. Hier entsteht im Schutz tiefster Dunkelheit ein kleines, larvenartiges Wesen mit einem lächerlich winzigen Kopf und nur unzureichend ausgeprägten Augen, Leptocephalus-Larve genannt. Es sieht aus wie ein Weidenblatt, ist flach und so gut wie durchsichtig und nur wenige Millimeter lang. Das ist das erste Stadium des Aals.

Dieses durchsichtige Weidenblatt begibt sich sofort auf die Reise. Vom Golfstrom geleitet, schwimmt es Tausende von Kilometern über den Atlantik, bis es die europäischen Küsten erreicht. Es ist eine Reise, die bis zu drei Jahren dauern kann, und während dieser Zeit wächst die Larve Millimeter für Millimeter. An der europäischen Küste angelangt, durchläuft sie ihre erste Metamorphose und verwandelt sich in einen Glasaal. Das ist das zweite Stadium des Aals.

Glasaale sind, wie ihre vorherige Erscheinungsform, die Weidenblattlarven, beinahe vollkommen durchsichtige Geschöpfe, sechs oder sieben Zentimeter lang, schmal, beweglich und transparent, als könnten sich weder Farbe noch Sünde in ihren Körpern festsetzen. Laut der Autorin und Meeresbiologin Rachel Carson sehen sie aus wie »kaum fingerlange, bewegliche Glasrütchen«. Sie sind zerbrechlich und allem Anschein nach völlig schutzlos und gelten, zum Beispiel bei den Basken, als Delikatesse.

Von den europäischen Küsten wandern die meisten Glasaale die Zuläufe des Meeres hinauf und passen sich unmittelbar an das Süßwasser an. Eine weitere Metamorphose findet statt, der Glasaal wird zum Gelbaal. Sein Körper wird schlangenhaft und muskulös, seine Augen dunkel mit einem markanten schwarzen Punkt in der Mitte. Die Kiefer werden breit und kräftig. Seine Kiemenöffnungen sind klein und fast vollständig verborgen. Dünne weiche Flossen ziehen sich über die gesamte Ober- und Unterseite. Seine Haut färbt sich in Braun-, Gelb und Grautönen und bildet Schuppen, die so klein und weich sind, dass man sie weder sehen noch fühlen kann, eine Art imaginärer Rüstung. War der Glasaal empfindlich und zerbrechlich, so ist der Gelbaal stark und zäh. Das ist das dritte Stadium des Aals.

Der Gelbaal wandert weiter Flüsse und Bäche hinauf. Durch flache und zugewachsene Wasserläufe kann er sich ebenso gut bewegen wie durch reißende Ströme. Er durchschwimmt trübe Binnenseen und träge Flüsse, wilde Fluten und warme kleine Teiche. Bei Bedarf kann er auch durch Sümpfe und Gräben gleiten. Von äußeren Verhältnissen lässt er sich nicht aufhalten; wenn es gar keinen anderen Ausweg gibt, schlängelt er sich über Stunden durch feuchtes Gras und Unterholz, bis er das nächste Gewässer erreicht. So gesehen ist der Aal ein Fisch, der die Voraussetzungen des Fischseins überschreitet. Vielleicht weiß er nicht einmal, dass er ein Fisch ist.

So legt der Gelbaal Hunderte von Kilometern zurück, unermüdlich und unter den widrigsten Bedingungen, bis er plötzlich entscheidet, dass er angekommen ist. An sein neues Zuhause stellt er keine hohen Ansprüche, er passt sich dem herrschenden Milieu einfach an. Dies kann ein Bach, Teich oder Binnensee mit schlammigem Boden sein, gerne darf es auch Steine und Löcher geben, damit er sich verstecken kann, sowie natürlich ausreichend Nahrung. Wenn er erst einmal ein Zuhause gefunden hat, bleibt der Gelbaal dort jahrein, jahraus und bewegt sich normalerweise nur innerhalb eines Radius von ein paar Hundert Metern. Sollte es ihn durch äußere Einwirkung doch einmal woandershin verschlagen, kehrt er so schnell wie möglich an seinen selbst gewählten Standort zurück. Aale, die im Rahmen eines Experiments eingefangen, mit Sendern versehen und mehrere Kilometer vom Fangplatz entfernt wieder freigelassen wurden, fanden innerhalb von nur einer Woche genau an den Ort zurück, wo man sie aus dem Wasser gezogen hatte. Niemand weiß, wie sie das bewerkstelligen.

Der Gelbaal ist ein Einzelgänger. Sein aktives Leben verbringt er normalerweise allein und mit der jeweiligen Jahreszeit angepassten Aktivitäten. Wenn es kalt wird, liegt er zuweilen über einen längeren Zeitraum passiv im Bodenschlamm, umschlungen von anderen Aalen, wie ein hastig aufgewickeltes Knäuel.

Auf die Jagd geht der Gelbaal vorwiegend nachts. Sobald es dämmert, löst er sich aus dem Schlamm und beginnt mit der Futtersuche. Er frisst, was ihm in die Quere kommt, Würmer, Larven, Frösche, Schnecken, Insekten, Krebse, Fische; wenn es sich ergibt, auch kleine Mäuse oder Vogeljunge. Auch Aas verschmäht er nicht.

So verbringt der Aal einen Großteil seines Lebens in gelbbrauner Gestalt, wechselnd zwischen Aktivität und Passivität. Außer der Suche nach Futter und Schutz geht er dabei keiner gerichteten Tätigkeit nach. Als wäre das Leben in erster Linie ein Wartezustand und als fände sich dessen Sinn immer mal wieder zwischendurch oder in einer abstrakten Zukunft, die nicht anders erreicht werden kann als durch Geduld.

Und es ist ein langes Leben. Ein Aal, der weder krank wird noch sich verletzt, kann bis zu fünfzig Jahre an ein und demselben Ort verbringen. Es gibt schwedische Aale, die in Gefangenschaft nachweislich über achtzig wurden. Mythen und Legenden berichten sogar von Exemplaren, die weit über hundert Jahre erreichten. Wenn einem Aal die Erfüllung seines Lebenssinns, also die Fortpflanzung, versagt wird, scheint er beinahe beliebig alt werden zu können, als könne er ewig warten.

In der Wildnis lebende Aale jedoch beschließen zu einem bestimmten Zeitpunkt, sich fortzupflanzen, normalerweise im Alter zwischen fünfzehn und dreißig Jahren. Woher diese Entscheidung kommt, wissen wir nicht, aber wenn sie erst einmal gefallen ist, endet die wartende Existenz des Aals unmittelbar, und sein Leben nimmt einen völlig neuen Charakter an. Der Aal beginnt seine Wanderung zum Meer und durchläuft gleichzeitig seine letzte Metamorphose. Das trübe, undefinierbare Gelbbraune verschwindet, seine Nuancen werden klarer und schärfer, der Rücken färbt sich schwarz, die Seiten werden silbrig mit markanten Linien, als wolle die neue Zielstrebigkeit in seiner ganzen Erscheinung zum Ausdruck kommen. Der Gelbaal wird zum Blankaal. Das ist sein viertes Stadium.

Kommt dann der Herbst mit schützender Dunkelheit, zieht der Blankaal in den Atlantik hinaus und weiter Richtung Sargassosee. Wie durch einen bewussten Akt passt sich sein Körper den Reisebedingungen vollkommen an. Die Flossen werden länger und kräftiger, damit er schneller schwimmen kann, seine Augen werden größer und blau, damit er in den dunklen Tiefen des Meeres besser sehen kann, sein Verdauungssystem funktioniert nicht mehr, der Magen löst sich auf, und er deckt seinen Energiebedarf fortan aus ...

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