Soziale Phobie und Soziale Angststörung

Soziale Phobie und Soziale Angststörung

von: Ulrich Stangier, Thomas Fydrich

Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2002

ISBN: 9783840914638

Sprache: Deutsch

425 Seiten, Download: 1922 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

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Soziale Phobie und Soziale Angststörung



Risikofaktoren in der Kindheit für Soziale Phobien im Erwachsenenalter (S. 246-247)

Jens B. Asendorpf

Gibt es Risikofaktoren in der Kindheit, also im Alter von etwa 2 bis 12 Jahren, für die Entwicklung Sozialer Phobien im Erwachsenenalter? Dieses Kapitel gibt eine Übersicht über die klinische, aber auch die nichtklinische persönlichkeits- und entwicklungspsychologische Literatur zu diesem Thema. Dies liegt zum einen am Verfasser, der sich aus persönlichkeits- und entwicklungspsychologischer Perspektive mit der Entwicklung von leichter Schüchternheit bis hin zu subklinischer sozialer Ängstlichkeit vom Kindesalter bis zum jungen Erwachsenenalter befasst hat (z. B. Asendorpf, 1989a,b; 1990; 1993; 1998), zum anderen aber auch am Thema selbst, denn die meisten psychischen Störungen im Erwachsenenalter entwickeln sich auf dem Hintergrund von nichtklinischen Risikofaktoren in der Persönlichkeit und den sozialen Beziehungen, die in die Kindheit zurückreichen.

Ich habe mich auf Risiken für Soziale Phobien beschränkt, weil sie vergleichsweise gut und mit relativ klaren Ergebnissen empirisch untersucht wurden. Andere angstbezogene Störungen werden nur dann thematisiert, wenn es um die Frage geht, ob identifizierte Risikofaktoren für Soziale Phobien spezifisch sind oder ob sie auch auf andere Angststörungen zutreffen. Diese Einschränkung im Inhalt erlaubt es, die vorliegenden Ergebnisse relativ umfassend zu diskutieren und ihre methodenbedingte Begrenztheit deutlich zu machen.

Nicht zuletzt möchte ich Lesern vermitteln, dass die Befunde über Beziehungen zwischen Kindheitsrisiken und Erwachsenenstörung nur auf einen vergleichsweise schwachen Zusammenhang hinweisen. Dabei ist dieser geringe Zusammenhang keinesfalls Ausdruck unzureichender Forschung, sondern ein Hinweis auf die enorme Plastizität der menschlichen Entwicklung und soll eine Warnung vor vereinfachenden Pseudotheorien über die Entwicklung psychischer Störungen sein, wie sie in den Grauzonen der empirischen Psychologie und in den subjektiven Überzeugungen vieler Laien und auch vieler Klinischen Psychologen und Psychotherapeuten anzutreffen sind.

1 Retrodiktion von Risiken und Prädiktion von Störungen

Zwischen einer Störung im Erwachsenenalter und ihren potenziellen Risikofaktoren in der Kindheit liegen viele Jahre. Methodisch gesehen hat das den großen Vorteil, dass die Kausalitätsrichtung der stets korrelativen Zusammenhänge – die Risikofaktoren oder die Störungen werden ja nicht experimentell variiert – klarer als in den üblichen Querschnittsstudien ist: Späteres kann Früheres nicht beeinflusst haben. Also haben die untersuchten Risikofaktoren die Störung beeinflusst und nicht umgekehrt – oder Risikofaktoren und Störung beruhen auf einer gemeinsamen, nicht beobachteten, noch früheren Variable, und die Risikofaktoren haben direkt-kausal nichts mit der Störung zu tun.

Letzteres wird meist übersehen. Weiter unten wird ein solcher Fall am Beispiel des Zusammenhangs zwischen Erziehungsstil der Eltern und Sozialer Phobie des Kindes skizziert. Der zeitliche Abstand zwischen Risikofaktoren und Störung lässt sich auf zwei unterschiedlichen Wegen überbrücken. In Retrodiktionsstudien werden Erwachsene mit der Störung nach potenziellen Risikofaktoren befragt; manchmal werden auch Erinnerungen von Angehörigen hinzugezogen.

Das Hauptproblem dieser Methode sind verzerrte Erinnerungen aufgrund der Störung und subjektiver Theorien über die Störungsursachen. So liegt es z. B. nahe, dass erwachsene Sozialphobiker besonders sensibilisiert auf angsterregende soziale Situationen sind, diese deshalb in der Gegenwart und vor allem in der weniger kognitiv zugänglichen Vergangenheit überschätzen und sich schon wegen dieses Erinnerungseffekts als überdurchschnittlich ängstlich in der Kindheit schildern. Auch Angehörige unterliegen entsprechenden, allerdings wohl nicht so starken Erinnerungsverzerrungen. Diese Erinnerungsverzerrungen betreffen nicht nur symptomverwandte Situationen und Reaktionen, sondern auch alle Kindheitsfaktoren, die nach Laienauffassung mögliche Bedingungen für die Entwicklung einer psychischen Störung sind. Ganz allgemein gilt, dass Erwachsene ihre Kindheit in Form einer möglichst stimmigen Geschichte erzählen, in die nicht nur Erinnerungen an Erlebtes, sondern auch Laientheorien über dessen Ursachen einfließen (Ross, 1989).

Diese Verzerrungen der eigenen Entwicklung und ihrer Bedingungen durch subjektive Theorien können sehr stark sein, nicht nur weil lange Vergangenes ohnehin schlecht rekonstruierbar ist (der kognitive Aspekt), sondern vor allem weil so Bedürfnisse nach Kontinuität der Persönlichkeit und Rechtfertigung eigenen Versagens befriedigt werden können (der motivationale Aspekt). Ein zusätzliches Problem entsteht in den besonders häufigen Fällen einer Retrodiktion anhand von Patientengruppen in Behandlung. Diese sind zwar leicht zugänglich, aber meist nicht repräsentativ für die gesamte Bevölkerungsgruppe mit der Störung, weil Menschen mit leichteren Formen der Störung z.T. gar nicht erst in Behandlung kommen. Dies führt meist zu einer Überschätzung der Risiken, weil sie oft stärker für stärker gestörte Patienten sind.

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