Autobahn - Ein Jahr zwischen Mythos und Alptraum

Autobahn - Ein Jahr zwischen Mythos und Alptraum

von: Michael Kröchert

Tropen, 2020

ISBN: 9783608116076

Sprache: Deutsch

248 Seiten, Download: 12194 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Autobahn - Ein Jahr zwischen Mythos und Alptraum



2

Einsatz mit der Autobahnpolizei


A10 / A2
Michendorf, Potsdam, Berlin, Raststätte Buckautal


Es war kalt und dunkel. Baustellenabsperrungen und provisorisch aufgestellte Schilder bildeten ein unübersichtliches Gewirr, große Sand- und Erdhügel versperrten den Blick. An ihren Rändern sammelte sich Müll. Der Wind fegte immer neuen dorthin. Niemand nahm ihn fort.

Ich parkte mein Auto vor dem flachen, winzig anmutenden Autobahnpolizeirevier. Es sah aus wie die Station eines Sheriffs irgendwo in der Prärie. Nichts deutete darauf hin, dass Berlins Zentrum nur vierzig Kilometer entfernt lag. Genauso wenig Anzeichen gab es dafür, dass Weihnachten war.

Auf mein Klingeln hin öffnete ein Polizist und verlangte meinen Ausweis. Er war unzufrieden damit, dass ich nur einen Reisepass vorzeigte. Aber davon, dass die Berliner Behörden es nicht hinbekamen, ihren Bürgern Termine zur Ausstellung eines Personalausweises zu geben, hatte er schon gehört. In der Regel lächelten Brandenburger, wenn man schlecht über Berlin sprach.

»Meldebestätigung haben Sie dabei?«

Er verschwand und ließ mich allein in dem hell erleuchteten, viereckigen Eingangsbereich zurück. Die beiden bodentiefen Fenster waren vergittert, und es gab keinen einzigen Gegenstand, der nicht niet- und nagelfest war.

Entgegen der deutlichen Aufforderung des Polizisten, mich zu setzen – er hatte auf den zweiten Hocker von links gezeigt, auch der war im Boden verankert –, blieb ich stehen.

An der Wand hingen Fahndungsplakate: Mörder gesucht, Vergewaltigung, bewaffneter Raub. Durch eine halb geöffnete Tür sah ich einige Uniformierte um einen großen Tisch herum sitzen. Sie schienen bester Laune.

»Fröhliche Weihnachten!«, der Dienstgruppenleiter kam auf mich zu. Herr Roeske. Wir waren verabredet, er wusste Bescheid.

»Viel los wird heute Nacht nicht sein. Aber man weiß nie.« Er sah mich eindringlich an und erzählte von einem Wildunfall mit einer Toten, heute früh. Ich hatte das Gefühl, dass er mich mit dieser Nachricht auf etwas vorbereiten, vielleicht erschrecken wollte.

Eine große blonde Frau stellte sich breitbeinig vor mich. Frau Kürten, Polizeihauptmeisterin. Fester, trockener Händedruck. Neben ihr Kommissar Moosbauer, hellbraune Haare, jungenhaftes Gesicht, auch er gab mir die Hand. Die Uniformen der beiden Polzisten waren dunkelblau, allerlei Utensilien hingen an ihren Gürteln. Auch Waffen. Ich war überrascht, als sie mir ihr Alter verrieten. Sie war 26, er erst 22 Jahre alt. Beide wirkten älter und reifer. Sie teilten mir mit, dass ich eine Warnweste anzuziehen habe und draußen vor der Wache auf sie warten solle. Herr Roeske schien zufrieden mit dem Auftritt seiner Untergebenen. Er wünschte eine ruhige Nacht.

Draußen zog ich meine Mütze tief ins Gesicht und beobachtete den im Wind flatternden Müll. Überall waren aufgerissene Wege, halb fertige Lärmschutzwände und Absperrungen. Die Autobahn und die gesamte Raststätte Michendorf wurden bei laufendem Betrieb umgebaut. Vier Jahre sollte es dauern, bis die A10 auf acht Spuren ausgebaut sein würde. Undenkbar, die Autobahn, die Raststätte und das Polizeirevier solange zu sperren. Und je länger ich vor dem Revier wartete, desto stärker wurde das Gefühl, an einem Ort ohne Ordnung zu sein, einem Ort im Umbruch, an dem das Verbrechen ideal ansetzen, Blüten treiben und gedeihen konnte. Ich spürte, wie sich meine Schultern anspannten. Vereinzelt schossen Autos hinter der Leitplanke vorbei. Ihre Scheinwerfer fluteten die Straße kurzzeitig mit grellem Licht. Dann versank sie wieder in der Dunkelheit.

Endlich hielt der Einsatzwagen neben mir, ein weißer VW-Bus mit reflektierenden Aufschriften und blaugelben Streifen. Frau Kürten saß am Steuer, Herr Moosbauer auf dem Beifahrersitz, ich setzte mich nach hinten. Wir fuhren los.

Ja, heute früh sei eine Frau gestorben, Wildunfall, bestätigten sie mir. Auf der Internetseite der Berliner Zeitung hieß es:

Eine 46 Jahre alte Autofahrerin ist an Heiligabend bei einem Wildunfall ums Leben gekommen. Wie die Polizei in Potsdam mitteilte, war sie am Montagmorgen mit ihrem Wagen auf der Autobahn 10 zwischen Potsdam-Nord und Berlin-Spandau gegen ein Wildtier gefahren. Das Fahrzeug überschlug sich daraufhin. Die schwer verletzte Frau starb den Angaben zufolge wenig später trotz Reanimation im Krankenhaus.

Ich dachte an Herrn Roeskes forschenden Blick. Natürlich hoffte ich, dass in dieser Nacht etwas passierte, darauf war ich als Reporter angewiesen. Zugleich wünschte ich, dass niemandem auch nur das geringste Leid geschah. Das war der Zwiespalt, mit dem ich leben musste.

Nach vier Kilometern, hinter dem Dreieck Werder, ging die A10 in die A2 über. Dies war eine der wichtigsten Ost-West-Verbindungen Europas. Jetzt war sie verwaist. Die Menschen saßen neben dem Weihnachtsbaum, hatten die Kinder ins Bett gebracht, tranken Wein oder Sekt, unterhielten sich oder begutachteten ihre Geschenke.

Frau Kürten steuerte den ersten Parkplatz an. Ein sogenannter Rastplatz mit WC.

Sie verlangsamte die Fahrt, und ich merkte, wie die beiden sich konzentrierten, um alles, was vor sich ging, sofort richtig einschätzen zu können. Die Anspannung übertrug sich auf mich. Es wurde still im Wagen. Langsam rollten wir über den Parkplatz. Da standen Autos. Ein paar Transporter. Da waren die dunklen Gänge zwischen den Lastwagen.

Wir wendeten kurz vor der Auffahrt zur Autobahn, fuhren erneut über den Parkplatz, diesmal kreuz und quer. Wieder blickten wir in die Schluchten zwischen den Lkw. Dort seien sie tätig, die Diesel- und Frachtdiebe, die Lkw-Planen mit Teppichmessern aufschlitzten, erklärte mir Herr Moosbauer mit gedämpfter Stimme und kniff die Augen zusammen. Wie ein Jäger auf der Pirsch suchte er die Schatten ab. Jeden Augenblick bereit zuzugreifen.

Zurück auf der Autobahn. Frau Kürten fuhr mit hundertzwanzig auf der rechten Spur und erzählte. »Zu Dienstbeginn bekommen wir sowohl unseren Dienstwagen, als auch den entsprechenden Streifenbereich zugeteilt. Der variiert von Schicht zu Schicht. Bei der Autobahnpolizei gibt es fast ausschließlich Zwölf-Stunden-Schichten. Diese beginnen entweder um 6 oder um 18 Uhr. Wir bearbeiten eingehende Notrufe und fahren Streife in dem uns zugeteilten Bereich. Hierbei werden verdächtige Fahrzeuge kontrolliert.«

Herr Moosbauer fügte hinzu: »Autobahnpolizist zu sein, erfordert großes Spezialwissen.« Er sah zu Frau Kürten. »Verkehrsrechtliches Spezialwissen«, präzisierte er. »Das beginnt beim Fahrpersonalrecht und reicht bis zu technischem Wissen in Bezug auf Lkw. Man muss sich mit Großraum- und Schwertransporten auskennen, man muss auch alle Dokumente kennen. Aus vielen verschiedenen Ländern.«

»Die Arbeit kommt zu uns, wir müssen sie uns nicht suchen.«

Frau Kürten erklärte, dass es sehr viele Verstöße gäbe, zum Beispiel defekte Beleuchtung oder nicht ausreichend gesicherte Ladung. Und viele Fahrer telefonierten während der Fahrt. Heute hatten sie jemanden in einem VW Golf erwischt, der auf seinem Handy gespielt hatte. »Direkt neben uns.«

»Handy am Steuer kostet hundert Euro und einen Punkt in Flensburg«, sagte Herr Moosbauer. »Bei Gefährdung des Straßenverkehrs sind es hundertfünfzig Euro, zwei Punkte und ein Monat Fahrverbot, bei einem Unfall 200 Euro, zwei Punkte und ein Monat Fahrverbot. Dazu können noch dreißig Euro Bearbeitungsgebühren kommen.« Er schaute mich ernst an.

Frau Kürten berichtete von ihrem Polnischkurs, den sie besuchte, weil die meisten Lkw-Fahrer in ihrem Revier Polen seien. Englisch sprächen sie oft nicht. Aber irgendwie verstünde man sich schon; mit Skizzen, mit Google, oder eben mit einem Dolmetscher. Mit deutschen Lkw-Fahrern hätten sie fast gar nicht mehr zu tun.

Ich guckte aus dem Seitenfenster und sah einen Mann in einem anderen Auto, der starr geradeaus schaute. Die Hände fest um das Lenkrad. Ein Bild von großer Einsamkeit. Ich nahm mein Handy und schaute, ob meine Frau auf meine Nachricht reagiert hatte. Sie war nicht erfreut gewesen über meinen Plan, Heiligabend unterwegs zu sein. Sie hatte nicht reagiert.

Wieder ein Parkplatz. Rietzer See. Wieder die Pirsch. Wieder spürte ich ihre Konzentration, so als würden sie sich verwandeln, sich straffen, sich öffnen.

Früher habe man einen Verdacht gebraucht, um ein Fahrzeug kontrollieren zu dürfen, sagte Frau Kürten, aber dann habe...

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