Glasflügel - Ein Kopenhagen-Thriller

Glasflügel - Ein Kopenhagen-Thriller

von: Katrine Engberg

Diogenes, 2020

ISBN: 9783257609998

Sprache: Deutsch

423 Seiten, Download: 968 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Glasflügel - Ein Kopenhagen-Thriller



Montag, 9. Oktober


Sechs Tage zuvor

1


»Typisch!«

Frederik wischte sich den Regen von der Stirn und setzte die Mütze wieder auf. Er zog die Kapuze des Regencapes darüber, kontrollierte, ob die Satteltaschen seines Fahrrads geschlossen waren, und fuhr los. Das Aufstehen fiel ihm zwar jeden Morgen schwer, wenn der Wecker um 05:15 Uhr klingelte, aber an manchen Tagen war es schlimmer als sonst. Und bei diesem heftigen Regen wusste er nicht mehr so genau, warum er den Job als Zeitungsbote jemals angenommen hatte. Sechs Tage in der Woche, fünfzehn Wohnungen in der Kopenhagener Innenstadt, sechshundertzwanzig Treppenstufen. Leider war es die einzige Möglichkeit, um sich die Klassenfahrt leisten zu können, an der er unbedingt teilnehmen wollte.

Das Verteilzentrum der Zeitung verschwand hinter ihm in der Dunkelheit. Das Telefon in seiner Tasche pumpte ihm Musik in die Ohren, er trat energisch in die Pedale. I got my black shirt on, I got my black gloves on. Es war schon cool, die belebteste Einkaufsstraße der Stadt ganz für sich zu haben. Er fuhr die Strøget hinunter, bis sich Gammeltorv und Nytorv vor ihm öffneten. Sorgfältig renovierte, mehrstöckige Gebäude mit Sprossenfenstern und Dachrinnen aus Kupfer, die bei diesem Herbstregen überflossen, ein paar spärliche Bäume, Bänke, auf denen Abfall herumlag, und dunkelgrüne Bauzäune. Die sandfarbenen Säulen des Kopenhagener Stadtgerichts leuchteten in der morgendlichen Dunkelheit wie mahnend erhobene Zeigefinger über die uralten Kellerkneipen des Platzes.

Frederik sprang vom Rad und lehnte es an den Springbrunnen mitten auf dem Platz. Er zog die Ohrhörer heraus und kontrollierte noch einmal, ob das Geld für eine warme Zimtschnecke in seiner Jackentasche steckte. Dann warf er einen Blick auf den Brunnen, auf dessen Wasseroberfläche die Regentropfen in der Dunkelheit zerplatzten.

Irgendetwas lag im Wasser.

Es lag oft etwas im Wasser. Die Straßenkehrer holten täglich Bierdosen, Plastiktüten und unerklärlicherweise auch einzelne Schuhe aus dem Brunnenbecken.

Aber das hier war kein Schuh.

Frederik taumelte. Im ältesten Springbrunnen Kopenhagens schwamm drei Meter von ihm entfernt ein Mensch, mit dem Gesicht nach unten und zur Seite ausgestreckten Armen. Der Regen prasselte mit einem unschuldigen Geräusch auf den nackten Rücken, die Tropfen spritzten wie Hunderte kleiner selbständiger Springbrunnen in die Höhe.

Frederik war wie gelähmt. Es fühlte sich an wie in einem Alptraum. Dann schrie er: »Hilfe! Hallo, da liegt jemand im Wasser!«

Er wusste, dass er eigentlich in den Brunnen steigen, den Körper umdrehen und Erste Hilfe leisten müsste. Doch der warme Urin, der seinen Schenkel hinunterlief, bewies nur, dass er nicht in der Lage war, auch nur irgendetwas zu tun.

Frederik blickte noch einmal auf den Körper im Wasser. Diesmal wurde ihm erst wirklich klar, was er sah. Er hatte noch nie einen toten Menschen gesehen.

Mit zitternden Knien lief er zum Kiosk an der Ecke. Die automatische Tür öffnete sich, eine blonde Verkäuferin trug summend ein Tablett mit ofenwarmem Gebäck in Richtung Theke, und der Duft von Zimtbutter stieg ihm in die Nase. Von seiner Mütze tropf‌te es ihm in die Augen. Frederik wischte sich mit dem Handrücken Regenwasser und Tränen aus dem Gesicht und schluchzte: »Helfen Sie mir! Schnell, rufen Sie die Polizei, verdammt noch mal!«

Die Verkäuferin sah ihn mit großen Augen an. Dann ließ sie das Tablett mit den Zimtschnecken los und griff zum Telefon.

*

Der Himmel über Kopenhagen hatte seine Schleusen geöffnet. Die Konturen der Ziegeldächer verwischten, die Umrisse der Stadt verschwammen. Es goss wie aus Kübeln auf das alte Kopfsteinpflaster des Gammeltorv.

Polizeiassistent Jeppe Kørner kniff die Augen zusammen und wagte einen Blick nach oben. Dass es aufriss, war kaum zu erwarten. Vielleicht ging die Welt ja tatsächlich unter, und die Ozeane eroberten das Land. Er fuhr sich mit der nassen Hand übers Gesicht, unterdrückte ein Gähnen und bückte sich, um unter dem Absperrband hindurchzukriechen. Wasser drang in seine Sneakers, es schwappte bei jedem Schritt.

Durch den Regenschleier sah er in Schutzanzüge gekleidete Silhouetten, die um den Springbrunnen Zelte aufstellten. Dieselben Pavillons, die auch für Gartenfeste vermietet werden – in der Hoffnung, sie dann doch nicht zu brauchen. Jeppe suchte unter dem nächsten Zelt Schutz und schaute auf die Uhr. Es war kurz nach sieben, über der Wolkendecke ging vermutlich gerade die Sonne auf. Im Grunde war es egal. Dieser Tag würde ohnehin nur Grautöne zu bieten haben.

Im Springbrunnen vor ihm lag ein nackter Körper, der von den Arbeitslampen der Kriminaltechniker beleuchtet wurde. Jeppe beobachtete die Szenerie, während er einen Schutzanzug über seine feuchte Kleidung zog. Die Leiche lag mit dem Gesicht im Wasser wie ein Schnorchler im Meer. Der Körper einer Frau, soweit er es aufgrund von Schultern und Rücken beurteilen konnte, nackt, mittleren Alters. Graumeliertes dunkles Haar, zwischen den nassen Locken schimmerte die Kopfhaut.

»Wusstest du, dass dies der Caritasbrunnen ist?«

Jeppe drehte sich um. Hinter ihm stand Kriminaltechniker Clausen, das Gesicht von einer Kapuze umrahmt. In seinem blauen Schutzanzug sah er aus wie ein Astronaut.

»Du wirst lachen, Clausen, aber die Antwort ist nein. Noch nie gehört.«

»Caritas ist Lateinisch und bedeutet Barmherzigkeit. Deshalb ist die Figur oben auf dem Brunnen auch eine schwangere Frau. Der Inbegriff der Nächstenliebe.« Clausen rieb den Regen aus den buschigen Augenbrauen und wischte sich die Hände ab.

»Mich interessiert eher, weshalb im Becken eine Leiche schwimmt.« Jeppe wies mit dem Kopf auf den Brunnen. »Was haben wir?«

Clausen sah sich um und griff nach einem Regenschirm, der an einer der Zeltstangen lehnte. Er spannte ihn auf und trat einen vorsichtigen Schritt ins Freie.

»Scheißwetter, unmögliche Arbeitsbedingungen. Komm!«

Jeppe musste den Kopf einziehen, um seinen schlaksigen Körper der Schirmhöhe des untersetzten Clausen anzupassen. Sie blieben am Rand des Brunnens stehen und betrachteten die Leiche. Im Wasser sah die weiße Haut aus wie aus Marmor. Ein Polizeifotograf versuchte, brauchbare Winkel zu finden und gleichzeitig seine Kamera vor dem Regen zu schützen.

»Die Gerichtsmediziner müssen sie natürlich erst einmal herausholen und obduzieren, bevor wir etwas sagen können. Aber es ist eine Frau, kaukasischer Typ, mittelgroß, ich würde sagen, so um die fünfzig.« Ein Windstoß erfasste die Leiche, so dass sie mit dem Kopf gegen den Beckenrand stieß.

»Sie wurde um fünf Uhr vierzig von einem Zeitungsboten gefunden. Der Anruf bei der Alarmzentrale kam zwei Minuten später von dem Kiosk dort an der Ecke. Keine Ahnung, warum man sie noch nicht aus dem Wasser geholt hat. Der Zeitungsjunge und die Verkäuferin sitzen im Kiosk und warten auf ihre Vernehmung. Die Kioskverkäuferin kam um fünf und ist ganz sicher, dass zu diesem Zeitpunkt nichts im Wasser lag, also muss das Verbrechen heute Morgen zwischen fünf und zwanzig vor sechs stattgefunden haben.«

»Du meinst, das hier ist der Tatort?« Jeppe schlug die Kapuze zurück, um den Platz besser überblicken zu können. »Ist sie deiner Meinung nach mitten auf der Strøget ermordet worden?«

Clausen wandte sich Jeppe zu und hielt dabei seinen Regenschirm schräg, so dass Jeppe im Regen stand.

»Entschuldige, Kørner, so was Blödes! Bist du nass geworden? – Nein, ich habe mich ungenau ausgedrückt. Hier ist sie aller Wahrscheinlichkeit nach nicht ermordet worden. Aus mehreren Gründen.«

»Es wäre zu riskant …« Jeppe versuchte, die Tropfen zu ignorieren, die ihm den Nacken hinunterliefen.

»Richtig, das Risiko, dass jemand vorbeikäme, wäre zu groß. Dass es überhaupt jemand gewagt hat, eine Leiche in den Brunnen des Gammeltorv zu werfen, ist doch kaum zu fassen.« Clausen schüttelte den Kopf. »Aber nicht nur deshalb. Siehst du an den Armen die kleinen Schnitte in der Haut? Die sind nicht so leicht zu erkennen, weil sie im Wasser liegt.«

Jeppe kniff die Augen zusammen und versuchte, trotz des Regens etwas zu erkennen. Direkt an der Wasseroberfläche zeigten sich an den Handgelenken kleine parallele Schnitte in einem symmetrischen Muster. Klaffende Wunden im weißlichen Fleisch. Jeppe hatte das Bild eines verwesenden Wals am Strand vor Augen und versuchte, sein Unbehagen zu verdrängen.

»Aber es ist kein Blut im Wasser?«

»Genau!« Clausen nickte anerkennend. »Sie muss heftig geblutet haben, und doch gibt es keinerlei Blutspuren, weder im Wasser noch am Brunnen. Das hätte der Regen nicht alles wegwaschen können. Hier ist sie nicht gestorben.«

Jeppe ließ seinen Blick über die alten Hausfassaden schweifen. »Hier gibt’s ’ne Menge Überwachungskameras. Wenn der Täter die Leiche in den Brunnen geworfen hat, muss es Aufnahmen davon geben.«

»Wenn?« Clausen klang verärgert. »Sie hat sich bestimmt nicht selbst so zugerichtet und ist dann in den Brunnen gehüpft.«

»Womit wurden ihr die Schnitte beigebracht?«

»Das kann ich noch nicht sagen. Erst muss Nyboe sie auf den Tisch kriegen.« Clausen sprach von Professor Nyboe, dem Pathologen, der bei Mordfällen normalerweise die Obduktion vornahm. »Aber wie auch immer, die Mordwaffe befindet sich nicht hier auf dem Platz. Die Hunde haben eine halbe Stunde gesucht, ohne etwas zu finden. Von ihrer Kleidung auch keine...

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