Wie wir uns lange Zeit nicht küssten, als ABBA berühmt wurde

Wie wir uns lange Zeit nicht küssten, als ABBA berühmt wurde

von: Andreas Heidtmann

Steidl Verlag, 2020

ISBN: 9783958297388

Sprache: Deutsch

280 Seiten, Download: 631 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Wie wir uns lange Zeit nicht küssten, als ABBA berühmt wurde



Kirmes


Es kümmerte uns nicht, dass wir zu früh waren, um mit dem Autoscooter zu fahren. Auch die Sonne an diesem Freitagnachmittag kümmerte uns nicht oder irgendeine der Kirmesbuden, die gerade ihre Läden aufstießen. Die Wagen standen wie eine Verheißung am Rand der blanken Metallfläche und wussten noch nichts vom Trubel, der sie erwartete. Und von Susanna und mir. Vielleicht träumten sie in ihrer unangetasteten Ordnung von zurückliegenden Kirmestagen. Wer nichts Besseres zu tun hatte, trieb sich auf dem Schotterplatz herum, einige rauchten, offen oder heimlich. Man kannte sich, so wie jeder im Ort jeden kannte, was nicht hieß, dass jeder mit jedem sprach. Im Gegenteil, es war besser, mit den meisten nicht zu sprechen.

Wir saßen da, Susanna und ich, saßen auf dem schmalen Geländer und schauten auf die Wagen, die mir überaus friedlich erschienen, wie für die Ewigkeit hingestellt unter den noch dunklen Lichterketten. Verzerrt sahen wir uns in den verspiegelten Stützen. Die Junisonne wärmte unsere Rücken. Wir klemmten unsere Füße unter die Holme des Geländers. Langweilten uns, was aufregend war und mir wie eine besondere Form der Vertrautheit zwischen uns vorkam. Susanna zeigte auf einen der metallicfarbenen Wagen, dessen Lack in der Sonne aufschien, und sagte: Mit dem will ich fahren!

Ich schaute mich um – irgendwo stapelte jemand Getränkekisten, die klirrend aneinanderstießen – und zog meine Camelschachtel hervor. Natürlich rauchte Susanna nicht, sie war dreizehneinhalb, ein Jahr jünger als ich, und lebte gesund, aß Obst, trank Mineralwasser und begann ihren Morgen mit gymnastischen Übungen. Glaubte ich. Ich inhalierte den Rauch meiner Zigarette, meine Gesundheit war mir egal. Die Camelwerbung klang idiotisch, schon der Spruch des Helden, der nach langem Fußmarsch durch Dschungel oder Steppe seine Füße hochlegte: Ich geh’ meilenweit für eine Camel Filter. Die staubigen Sohlen waren durchgelaufen. Zur Entspannung, so das unverzichtbare Ritual, zündete er sich eine Camel an. Wer Camel rauchte, durfte man annehmen, wollte weg, wollte sich als souveräner Bezwinger der Welt fühlen. Für die daheimgebliebenen Väter hingegen, sofern sie noch rauchten, hatte man das HB-Männchen erfunden, eine Zeichentrickfigur, die ihnen verblüffend ähnelte und so lange von einem Missgeschick ins nächste schlitterte, bis sie rot anlief und eine Stimme aus dem Off mahnte: Wer wird denn gleich in die Luft gehen? Greife lieber zur HB.

Wenn wir mit dem roten Wagen fahren wollen, sagte ich, der zugegebenermaßen der schönste ist, haben wir ein Problem.

Susanna hob ihre fein gezeichneten Brauen und schaute mich an, was nichts anderes hieß als: Und das wäre?

Ich blies den Rauch an ihr vorbei in Richtung des Wagens, der weit hinten stand, zugeparkt, so dass es einige Songs dauern konnte, bis der Weg für ihn frei würde.

Aber er ist der schönste, sagte sie.

Ich stellte mir von Zeit zu Zeit vor, wie ich etwas Eindrucksvolles, etwas Großartiges zu ihr sagte, wie zum Beispiel jetzt über ihr Äußeres, dass sie umwerfend aussehe und dass dahingehend bei einem Wagen von Schönheit gar keine Rede sein könne. Es mangelte nicht an Einfällen, wenn sie auch meist zum falschen Zeitpunkt kamen. Eher mangelte es an der Kunst, sie auszusprechen, am Ton oder – Camel hin oder her – der alles ermöglichenden Lockerheit. Im Innern bauschte sich etwas auf, das den Worten, die mir vorschwebten, ihre Selbstverständlichkeit nahm. Alles in der Welt hätte ich für die Unerschütterlichkeit des durch nichts zu bezwingenden Camelhelden gegeben. Das Klügste wäre gewesen, auf einem fernen Kontinent die Füße hochzulegen und die armselige Idylle Lippfelds hinter sich zu lassen. Einschließlich der Erhabenheit seines Schotterplatzes und seiner trostlosen Kirmes darauf.

Am gläsernen Kassenhäuschen, das wir beide im Blick hatten, war ein hagerer Mensch mit leuchtendem Stirnband aufgetaucht, in der Hand eine Schachtel mit Plastikchips. Das aufgekrempelte Hemd gab die tätowierten Unterarme frei. Zwischen seinen Lippen hing eine Zigarette, deren Rauchschleier dicht vor seinem Gesicht aufstieg. Aus der Entfernung hätte man ihn, mit oder ohne Rauchschleier, für Keith Richards halten können.

Irgendwie erinnert er mich an Keith Richards, sagte ich zu Susanna, und im selben Moment ging überraschenderweise die Musik an, brach regelrecht über uns herein und gab mit dröhnender Wucht dem bislang so beschaulichen Nachmittag eine verheißungsvollere Wendung. Waterloo. Also ABBA. Also alles andere als Keith Richards. Aber hier und jetzt effektvoll, denn als wäre mit den ersten Tönen ein unsichtbarer Magnet im Zentrum der Scooterhalle wirksam geworden, drehten sich alle, die bislang planlos herumgestanden hatten, erwartungsvoll her.

Scheiß ABBA, sagte ich. Susannas rechter Fuß hatte im Takt zu wippen begonnen. Unvorstellbar, zu den pompösen Klängen in einen der Wagen zu steigen und unter den endlosen Wiederholungen des Waterloo-Refrains dahinzugleiten.

Dass ABBA beim Grand Prix Eurovision de la Chanson mit Waterloo triumphiert hatte, konnte nur Schockstarre hervorrufen oder ein lautes Lachen, in das irgendwann alle einstimmten. Mein in diesem Sommer bester Freund Mick war entsetzt und zog die zweite Variante vor. Mein Bruder Paul, der Soziologie studierte und alles analytisch betrachtete, erklärte uns, die Gruppe sei nicht authentisch, sondern eine Erfindung für Kleinbürger mit Plüschgarnitur und zu viel Ohrschmalz in den Gehörgängen.

Ich fand die Einschätzung scharfsinnig und so einleuchtend, dass ich sie gern wiederholte, wenn jemand ABBA erwähnte. Zwei glattgebügelte Paare in glitzernden Kostümen auf Plateausohlen, sagte mein Bruder, der zukünftige Soziologe. So was von peinlich, riefen wir im Chor. Es war Verrat – jedenfalls für uns, die wir Jimi Hendrix hörten, die Stones, John Lennon, Janis Joplin, Deep Purple und allenfalls noch etwas Glam Rock duldeten. Was anderes sollten wir tun, als uns eine Camel anstecken, den Fernseher aus dem Fenster schmeißen, Pink Floyd auflegen und uns schwören, nie so affig zu grinsen, nie eine so schnulzige Show hinzulegen und nie in so schauriger Kostümierung aufzutreten? Und als wir das alles gesagt hatten, fühlten wir uns wieder besser. Doch ABBA war schwer im Kommen in diesem Sommer und sorgte jetzt, am späten Nachtmittag, für Stimmung unter den Leuten, ein Hauch von Disco war plötzlich in der Luft, als hätte jemand unvermittelt die Gemütslage von gelangweilt auf elektrisiert gestellt.

Weißt du, sagte ich zu Susanna, ABBA ist eine Erfindung für Kleinbürger mit Plüschgarnitur und zu viel Ohrschmalz in den Gehörgängen.

Ihre Stirn, eben noch makellos glatt, bekam Falten. Wahrscheinlich fehlte ihr jemand, der Soziologie im vierten Semester studierte oder ihr aus dicken Taschenbüchern die Welt erklärte. Unverändert wippte ihr rechter Fuß zur Musik. Sie trug weiße Socken, was ich bei alledem ungeheuer verführerisch fand. Da sich ihre Jeans etwas hochgeschoben hatte, sah man den gerippten Abschluss der Socke und die fast ebenso weiße Haut darüber. Nur ein paar Zentimeter Blöße bis zum Ansatz der Wade. Alles sehr zierlich, so dass man Lust bekam, das Fußgelenk zu umfassen oder die Stelle zu berühren, wo der Knöchel prägnant hervorstand. Wäre dieser mich bremsende Mechanismus nicht gewesen, hätte ich todsicher gesagt: Du hast den schönsten Fußknöchel der Welt. Womm! Hin und wieder war es hilfreich, nicht kundzutun, was einem durch den Kopf ging. Irgendwie war jedes Gefühl am Ende unangebracht. Man musste es nur mit dem Abstand von ein paar Tagen oder Stunden betrachten, manchmal reichten auch Minuten.

Der Himmel schob ein paar dunklere Wolken heran, als wollte er damit der Lightshow des Autoscooters einen wirkungsvolleren Hintergrund verschaffen. Irgendwie war es plötzlich aufregend, auch wenn es ABBA-Rhythmen waren, auch wenn es Lippfelds Dorfplatz war, aber der Magnetismus wirkte unvermindert fort, und inzwischen standen Gruppen von Leuten da, und jeder, der vorher noch als hinterwäldlerischer Dörfler allenfalls Mitleid hätte erwarten dürfen, war jetzt, da er zu den stampfenden Bässen, den glamourösen ABBA-Harmonien und der Lightshow an der verspiegelten Säule lehnte, ein Held, ein verwegener Star, ein welterfahrener, begehrenswerter und geheimnisvoller Typ. Es war Zauberei. Es war Illusion. Wie auch immer. Ich blies den Rauch meiner Camel in die vibrierende Luft und zählte vergewissernd die Markstücke in meiner Tasche. Es war nicht viel, was ich an Münzen ertastete, doch ich hoffte, es würde reichen, um Susannas Wunsch zu erfüllen.

Auf dem Weg zum Kassenhäuschen dachte ich daran, den Satz mit dem Fußknöchel ins Tagebuch zu schreiben. Es war ein Spleen, alles, was mir wichtig schien, darin festzuhalten. Und jedes Mal, wenn ich etwas notierte, hatte ich das Gefühl, es sei etwas Außergewöhnliches und gewänne dadurch, dass ich es notierte, eine über den Tag hinausreichende Bedeutung. Allerdings wäre mein Tagebuch ohne Susanna ein weitgehend leeres Heft geblieben. Bei Bedarf konnte ich nachschlagen, wann wir uns wo getroffen hatten oder wann wir uns wo geküsst hätten, wenn wir uns jemals geküsst hätten. Ich hätte jederzeit nachlesen können, dass ich glaubte oder mir einbildete oder es für gut möglich hielt, dass ich sie liebte, und dass ich mich fragte, ob sie mich liebte oder glaubte, mich zu lieben, oder es für gut möglich hielt, dass sie mich liebte.

Ich strich die drei Fahrchips ein, die ich für mein Geld bekam, und hob meine Hand, als ich Kai Hendricksen sah. Er war zwei Jahre älter und wohnte...

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