Und auf einmal diese Stille - Die Oral History des 11. September

Und auf einmal diese Stille - Die Oral History des 11. September

von: Garrett M. Graff

Suhrkamp, 2020

ISBN: 9783518766538

Sprache: Deutsch

541 Seiten, Download: 5005 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

geeignet für: geeignet für alle DRM-fähigen eReader geeignet für alle DRM-fähigen eReader Apple iPad, Android Tablet PC's Apple iPod touch, iPhone und Android Smartphones Online-Lesen


 

eBook anfordern

Mehr zum Inhalt

Und auf einmal diese Stille - Die Oral History des 11. September



»Gute Tage und schlechte Tage«


Der 10. September


/////// Der 10. September, ein Montag, begann in New York mit der Wiedereinweihung einer Feuerwehrwache in der Bronx, in der die Besatzungen der Fahrzeugeinheiten Engine 73 und Ladder 42 stationiert sind. Bürgermeister Rudolph »Rudy« Giuliani und die beiden Spitzen der New Yorker Feuerwehr (FDNY), Fire Commissioner Thomas Von Essen und Chief of Department Peter Ganci, lauschten der Predigt, die Father Mychal Judge, der Kaplan der New Yorker Feuerwehr, zur Einweihung der frisch renovierten Wache hielt.

Father Mychal Judge, Kaplan, FDNY: Gute Tage und schlechte Tage. Tage des Hochgefühls. Tage der Niedergeschlagenheit. Traurige Tage. Glückliche Tage. Aber niemals gibt es einen langweiligen Tag in diesem Beruf. Ihr tut, wozu Gott euch gerufen hat. Ihr erscheint zum Einsatz. Ihr setzt einen Fuß vor den anderen. Ihr setzt euch in eure Fahrzeuge und ihr geht raus und ihr erledigt den Job. Der ein Mysterium ist. Und eine Überraschung. Ihr wisst nicht, was euch erwartet, wenn ihr eure Plätze auf diesen Fahrzeugen einnehmt. Egal wie groß die Aufgabe. Egal wie klein. Ihr wisst nicht, zu welcher Aufgabe Gott euch ruft. Aber er braucht euch. Er braucht mich. Er braucht uns alle.

/////// Im ganzen Land war dieser Montag ein normaler Arbeitstag. Es war der Beginn der Herbstsaison, die erste volle Woche nach Labor Day. Und für viele Gemeinden war es der erste Schultag nach der Sommerflaute im August. Die Reporter und die Nachrichtensprecher marschierten zurück in ihre Büros, ebenso die Regierungsbeamten und Geschäftsleute. Die Städte erwachten wieder zum Leben. Viele erwarteten einen trägen Start in die Saison.

TOM BROKAW, Nachrichtenmoderator; NBC News:Ich war fast den ganzen Sommer über weg gewesen. Ein Freund rief an, um mich zu fragen, wie es so wäre, wieder zurück bei der Arbeit zu sein. Ich antwortete: »Mir geht's gut, aber es gibt eigentlich keine News. Es fällt schwer, wieder richtig loszulegen.« Der Herbst sah nicht besonders vielversprechend aus. Das heiß diskutierte Thema war die Reform der Sozialversicherung. Die Wirtschaft befand sich im Abschwung.

MARY MATALIN, Beraterin von Vizepräsident Dick Cheney: Es herrschte so ein Gefühl von »Okay, wieder an die Arbeit.« Wir hatten zu der Zeit wirtschaftliche Probleme, standen am Beginn einer Rezession.

MATTHEW WAXMAN, Mitarbeiter, Nationaler Sicherheitsrat, Weißes Haus: Das war ganz klar eine Regierung, die an Großmachtpolitik interessiert war. Ein Hauptteil der Bemühungen konzentrierte sich auf amerikanisch-russische Waffenkontrollen und auf die Frage, wie man zusammen mit seinen strategischen Partnern dem aufstrebenden China begegnen sollte. Das waren die zentralen Themen. Zwei potentielle Krisenherde, die wir in dieser Woche mit Sorge beobachteten, waren Burundi und Mazedonien.

MONICA O'LEARY, Cantor Fitzgerald, Nordturm, 105. Stock: Ich wurde am Nachmittag des 10. September – ich vermute, es war so gegen 14:00 Uhr – entlassen. An den genauen Zeitpunkt kann ich mich nicht mehr erinnern, aber ich weiß noch, dass ich dachte, Oh, dann kann ich ja rechtzeitig zuhause sein, um »General Hospital« zu schauen. Als ich entlassen wurde, war ich gerade auf der 105. Etage. Ich war aufgebracht. Ich heulte. Als ich mich schließlich beruhigt hatte, stellte mich die Frau von der Personalabteilung vor die Wahl: »Möchten Sie zurück an Ihren Schreibtisch gehen und Ihre Sachen einpacken oder möchten Sie lieber nach Hause gehen?« Ich sagte: »Oh, nein, nein, nein. Ich möchte mich noch von allen verabschieden.« Ich machte die Runde und verabschiedete mich von jedem mit einem Küsschen. Die Kollegen waren alle toll. Dieser eine Typ, Joe Sacerdote, stand ganz hinten im Büro auf und brüllte, »Die verlieren hier etwas, nicht du, Monica!« 

LYZBETH GLICK, Ehefrau von Jeremy Glick, Passagier an Bord von United Flight 93:Ich war zu der Zeit im Mutterschutzurlaub von meiner Lehrtätigkeit am Berkley, einem Wirtschafts-College in New York. An diesem Montagmorgen, dem 10. September, half mir Jeremy dabei, Sachen ins Auto zu packen – er musste geschäftlich nach Kalifornien reisen und war auf einen Flug am Abend gebucht. Wir leben in Hewitt, New Jersey, und ich wollte während seiner Abwesenheit zum Haus meiner Eltern in den Catskill Mountains fahren. Er half mir beim Packen und fuhr dann runter nach Newark zu einer Besprechung. So gegen fünf Uhr nachmittags rief er mich an und sagte, dass es am Flughafen Newark ein Feuer gegeben habe und dass er keine Lust hätte, um zwei Uhr nachts in Kalifornien anzukommen. Er entschied sich also, nach Hause zu fahren und die Nacht in Ruhe zu schlafen, um dann den ersten Flug am Dienstagmorgen zu nehmen.

/////// Vanessa Lawrence und Monika Bravo waren zwei von insgesamt fünfzehn Künstlerinnen und Künstlern, die im Rahmen des »Studio Scape«-Programms des Lower Manhattan Cultural Council als Artists-in-Residence im 91. und 92. Stockwerk vom Nordturm des World Trade Center arbeiteten. Geplant war, dass der Aufenthalt von Mai bis Oktober 2001 dauern sollte. Beide Künstlerinnen ließen sich von den Türmen inspirieren und hatten damit begonnen, sie in ihre Arbeit einfließen zu lassen.

VANESSA LAWRENCE, Künstlerin, Nordturm, 91. Stock: Weil ich in einer Souterrainwohnung lebte und aus dem Fenster immer nur die Füße der Passanten sehen konnte, fand ich die Vorstellung fantastisch, mit einem Blick aus einer derartigen Höhe zu malen. Von dort könnte ich die unterschiedlichsten Wetterveränderungen beobachten, die wechselnden Farben am Himmel, die sich verändernden Lichtverhältnisse.

MONIKA BRAVO, Künstlerin, Nordturm, 91. Stock: Ich hatte mich beworben, weil ich Filmaufnahmen machen wollte. Ich hatte dieses Bild im Kopf – oben die Twin Towers und darunter nur Wolken. Ich stamme aus Kolumbien, und was ich am meisten von dort vermisste, waren die Wolken und die Berge. Wir haben das ganze Jahr über viele Wolken, und für mich bedeuten sie so etwas wie Heimat.

VANESSA LAWRENCE: Ich liebte diese Skyline. Jeden Morgen wenn man reinkam, gab es etwas Besonderes zu sehen. Und auch am Abend, wenn die Lichter angingen, einfach nur die Lichter in den Wolkenkratzern zu sehen. Es war wirklich eine ganz besondere Aussicht.

MONIKA BRAVO: Den ganzen Sommer über habe ich allen Leuten erzählt: »Wenn ihr etwas kommen seht – einen Sturm –, sagt mir Bescheid. Ich halte immer eine Kamera bereit.« Am Nachmittag des 10. September, ein paar Minuten vor 15:00 Uhr, war es dann so weit, ein Sturm zog auf.

VANESSA LAWRENCE: Ich habe mir meine Aquarellfarben geschnappt, als ich den Sturm herannahen sah. Es war überwältigend, man konnte ihn schon weit draußen sehen, wenn man Richtung Brooklyn und bis zum Horizont schaute. Ich kann mich an eine dunkle Wolke erinnern, die bis zum Boden reichte, und an die ganzen Farben darin. Das ist eines meiner Lieblingsbilder, die ich gemalt habe.

MONIKA BRAVO: Ich habe angefangen zu filmen. Der Sturm kam von New Jersey rüber Richtung Süden, über die Verrazzano-Brücke und die Freiheitsstatue. Man sieht, wie schnell sich diese Wolken bewegen – und dann gibt es einen Moment im Film, der echt unglaublich ist. Man sieht einen einzelnen Tropfen auf das Fenster schlagen, und eine Sekunde später prasselt es nur so aufs Glas. Der Sturm ist da. Man ist mittendrin.

VANESSA LAWRENCE: Wir sahen ihn kommen, kommen, kommen, kommen und dann – nichts. Wir steckten mitten in dieser dicken Wolke und im Regen.

MONIKA BRAVO: Das Video ist ein Zeugnis der letzten Menschen, der letzten Nacht, bevor diese Türme aufgehört haben zu existieren und mit ihnen jede Person und alles, was darinnen war. Man sieht, wie Leute in den Südturm zur Arbeit kommen. Man sieht die Leute leben. Man sieht die Boote auf dem Wasser...

Kategorien

Service

Info/Kontakt