Das dunkle Paradies - Die Entdeckung der Tiefsee

Das dunkle Paradies - Die Entdeckung der Tiefsee

von: Antje Boetius, Henning Boëtius

C. Bertelsmann, 2011

ISBN: 9783641557744

Sprache: Deutsch

464 Seiten, Download: 10880 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

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Das dunkle Paradies - Die Entdeckung der Tiefsee



HENNING BOETIUS – DER SYNERGETISCHE BLICK (NACHWORT) (S. 429-430)

(16. August 2011 Berlin)

Ich bin auf einer Nordseeinsel aufgewachsen. Nachts hörte man vom Bett aus die Wellen. Mein Schulweg führte am Strand entlang. Der Horizont war die Kante eines Spiegels, in dem sich der Himmel im Meer betrachtete. Es gab zweierlei Sterne: Seesterne und Sehsterne. Die einen strahlten im Wasser, die anderen am nächtlichen Himmel, der ein riesiges Planetarium war, dessen schwarze Kuppel sich über der Insel wölbte. Ich baute mir ein Teleskop und ein Mikroskop, um mehr von diesen Rätseln zu verstehen. Kinder sind kleine Leonardos. Ihre umfassende Neugier ist noch in keine Bahnen gelenkt. Sie haben den komprehensiven Blick. Erst später wird er ihnen ausgetrieben und durch die Scheuklappen des Spezialistentums ersetzt.

Mein Ziel damals war es, ein großer Physiker zu werden. Meine Karriere war durch Stipendien gesichert. Ich spannte ein gutes Pferd vor meine Lebenskutsche, indem ich jeden Tag Einstein las. Doch da fiel mir ein Dichter in die Zügel: Lautréamont. Die Gesänge des Maldoror. Vorbei war es mit der Reise ins Spezialistentum. Ich wechselte den Kurs von den Naturwissenschaften zu den Geisteswissenschaften. Das war ein Fehler. Denn die Geisteswissenschaften hatten weniger mit Geist zu tun als die Naturwissenschaften mit Natur. Längst hatte ich die Insel verlassen. Aber das Meeresrauschen blieb als ein ewiger Tinnitus meiner Sehnsucht. In meiner Studentenbude klebte ich blaue Plastikfolie vors Fenster und simulierte so eine weite Wasserfläche.

Meine Ferien verbrachte ich als Besucher am wirklichen Meer. Einmal zog ich eine Schiffermütze aus dem Wasser. Sie passte mir. Ich trug sie, als ich meine Doktorarbeit über den Antispezialisten Hans Henny Jahnn, den trunkenen Meerdichter, Orgelbauer und Hormonforscher vor der blauen Folie schrieb. Irgendwann war ich gezwungen, einen besonders einsamen Gipfel des Spezialistentums zu erklimmen. Ich wurde Editionsfachmann. Beim Archivieren der Lyrik von Clemens Brentano wurde mir bald die Absurdität dieser Tätigkeit klar: Ich trocknete Blumen, und sie verloren dabei logischerweise ihren Duft. Ich litt.

Darum wurde ich Schriftsteller. Ich wollte lernen, wenigstens den Duft beschreiben zu können. Wissenschaftler sind notgedrungen hochspezialisiert. Sie brauchen den Durchblick, um mit den Konkurrenten mithalten zu können. Die Gefahr dabei: Sie verlieren häufig den Überblick. Mit möglicherweise fatalen Folgen, wie die Entwicklung der Atombombe gezeigt hat. Als Schriftsteller braucht man einen eher schweifenden Blick. Schreibe ich einen historischen Roman, muss ich mich um den Zeitgeist einer vergangenen Epoche kümmern, um ihre politischen Verhältnisse, ihre Moden, ihre Ideologien. Verfasse ich einen Krimi, muss ich mich um andere Spezialgebiete kümmern, um Forensik, Waffenkunde, Kriminalistik, Psychologie.

Versuche ich mich an einem Liebesroman, muss ich mich um die eigenen Erfahrungen kümmern. Oder um Insektenkunde, weil womöglich Ameisen eine erotische Situation unterlaufen könnten. Schriftsteller sind also notgedrungen unspezialisierte Grenzgänger. Sie sitzen oft zwischen den Stühlen. Zwischen den Stühlen kann man eigentlich nicht sitzen. Es ist sinnvoller, zu liegen oder zu stehen. Schön wäre es natürlich, man könnte aus beiden Stühlen ein Sofa machen oder wenigstens eine kleine Bank. Populärwissenschaftliche Bücher, die Fachwissen aus einer hochspezialisierten Welt fischen und so präparieren, dass neugierige Laienleser nicht abgeschreckt werden, können so etwas wie eine solche kleine Sitzbank sein, auf der es sich einigermaßen bequem und gemütlich lesen lässt.

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