Alle Hunde sterben

Alle Hunde sterben

von: Cemile Sahin

Aufbau Verlag, 2020

ISBN: 9783841225382

Sprache: Deutsch

208 Seiten, Download: 3858 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Alle Hunde sterben



Ich habe immer alles erzählt. Ich berichte jeden Tag vom Alltag. Ich habe von den Dingen gesprochen, die ich kenne. Vielleicht nicht ganz genau von denen, die ich gesehen habe, aber dennoch habe ich immer die Wahrheit gesagt. Ich stehe oft in meiner Küche, hinter dem Tisch, hinter dem Vorhang. Die Dinge, die ich sehe, passieren meist ausschließlich vor meiner Tür, auf der Straße. Es ist fast wie ein Film. Aber ich kann weder vor- noch zurückspulen oder auf Pause drücken. Ich wohne im Erdgeschoss und lebe allein. Ich heiße Necla und ich trage über meinen Socken, die sind sehr warm, noch ein zweites Paar Socken, die sind aus Wolle und besonders dick. Die trage ich, damit ich mich wie ein Spitzel in meiner Wohnung bewegen kann. Ich lebe allein und halte beim Laufen die Luft an. Wer könnte mich hören? Die Nachbarn könnten mich hören. Wer von ihnen hat mich bereits gehört? Alle von ihnen. Wenn sie mich hören, dann passiert immer dasselbe: Sie denken an mich, das erinnert sie an alles, was ich bisher getan habe, und dann hassen sie mich. Sie hassen mich, denn ich füge ihnen Schaden zu. Was habe ich getan? Ich tue etwas, das ich schon seit einigen Jahren tue. Ich verrate meine eigenen Leute.

Was bedeutet Verrat? Verrat ist das Gegenteil von Tod. Es ist eine Versicherung für das Leben. Ich möchte weiter leben, nicht sterben. Wirklich.

Ich wohne seit elf Jahren in diesem Hochhaus. Als ich hierherkam, hatte ich einen Hund. Mein Hund hieß Bero. Ich sagte immer: Bero, es gibt Essen. Dann stellte ich eine Schüssel mit Fleisch auf den Steinboden, und Bero fraß, bis die Schüssel leer war. Als Bero fertig gegessen hatte, starrte er die Schüssel weiter an, und ich sagte: Bero, du hast schon gegessen. Bero jaulte einmal auf, und ich lachte und ich nahm die Schüssel vom Boden und stellte sie in die Spüle. Das ist alles, was wir haben, sagte ich: eine leere Schüssel mit Fleisch. Wissen Sie, ich denke viel an Bero und diese Schüssel. Eine leere Schüssel in der Spüle beschreibt mein Leben sehr treffend. Ich kam zu Fuß hierher.

Es ist auch egal, wie es passiert ist. Was spielt das noch für eine Rolle? Ich hatte diesen Hund an der Leine. Jetzt wohnen wir im Erdgeschoss. Ich weiß nicht, wo meine Kinder sind. Ich weiß aber, wo mein Hund war. Mein Hund lag auf einer Decke, die ich vor dem Ofen strickte, bevor ich mein Haus verlassen habe. Bero war ein Hirtenhund. Die Schnauze und die Ohren waren dunkelbraun. Der restliche Körper war beige. Wenn Bero neben mir stand, dann ging er mir bis zur Hüfte. Um den Hals trug er ein von mir gestricktes Halsband, das war rot.

Eines Tages kam ein Wachmann zu meinem Haus. Als es an der Tür klopfte, dachte ich, es sei die Nachbarin. In der linken Hand hatte ich mein Teeglas und mit der rechten Hand öffnete ich die Tür und sagte fröhlich: Fatma, du bist zu früh. Ich öffnete die Tür, aber da stand nicht Fatma, sondern ein Mann. Er trug eine Uniform. Die Mütze passte nicht. Der Gürtel auch nicht. Erst lächelte er mich an, dann schlug er mir das Teeglas aus der Hand.

Wo ist er?, schrie er.

Ich fragte: Wer?

Er zog mir das Kleid und die Schuhe aus, auch die Socken, bis ich barfuß war, daran erinnere ich mich noch gut. Er zog einen Stab aus seinem Gürtel, zuallererst dachte ich, es sei eine Gabel. Er schlug mir ins Gesicht. Und dann auf meine Fußsohlen. Das machte er solange, bis meine Füße brannten. Da schrie ich zum ersten Mal auf. Mein Hund kam aus dem anderen Zimmer angerannt. Da schlug der Wachmann auch meinen Hund. Ich lag auf dem Boden und fragte mich, ob er ein Polizist ist oder ein Soldat. Mein Hund jaulte, denn auch ihn traf der Metallstab. Bero versuchte, nach dem Wachmann zu schnappen, er hielt meinen Hund am Halsband fest, dabei liefen mir die Tränen über die Wange. Der Wachmann war stärker, obwohl mein Hund mehr als 50 Kilo wog. Ich wog 70 Kilo, mehr als mein Hund, weniger als der Wachmann, aber wir waren schon in der Falle.

Der Wachmann packte mich an den Haaren und schleifte mich aus der Wohnung hinaus. Er schleppte mich über die Treppen, durch das Tor, in den Hof. Es war ein kleiner Hof, auf dem drei Autos standen. Der Haushaltsmüll war aufgestapelt zu einem Müllberg, dort gibt es keine Müllabfuhr. Neben dem Müllberg stand Beros Hundehütte. Mein Mann hatte sie vor Jahren gebaut, aber Bero hat sie nie benutzt. Wir hatten ihn immer drinnen in der Wohnung. Aber ich mochte seine Hütte. Sie war rot, wie Beros Halsband.

Der Wachmann schleifte mich weiter. Der Bauch tat mir weh, auch die Beine, der Boden war schlecht betoniert, und mit jedem Schleifen weiter in Richtung Hundehütte bohrte sich die schlecht asphaltierte Straße in meine Haut. Vor der Hundehütte angekommen drehte der Wachmann meinen Kopf erst zurück Richtung Haus, dann zur Hundehütte. Und erst danach knallte er meinen Kopf zu Boden. Davon wurde ich benommen.

Er sagte: Du wartest hier.

Aus dem Augenwinkel beobachtete ich, wie er zu einem der Autos ging und die Tür öffnete, er kam mit einer Plastiktüte wieder. In der Plastiktüte war ein Halsband. Er legte mir ein Hundehalsband um. Das Ende der Kette wickelte er zweimal um ein Stück Holz und hämmerte es in die Erde neben der Hütte. Dann quetschte er mich in die Hundehütte. Ich bin eine erwachsene Frau, und die Hundehütte, die war nicht klein, aber auch nicht groß. Ich musste die Beine anziehen, bis ich hineinpasste.

Er sagte: Was machen wir mit euch Hunden?

Ich sah zu Bero und fing an zu weinen.

Nein, nein, sagte er. Nicht er – und er deutete auf Bero – sondern du.

Er hielt Bero immer noch am Halsband fest, das wurde immer dünner mit der Zeit, ich dachte, es reißt wie ein Strick mit seiner Last in zwei Teile. Aber ich dachte auch, das ist etwas Gutes. Dann kann Bero wenigstens wegrennen und wäre dadurch gerettet. Jede Person, die gerettet werden kann, ist eine Person mehr. Selbst wenn mein Bero nur ein Hund ist.

Dann schoss er auf mich. Erst nach der neunten Kugel begriff ich, dass er schoss, um mir Angst einzujagen. Er wollte mich gar nicht treffen. Ich schrie: BERO, denn mir fielen die Namen meiner Kinder nicht mehr ein. Der Hals von meinem Hund lag immer noch umschlungen in der Hand des Wachmanns. Und ich wusste: Das macht er mit Absicht. Auch in der Hundehütte lag Müll. Es roch wie draußen. Aber ich habe es erst gerochen, als die Kugeln an mir vorbeiflogen. Erst im Kugelhagel dachte ich an den Gestank.

Ich hatte zwei Kinder, zwei. Manchmal vergesse ich das. Bitte lachen Sie mich nicht aus. Ich vergesse es, weil sie nicht hier sind, und ich vergesse, wie lange es her ist. Ein Leben kann sehr lang sein. Ich war in dieser Hundehütte. Erst kam der Winter. Dann der Frühling. Ich kann nur noch eine Sache aus diesem Leben in der Hütte erzählen: Immer wenn der Wachmann kam, musste ich aus meiner Hütte kriechen, erst vor ihm auf den Knien warten, bis er sagte: Steh auf. Am Anfang habe ich mich noch gewehrt, aber irgendwann habe ich damit aufgehört. Nicht wegen meines Willens, sondern wegen einer einfachen Sache: Wenn ich tat, was er sagte, bekam ich weniger Schläge. Das half beim Überleben. Niemand möchte so sterben.

Ich wusste nicht, wo die anderen sind. Ich war ganz allein mit einem Halsband, in einer Hundehütte, an den Boden gekettet. Warum? Dann musste ich aufstehen und vor ihm salutieren, mit der rechten Hand an der Schläfe, und er brüllte: HAND STRAFF HALTEN, bis er lachte, STRAFF STRAFF, und mich wieder auf die Knie zwang. So ging das stundenlang. Damit ich dabei nicht den Verstand verlor, zählte ich im Kopf laut mit. Eins. Zwei. Drei. Selbst wenn er mich schlug. Ich versuchte mich an die Zahlen zu klammern. Vier. Fünf. Sechs. So verging eine Geschichte. Sieben. Acht. Neun. Ich bekam Krämpfe in den Beinen und Armen. Zehn. Elf. Zwölf. Das muss er niemandem erklären. Ich dachte daran, dass er mich töten will.

Er sagte: Du Hure, friss.

Er warf mir eine Plastiktüte hin, und ich sah die Plastiktüte an, als würde sie mir etwas bedeuten. Dann holte der Wachmann aus der Plastiktüte eine Ratte, die war tot, und ein Stück Fleisch, das war gegrillt. Ich konnte nicht erkennen, was für Fleisch es war. Es war hell, vielleicht war es Hühnchen. Meinem Hund warf er das helle Fleisch hin. Der Wachmann und ich, wir sahen Bero beim Fressen zu. Dabei hielt er Bero mit der Hand am Hals fest. Sein gestricktes Halsband war immer noch nicht zerrissen. Darüber war ich sehr froh. Es war die einzige friedliche Sache in diesem Moment. Dann packte er die Ratte am Schwanz und warf sie mir vor die Füße: Friss, sagte er. Ich wandte den Blick nicht ab von ihm, aber dann kam er einen Schritt auf mich zu, und erst dann sah ich auf den Boden zur Ratte. Das war im Winter.

Im Schnee lag die Ratte, ich kniete vor ihm. Der Wachmann lies Beros Hals los und packte stattdessen meinen. Ich wollte schreien, aber ich konnte nicht, denn sonst hätte ich meinen Mund geöffnet. Er drückte meinen Hals nach hinten und öffnete mit der anderen Hand meinen Mund. Ich schrie erst, als die Ratte näherkam. Dann war die Ratte in meinem Mund, und ich wollte erbrechen. Es war eine Ratte, die war tot, ich war angekettet, und mein Mund ging nicht zu, ich war voller Ekel, für mich und für Bero, aber dieser Ekel hat nichts an der Situation geändert. Ich bekam keine Luft, röchelte, dachte an etwas anderes und versuchte, nicht zu schlucken und rang weiter nach Luft, aber ich dachte, ich ersticke. Dasselbe ist meinem...

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