Brennendes Licht - Anna Seghers in Mexiko

Brennendes Licht - Anna Seghers in Mexiko

von: Volker Weidermann

Aufbau Verlag, 2020

ISBN: 9783841225436

Sprache: Deutsch

144 Seiten, Download: 3641 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Brennendes Licht - Anna Seghers in Mexiko



Ausruhen, ausruhen. Vielleicht für immer. Hier im Licht. Ist das nicht angenehm? Nicht mehr kämpfen, nicht mehr diese Berge hinauf, immer wieder diese Berge. Still sein. Warten. Liegen. Vielleicht kommt die Welt ja zu ihr. Ganz von allein. Vielleicht ist alles ein Missverständnis. Vielleicht ist das Leben in Wahrheit gar kein Kampf. Und alles, was geschehen soll, geschieht. Sie kann hier einfach nur liegen. Und schauen. Und warten. Vertrauen. Das wäre ein Traum. Der Welt vertrauen. Vielleicht wird einfach alles gut, ganz ohne ihr Zutun, ohne ihren Kampf. Ganz ohne dass sie sich dagegenstemmt, gegen den Lauf der Welt. Vielleicht kann sie es alles nicht ändern. Sosehr sie auch kämpft. Vielleicht darf sie jetzt wirklich einfach hier liegen bleiben. Und warten. Und schauen. Und endlich, endlich ausruhen.

Anna Seghers in Mexiko. Sie liebt dieses Land, sie wollte nicht hierher. Sie wollte mit ihrer Familie nach New York. Aber New York wollte sie nicht. Ihre Tochter Ruth schaue so komisch, hatte der Arzt auf Ellis Island festgestellt. Ja, sie sei kurzsichtig, erklärte ihre Mutter. Ob Kurzsichtigkeit jetzt schon ein Grund sei, Menschen an der Grenze abzuweisen. Nein, das sei etwas Gefährlicheres, hatten die Einwanderungsbehörden entschieden und die Familie weitergeschickt. Nach all den Fluchten, aus Berlin, aus Paris, aus Marseille, aus Martinique, ging es – die Skyline von New York vor Augen – noch einmal weiter in dieses völlig unbekannte Land. So hatte Anna Seghers es auf dem Schiff in ihrem entstehenden Roman beschrieben und ihren Erzähler sagen lassen:

»Es gibt ja Länder, mit denen man schon aus der Knabenzeit her vertraut ist, ohne sie gesehen zu haben. Sie erregen einen. Gott weiß, warum. Eine Abbildung, ein Schlängelchen von einem Fluss auf einem Atlas, der bloße Klang eines Namens, eine Briefmarke. An Mexiko ging mich nichts an, nichts war mir an diesem Land vertraut. Ich hatte nie etwas über das Land gelesen, da ich auch als Knabe nur ungern las. Ich hatte auch über das Land nichts gehört, was mir besonders im Gedächtnis geblieben wäre. Ich wusste – es gab dort Erdöl, Kakteen, riesige Strohhüte. Und was es auch sonst dort geben mochte, es ging mich ebenso wenig an wie den Toten.«

New York wäre sie angegangen. Freunde warteten auf sie und ihre Familie, die Weiskopfs zum Beispiel und die Kantorowiczs, die gemeinsam mit ihnen die lange Reise von Europa gemacht hatten, waren schon an Land gegangen, ohne Probleme. Anna Seghers und ihre Familie nicht. Es war verrückt. Alles hätte jetzt gut werden können. Wenigstens eine Art von gut. So gut, wie es in der Welt am 22. Juni 1941 scheinen konnte. Ihr Literaturagent hatte ihr den Vertrag für die amerikanische Ausgabe ihres Romans Das siebte Kreuz nach Ellis Island gebracht. Und die USA – das war jetzt der Markt, der über Erfolg und Misserfolg eines Buches entschied. Es war ihr Lieblingsbuch, das Buch, an das sie von ganzem Herzen glaubte. An seine Wirkungsmacht vor allem. Wirkungsmacht zunächst ja für sie selbst. Das siebte Kreuz war eine Geschichte darüber, dass Widerstand möglich war. In einem totalitären Staat. In Deutschland, dass eine Flucht aus dem Konzentrationslager möglich war, dass es in Deutschland Menschen gab mit Mut und Kraft und einem guten Herzen. Ein Buch darüber, dass es auf den Einzelnen ankommt. Dort in Europa und hier auf der Flucht. Ihr Buch gegen die Verzweiflung, die eigene und die der Kämpfer gegen die scheinbar unbezwingbare Übermacht des Faschismus. Sätze wie diese, als Mantra in die Welt gesandt: »Ein entkommener Flüchtling, das ist immer etwas, das wühlt immer auf. Das ist immer ein Zweifel an ihrer Allmacht. Eine Bresche.«

Anna Seghers war selbst einer dieser Zweifel, sie und ihre Familie. Aber inzwischen etwas jämmerliche Zweifel, verzagte und erschöpfte Zweifel, vom Tode bedroht, abgewiesen, wie ein Giftpilz oder ein Virus gefürchtet. Ein Leben im ewigen Transit fürchtend. Warum nicht endlich bleiben dürfen? »Mein Sohn«, schrieb Anna Seghers auf dem Schiff in den entstehenden Roman, »weil sich alle Länder fürchten, dass wir statt durchzuziehen, bleiben wollen. Ein Transit – das ist die Erlaubnis, ein Land zu durchfahren, wenn es feststeht, dass man nicht bleiben will.«

Und hier auf Ellis Island nun hatte sie auch diese fürchterliche und herrliche Nachricht erreicht: Deutschland hat die Sowjetunion überfallen. Das hieß: fürchterliche Angst, dass die deutsche Kriegsmaschine selbst gegen diesen übermächtigen Gegner einen schnellen Sieg erringen und damit endgültig alles verloren sein könnte. Es hieß aber vor allem auch: endlich wieder klare Fronten. Endlich wieder: gemeinsam gegen Hitler und sein Reich. Stalins Pakt mit Nazi-Deutschland war ja der schwerste moralische Schock für die kommunistischen Kämpfer im Exil gewesen. Ihr politischer Leitstern – verbündet mit dem Todfeind. Was war da noch die Grundlage, auf der man stand? Wo war fester Grund? Wer war der Gegner? Wo war Hoffnung? Viele der Mitkämpfer hatten sich damals, auch infolge der Moskauer Schauprozesse, vom Kommunismus abgewendet. Wie schwer war es danach gewesen, die Front geschlossen zu halten. Widersprüche abzuwehren. Anna Seghers war standhaft geblieben. Vollkommen standhaft. Wenn sie innerlich Zweifel hatte, so behielt sie sie für sich. Sie war nicht nur linientreu. Sie war selbst die Linie. »In einem Haus, in dem es brennt, kann man nicht einem Menschen helfen, der sich in den Finger geschnitten hat«, hatte sie schon 1935 auf dem 1. Internationalen Schriftstellerkongress gesagt, als es um die Freilassung des Trotzkisten Victor Serge und dessen Ausreise aus der Sowjetunion gegangen war. »Konterrevolutionär« sei die Übertreibung eines einzelnen Falles, hatte sie gesagt.

Ebenjener Victor Serge war nun mit ihnen auf dem Schiff gewesen, das sie aus Europa herausgebracht hatte. Und jener Leo Trotzki, dessen Anhänger er war, hatte einige Jahre zuvor in Mexiko Aufnahme gefunden, als kein Land der Welt mehr bereit war, ihn aufzunehmen. Der Todfeind Stalins. Die Verkörperung der sowjetischen Opposition, der Gründer der Roten Armee. Der Gegner. Inzwischen war er tot. An seinem Schreibtisch mit einem Eispickel erschlagen. Hinter hohen Mauern, von Wachleuten rund um die Uhr beschützt. Half alles nichts. Stalins Gegner waren nirgends sicher.

Anna Seghers wollte nicht nach Mexiko. Es war doch alles beinahe gut. New York vor Augen, den Buch-Vertrag unterschrieben, Stalin an ihrer Seite. Jetzt nur noch endlich runter von diesem verdammten Schiff. Es einfach machen wie ihr Lebensfreund Egonek, Egon Erwin Kisch, der rasende Reporter. Der vor Jahren trotz Einreiseverbots in Australien vom Schiff in hoher Höhe an Land gesprungen war. Und dann mit gebrochenem Bein und erhobenem Haupt als Reporterheld durchs Land gereist war und später ein Buch darüber geschrieben hatte. Und der dann, anderthalb Jahre vor Anna, auch hier wieder vom Schiff an Land gesprungen war – nachdem er nach langen Verhören auf Ellis Island ein Durchreisevisum erhalten hatte –, auf die Knie gefallen war, den Boden geküsst und einen Hotdog verlangt hatte.

Von seinem amerikanischen Verlag hatte er dann aber ganz andere Nachrichten erhalten als Anna später. Der Großverleger Alfred A. Knopf löste den bereits geschlossenen Buch-Vertrag über Kischs Lebenserinnerungen einfach auf. »Dies ist nicht das Buch, das ich mir von Ihnen erhofft hatte«, schrieb ihm Knopf. Es war ein Desaster für Kisch. Für wen jetzt noch schreiben? Wovon leben? Mit seiner Frau Gisela war er dann Anfang 1940 mit dem Zug nach Mexiko weitergefahren.

Anna Seghers will trotzdem hierbleiben. Wenigstens für einige Tage oder Wochen. Wenigstens hier und jetzt an Land gehen. Mit der Familie, kurz bleiben, frei sein, essen, ausruhen, mit Freunden reden, festen Boden unter den Füßen haben. Es geht nicht. Ihre lächerliche Machtlosigkeit hatte sie die ganze Flucht über, seit sie im Sommer 1940 Paris verlassen hatten, nicht so dramatisch gespürt wie jetzt. »Irrsinn« nennt sie es in einem Brief an den Freund F. C. Weiskopf. Ein amerikanischer Offizier hatte sich vor ihre siebzehnjährige Tochter Ruth gestellt, starrte sie sekundenlang an, ohne ein Wort zu sagen. Später stellte sich heraus, der Mann war Arzt, er untersuchte Ruth nicht weiter, schrieb aber auf einen Zettel, sie leide unter einem »disease of the central nervous system«. Sie wird zur näheren Untersuchung allein in ein Krankenhaus gebracht. Die Untersuchungen ergeben nichts, aber der erste Befund bleibt in den Akten, und der Familie wird vorgeworfen, eine schwere Erkrankung verheimlicht zu haben.

Die Wahrheit ist natürlich, nicht das Augenzwinkern von Ruth ist die Gefahr für das Land, sondern die politischen Überzeugungen der Mutter. Es hilft aber alles nichts. Die USA nehmen sie nicht auf. Und von Ellis Island ist noch niemand nach Manhattan gesprungen. Also weiter, immer weiter. In den Hafen der Welt. In das Land, das so viele Fliehende aufnimmt in diesen Tagen. Nach Veracruz, nach Mexiko.

Und hier endlich: die Welt. Endlich ankommen. Endlich die Sonne. Willkommen sein. So viel Schönheit. Sicherheit. Weit, weitab von jedem Krieg, jedem Kampf. Ob Mädchen blinzeln oder nicht, ist hier egal. Anna Seghers in Mexiko. Kaum war sie hier angekommen, schrieb sie schon, »ich fuehle mich hier fast besser als in New York«. Es war natürlich auch hier ein schwerer Kampf für sie als Mutter, Familienmanagerin im fremden Land, Erzählerin, Parteimitglied. Wohnung suchen, Geld organisieren, die Familie bei Freunden verstreuen, bis die...

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