Das Gartenzimmer - Roman

Das Gartenzimmer - Roman

von: Andreas Schäfer

DuMont Buchverlag , 2020

ISBN: 9783832170264

Sprache: Deutsch

352 Seiten, Download: 1449 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Das Gartenzimmer - Roman



1908

Max Taubert saß am Zeichentisch eines Ateliers in Berlin-Schöneberg und kratzte mit einem Rasiermesser gezeichnete Bänke aus dem Grundriss einer Wartehalle, als Wagner, die Hände im Rücken verschränkt, an seinen Tisch trat.

»Da ist ein Ehepaar, das Sie gern kennenlernen möchte.« Vergnügt wippte er auf den Fußballen. »Professor Adam Rosen«, fügte er nach einer Pause hinzu. Max wischte die Splitter vom Zeichenpapier und tilgte mit schabenden Bewegungen die letzten Spuren der Bank, bis die Stelle kaum noch von ihrer Umgebung zu unterscheiden war. Dann blickte er auf. »Sie haben ein Grundstück in Dahlem erworben«, sagte Wagner. »Sie möchten ein Landhaus bauen und suchen nach einem Architekten.«

»Warum übernehmen Sie den Auftrag nicht?«, fragte Max.

Wagner schwieg. Er hatte die Stirn eines Dichters und einen großen Mund, dessen Lippen einen mehlig-weißen Ton annahmen, wenn er lächelte.

Max schloss sein Jackett und folgte ihm ins Empfangszimmer, das auch als Ausstellungsraum für Wagners Entwürfe diente. Hier präsentierte er die Mahagonistühle mit dem Rohrgeflecht an einem Tisch aus schimmerndem Kirschholz; hier stand auch das wuchtige Buffet mit dem eingearbeiteten Elfenbein, das erst kürzlich bei einem Wettbewerb ausgezeichnet worden war. Frau Rosen, eine schlanke Frau um die vierzig mit großen, neugierigen, aber unruhigen Augen, reichte Max sofort die Hand, während der Professor die Karikaturen von Bankdirektoren oder breitschädeligen Kirchgängern an der Wand betrachtete, die Wagner in übermütigen Studententagen veröffentlicht hatte. Herr Rosen war groß und schlank, und das nach hinten gelegte weiße Haar und der hohe Hemdkragen gaben seiner Gestalt etwas Abweisendes.

»Herr Rosen, darf ich vorstellen: Max Taubert. Der Mitarbeiter, von dem …«

»Der junge Mann!« Die Stimme des Professors klang amüsiert, doch als er sich umwandte, betrachtete er Max aus zusammengekniffenen Augen und mit zurückgeschobenem Kopf, als wollte er ihm nicht zu nahe kommen. Dann nahm sein Gesicht eine freundliche Milde an. »Sie kommen vom Land, sagt Wagner.«

»Aus Blumenhagen bei Pasewalk, ja. Ich habe in der Schreinerei meines Vaters gelernt.« Max ließ eine kurze Pause. »Seit ich in Berlin bin, besuche ich die Kunstgewerbeschule.«

»Pasewalk? Dann kennen Sie sicher die Feldsteinkirche in Lübbersdorf. Herrlich, wenn die Sonne durch die Fenstergruppen ins Schiff fällt! Wir machen im Frühling gern Ausfahrten in die Gegend, nicht wahr?« Er wandte sich kurz seiner Frau zu, bevor er Max wieder ansah. »Warum übernehmen Sie nicht das familiäre Geschäft?«

»Nach dem Tod unseres Vaters war es uns nicht möglich, den Betrieb zu erhalten.«

»Warum nicht?«

»Uns fehlte das Geld für eine Dampfmaschine.«

»Dampfmaschine«, wiederholte der Professor und zog überrascht die Brauen in die Höhe. »Und – sagen Sie mir: Sie sind Architekt? Schreiner? Oder von beidem ein bisschen?«

»Architekt.«

Rosen lächelte belustigt, während seine Frau Max wie ein faszinierendes Bild betrachtete. Wagner wippte zufrieden in seinen Schuhen und ließ die Dielen knarzen, bevor er das Paar in den Zeichenraum bat und zu Max’ Arbeitsplatz führte. Gegen die blendende Sonne hatte Max ein Stück Stoff am Fensterrahmen befestigt, sein kleines Reich, eine schattige Höhle, in der er, tief über das Papier gebeugt, die Zeit vergaß. Neugierig begutachtete Frau Rosen die Kohlestifte, die Winkel und Lineale, berührte einen der flachen Kiesel, mit denen er die Ecken des Transparentpapiers beschwerte, bevor sie die Zeichnung in Augenschein nahm. Doch im nächsten Moment zog Wagner mit einer schnellen Bewegung die Mappe, in der Max seine privaten Entwürfe und Skizzen verwahrte, aus einem Fach unter der Zeichenplatte hervor und verteilte die Blätter auf dem Tisch. Es versetzte Max einen Stich, seine Fantasien, die Brücken, Häuser und Türme ungeschützt ausgebreitet zu sehen, doch weder protestierte er noch sagte er etwas Erklärendes, während der Professor eine Zeichnung nach der anderen in die Hand nahm. Niemand sagte etwas, während der Blick des Professors die Formen nachgerade aus den Blättern zu ziehen schien.

»Sie hatten recht«, sagte er nach einer Weile. Seine gespreizten Finger lagen auf dem Entwurf eines Speichers, den Max noch als Schüler in Pasewalk gezeichnet hatte. »Meine Frau und ich möchten ein Landhaus bauen.« Ein vages Lächeln erschien auf seinen Zügen. »Wollen Sie uns nicht dabei helfen?« Bevor Max antworten konnte, wandte sich Herr Rosen zum Gehen. Auf dem Weg zurück warf seine Frau Max einen aufmunternden Blick zu. Als der Professor Max für die nächste Woche in ihre Charlottenburger Wohnung bat, nickte sie nur und gab ihm zum Abschied schweigend die Hand.

»Ich glaube, Sie haben Eindruck hinterlassen.« Wagner stand an seinem Schreibtisch und blätterte schon wieder in Papieren. »Übrigens gibt es einen Grund dafür, warum ich den Entwurf nicht ausführe – abgesehen davon, dass Rosen meine Arbeit nicht schätzt. Die Rosens wollen partout einen jungen Architekten. Sie haben vor einigen Jahren ihren Sohn verloren. Ich glaube, er wäre heute in Ihrem Alter, wenn Sie verstehen.« Als Max dazu nichts sagte, schaute er auf. »Seien Sie nicht empfindlich. Sie hatten es doch darauf abgesehen, dass ich die Mappe entdecke. Sie wollten, dass genau so etwas passiert.«

Erst als Max am frühen Abend das Atelier verließ, fiel die Spannung von ihm ab. Es wunderte ihn, dass niemand auf ihn zustürzte, um ihm zu seinem ersten Auftrag zu gratulieren. Es war ein kühler Herbsttag, und die Menschen beeilten sich, nach Hause oder zum Bus zu kommen, oder verschwanden so schnell wie möglich in einem der erleuchteten Restaurants. Auf dem Weg zur Haltestelle sah er das hagere Gesicht des Professors mit dem Spitzbart und Frau Rosens Lächeln wieder vor sich. Sie war wesentlich jünger als ihr Mann und auch einen Kopf kleiner. Sie hatte ein offenes Gesicht, und ihr dunkles, dichtes Haar war selbst mit einer Spange am Hinterkopf kaum zu bändigen. Ihre Züge waren unablässig in Bewegung gewesen und ihre Augen waren zwischen ihrem Mann, Wagner und ihm hin und her gesprungen. Ihre Wangen hatten gezuckt, als hätte sich jede Wendung des Gesprächs auf ihrem Antlitz gespiegelt.

Ich baue ein Haus, dachte er. Eingekeilt zwischen den anderen schaukelte er im Bus die Straße entlang, erst als er am Nollendorfplatz aus dem Wagen gedrängt wurde, nahm er seine Umgebung wieder wahr, die eiligen Schritte, den Verkehrslärm, die kreischenden Bremsen der Busse. Als gewaltiges Insekt lag der Bahnhof der Hochbahn auf dem Platz, ein steinernes Tier, dessen Rüssel die eilig auf ihn zustrebenden Passanten gierig aufnahm und sie hoch in seinen durchsichtigen Kopf sog, wo Max sie hinter den Rundbogenfenstern winzig klein auf die Einfahrt des nächsten Zuges warten sah. Seine Kopfhaut brannte, sein gesamter Körper begann zu kribbeln.

Die ersten Berliner Wochen hatte Max zusammen mit einem ehemaligen Gesellen aus der väterlichen Werkstatt in dessen Moabiter Zimmer gehaust, Nähe Westhafen, wo der Gestank nach Unrat und Brack sich mit frischer Seeluft mischte. Das ebenerdige Zimmer war feucht und so klein, dass Max auf der Strohmatte neben dem Bett mit dem Kopf unterm Tisch lag. Von Sonnenaufgang bis spät in den Abend hinein hallten die Schläge eines Kupferschmieds durch den Hof – danach hörte man Kindergeschrei, und wenn auch das Gezeter der Frauen irgendwann nachließ, begannen die immer gleichen Geschichten des betrunkenen Gesellen. Er arbeitete in einer Fabrik am Ufer der Panke, die Mobiliar für die Borsig-Waggons zimmerte, verbrachte die Abende in Kaschemmen und wankte, nach Schweiß, Alkohol und einem widerlichen Leimsud stinkend, gegen Mitternacht ins Zimmer.

»Meide das Schlesische Tor: nur fünfzig Pfennige und die Krätze noch dazu«, lautete seine Begrüßung, bevor er die Schuhe von den Füßen stieß und stöhnend in den Bettkasten kippte. »Warst du endlich an der Friedrichstraße? Federboa und immer Schnütchen, aber keinen Schlüpfer zum Unterrock. Hör auf den Rat eines erfahrenen Mannes: Bei den Kontrollmädchen aus Vorpommern weiß man, was man hat.«

Max verabscheute das Gerede, aber er musste es ertragen, wollte er nicht unter einer Brücke schlafen; bis zum nächsten Ziehtag wäre er nirgendwo sonst untergekommen. Der Geselle genoss seine Macht. Es war seine Rache dafür, dass Max selbst in diesem klammen Loch seine Überheblichkeit nicht ablegte, statt zu arbeiten, das Ersparte der Mutter aufbrauchte und, sobald er von der Gewerbeschule kam, im funzeligen Schein einer Petroleumlampe Bücher über italienische Architektur oder die Baukunst um 1800 las.

Der Geselle rülpste und schmatzte über ihm, er röchelte, als wäre er eingeschlafen, doch plötzlich erschien seine fettig glänzende Visage zwischen Bettkante und Tischplatte.

»He, Künstler! Du kannst den Rock bürsten und deinen Scheitel kleben, so viel wie du willst. Wirst doch kein Bürgerjüngel.« Sein Schnapsatem waberte auf Max hinunter. »Ich kenne eine, nicht weit von der Kaiserpassage: Da vergeht dir Hören und Sehen!« Und sein Lachen ging in einen Husten über, der nicht enden wollte.

Zum nächsten Oktober fand Max ein Zimmer in der Invalidenstraße bei der Witwe eines Glasers, doch das hämische Lachen konnte er nicht vergessen. Berlin war nicht so laut und überfüllt, wie sie im Dorf behauptet hatten; solange er Bahnhöfe und die Alleen mied, gab es Stille, viel mehr Stille als erwartet. Aber die Mädchen und Frauen, die auf jedem Platz zwischen vorbeihastenden Passanten flanierten und in den Nebenstraßen mit diesem speziellen Blick ihre Dienste anboten, ihr Pfeifen und Zischen aus den...

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