Mondariz - Roman

Mondariz - Roman

von: Yorck Kronenberg

Dörlemann eBook, 2020

ISBN: 9783038209751

Sprache: Deutsch

288 Seiten, Download: 715 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Mondariz - Roman



 


Nach einer Seefahrt von Punta del Este aus erreichten wir im Morgengrauen des fünften Tages von Osten her die Insel Mondariz. Außer dem Bootsführer und mir waren nur zwei ältere Männer an Bord, deren Funktion mir nicht klar war. Sie trugen verschlissene Arbeitskittel und hielten Schraubenschlüssel in Händen, drehten sie in den Fingern und hielten sie sich hin und wieder vor die Augen. Die meiste Zeit aber saßen sie zurückgelehnt an der Reling, die Beine hochgelegt, die Lider halb geschlossen: Die See war ruhig und ließ das gleichmäßige Rattern des Motors und die daraus entstehende eigene Bewegung schnell vergessen. Die Nächte waren warm und sternklar, die Tage weitgespannt wie das Meer. Ich las Reiseberichte von Melville und Bruce Chatwin. Immer wieder zog ich auch das stockfleckige Manuskript aus der Tasche, als müsse das veränderte Licht mir Einzelheiten der Partitur offenbaren, die mir bisher entgangen waren.

Einmal, als das Papier in einer leichten Brise zu flattern begann, stellte ich mir vor, es würde zwischen meinen Fingern hindurchgleiten und vom Wind in die Höhe gehoben – die Blätter würden im Meer versinken und selbst ich, der vielleicht einzige Mensch, der sie studiert hatte, würde mich bald kaum mehr an Einzelheiten erinnern. Nur eine vage Ahnung würde bleiben, dass es den Zyklus jemals gegeben hatte: Klaviervariationen über ein eigenes Thema, verfasst von José Diego Coimbra. In der rechten oberen Ecke des Titelblattes stand das Datum: Mondariz, 8. Mai 1862. Ich umfasste das Manuskript mit einer Festigkeit, die das Papier zwischen meinen Fingern in Wellen legte. Mit gehaltenem Atem packte ich das Bündel zusammen und verstaute es in meiner Reisetasche. Erst dann lehnte ich mich zurück und überließ mich wieder dem leichten Schwanken des Bootes.

Die Insel sah im Dämmerlicht vor Sonnenaufgang aus wie eine einzige düster aus dem Meer aufragende Klippe. Erst im Näherkommen zeichnete sich die Siedlung am Hafen ab, darüber der Hang, dessen Grasbewuchs jetzt freilich von aufsteigendem Dunst verhüllt war. Als wir in das kleine Hafenbecken einfuhren, wurden die Gipfel vom ersten Licht des Tages erfasst. Wenig später tauchte die Sonne aus dem Meer auf, zwei vor Anker liegende Fischerboote warfen schwankende Schatten auf die zum Marktplatz hin ansteigende Kaimauer. Wie zu unserer Begrüßung begannen im Dorf die Kirchenglocken zu läuten.

Miguel wartete auf mich. Er ist älter geworden. Auf den ersten Blick bemerkte ich ihn in der Gruppe der Schaulustigen, die sich am Geländer zum Hafenbecken zusammengedrängt hatten, nicht einmal. Erst als er mich ansprach, verband sich das Bild des lächelnden Herrn mit meiner Erinnerung und trat noch im Moment daraus hervor wie ein klar artikuliertes Wort, das einen verblassenden Gedanken zusammenfasst.

Vielleicht hättest du ihn gleich erkannt, ging mir durch den Kopf.

Er wohnt noch immer in seinem Blockhaus am Waldrand, das jetzt, im strahlenden Licht des Morgens, wie aus einer anderen Sphäre auf das Dorf herabzublicken schien.

»Wie lange ist es her, dass Sie auf Mondariz waren?«, fragte er und legte mir die Hand auf die Schulter.

»Bald zehn Jahre«, gab ich zurück.

Ich sah mich um. Fischer mit Netzen und Angeln gingen über den Marktplatz auf den Hafen zu. Das Pflaster aus sandfarbenen, ungleichmäßig geformten Steinplatten dampfte im Sonnenlicht und selbst die Fassaden der hohen Gebäude, die den Platz einfassen, schienen von der Nacht taubeschlagen zu sein. Vereinzelte Fenster waren geöffnet, aus einem Hotelzimmer im dritten Stock blickte eine junge Frau auf den Platz. Das ganze Dorf wirkte trotz der unterschiedlichen Architektur homogen, als hätte man den felsigen Untergrund Quader für Quader abgetragen und dann in Form der Häuser und Gassen neu aufgeschichtet. Eine Möwe landete auf dem Platz und pickte nach einem fallengelassenen Köder. Ein Fischer drehte sich um und trat nach ihr, beugte sich dann aber nicht einmal hinab, um das Stück Fisch aufzuheben.

Ich wohne in einem Ganghaus in der Via Umbria. Die Gasse läuft in südlicher Richtung auf jenen Strandabschnitt zu, von dem aus wir damals häufig schwimmen gingen. Erinnerst du dich an unsere Begegnung mit den drei Jugendlichen, die dir hinterherschwammen und dich am Strand nach deiner Telefonnummer fragten? Ich hatte den Nachmittag über arbeiten wollen und kam genau in dem Moment dazu, als einer der drei anbot, dir das Schiffswrack im Westen der Insel zu zeigen. Er wurde verlegen, beugte sich hinab und strich eine Alge von seinem Oberschenkel – wahrscheinlich wollte er meinem Blick ausweichen. Du nahmst mich in den Arm, was seine Verlegenheit noch vergrößerte. Wir sind ihm später noch mehrfach begegnet und machten uns einen Spaß daraus, uns bei den Händen zu nehmen oder Arm in Arm an ihm vorbeizugehen. Wir waren verliebt.

Der Junge von damals wohnt nur wenige Häuser von mir entfernt, ich erkannte ihn sofort, als er in der engen Gasse auf mich zukam, die schlanke Gestalt, das schmale Gesicht mit den versonnen schwarzen Augen. Er hielt inne, durchwühlte die Hosentaschen nach seinem Schlüssel. Er musterte mich mit seltsam unbestimmtem Blick, hob dann halb die Hand, ohne sich aber zu einem wirklichen Gruß durchringen zu können. Als er Miguel hinter mir sah, rief er ihm einen Satz zu, den ich nicht verstehen konnte. Dann wandte er sich um und schloss eine Tür auf.

Später war aus dem Innern des Hauses Klavierspiel zu hören.

Das Haus, das Miguel mir zur Verfügung gestellt hat, ist schmal, kaum breiter als fünf Meter. Es besteht aus drei übereinanderliegenden Räumen: Im Erdgeschoss befindet sich die Küche mit Esstisch, außerdem ein kleines Badezimmer; darüber ein Arbeitszimmer mit aufklappbarem Sekretär, Sofa und großem Schrank. Unterm Dach steht das Bett, wie die übrigen Möbel aus massivem, zum Teil wurmstichigem Holz gezimmert. Die Räume sind besonders hoch. Wie Miguel mir erklärte, sind bei selber Höhe des Gesamtgebäudes in anderen Häusern bis zu fünf Stockwerke untergebracht.

In eine Straßenkarte zeichnete er mir verschiedene Sehenswürdigkeiten ein und markierte einen Lebensmittelladen. »Wenn Sie Fragen haben, kommen Sie bei mir vorbei«, sagte er. »Ich helfe Ihnen gern.«

Ich erkundigte mich nach Coimbra, nach Zeitzeugnissen, nach seinen Kompositionen. »Wird Coimbras Nachlass auf der Insel verwaltet? Ist überhaupt noch etwas überliefert?« Kurz hatte ich die Befürchtung, Miguel werde mit einem Zucken der Schultern, mit einem einzigen Lächeln meiner Hoffnung ein vorzeitiges Ende setzen.

»Kommen Sie erst einmal an«, sagte er dann aber nur und hob beschwichtigend die Hand. »Wie lange werden Sie auf Mondariz bleiben?«

»Das Postschiff soll in zehn Tagen wieder in Mondariz sein. Ich habe mit dem Bootsführer ausgemacht, dass er mich beim nächsten Anlaufen der Insel gegen Mittag erwarten soll. Ich reise beruflich nach Bolivien weiter.«

Er nickte. »Kommen Sie erst einmal an«, wiederholte er.

Ich brachte die Koffer nach oben. Erst als ich mich auf das Bett gelegt hatte und die Augen schloss, bemerkte ich, dass der Boden noch immer unter mir schwankte. Wieder tauchte das Bild der Insel als düster aus dem Meer aufragender Block vor mir auf, eine einsame Klippe, die in alle Richtungen bis zum Horizont von der Endlosigkeit des Meeres eingefasst wird. Manchmal gingen diese Bilder in Traumeindrücke über, indem ihre Proportionen zu schwingen und flirren begannen und Teil eines Spieles wurden, dessen Ende und Sinn sich mir nicht erschlossen. Möwen kreisten über dem Boot und brachen ohne Anlass in gemeinsames Kreischen aus.

Vorhänge bauschten sich im Wind. Das Bettgestell knarrte leise, wenn ich mich umdrehte. Ab und zu waren Stimmen oder Schritte von der Gasse zu hören. Die Luft war frisch und kühl wie auf dem Meer.

Ich schreckte erst auf, als mein Mobiltelefon, das ich aus Gewohnheit neben mich auf den Nachtschrank gelegt hatte, zweimal laut piepte.

Ich hielt mir den Kopf, rieb mir den Schlaf aus den Augen. Wie ein Schmerz durchfuhr mich einmal mehr die Erkenntnis, dass wir nicht mehr zusammen sind, dass unsere gemeinsame Zeit vorbei ist. Vor zehn Jahren wäre ein solches Ende undenkbar gewesen, auf Mondariz sprachst du von Kindern, einer Familie, es war kein Entschluss, der uns aneinanderband, unsere Zusammengehörigkeit war jene Gegebenheit, die für uns beide nicht hinterfragbar war.

Warum habe ich dir überhaupt von meiner nochmaligen Reise erzählt? Die wenigen noch ausstehenden Aufträge für den Rundfunk habe ich verschoben. Es ist fraglich, ob ich noch einmal nach Berlin zurückkehren werde; seit dieser Saison bist du als Schauspielerin am Theater Dortmund unter Vertrag. In diesem Moment kam es mir vor, als hätte ich mich verirrt, als sei ich aus der Zeit gefallen, als gebe es niemanden mehr, der sich noch an mich erinnerte. Zehn Jahre lebt man miteinander und bemerkt die Veränderung nicht, lebt zehn Jahre lang immer auch den Beginn der gemeinsamen Zeit. Nach dem Bruch ist man mit einem Schlag zehn Jahre älter, reibt sich die Augen, Fremde behandeln einen nicht mehr wie den Jugendlichen, der man immer zu sein glaubte. Das Ende einer Liebe ist wie eine Zeitmaschine, dachte ich. Ich musterte die hohe Leiste am Fuß des Bettgestells und spürte, dass mir Schweiß auf die Stirn trat. Sonnenlicht zeichnete auf den Parkettboden neben mir ein helles Viereck.

Die Textnachricht lautete: »Bist Du gut angekommen? Premiere war sehr anstrengend. Hab Fehler gemacht, aber ok. Schön fragil. Pass auf dich auf. Schönen Tag auf unserer Insel! J.«

Unvermittelt hatte ich den Gedanken, dass mich kein Mensch mehr im Krankenhaus besuchen würde,...

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