Der unangepasste Mensch - Unsere Psyche und die blinden Flecken der Evolution

Der unangepasste Mensch - Unsere Psyche und die blinden Flecken der Evolution

von: Martin Brüne

Klett-Cotta, 2020

ISBN: 9783608120271

Sprache: Deutsch

367 Seiten, Download: 3717 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Der unangepasste Mensch - Unsere Psyche und die blinden Flecken der Evolution



Einleitung


Vom Baum der Erkenntnis zu naschen, ist ein unsicheres Unterfangen: Man weiß nie, was man bekommt. Die biblische Schöpfungsgeschichte lehrt uns, dass die Vertreibung aus dem Paradies die unausweichliche Konsequenz ist, sozusagen eine Bestrafung für Neugier. Das Leiden der Menschheit nahm hier seinen Anfang.

Einer, der in der jüngeren Geschichte unseres Daseins geradezu inquisitorisch mit seinen Ideen dazu aufgefordert hat, dennoch nach Erkenntnis zu suchen, war Charles Robert Darwin. Darwin selbst zögerte lange mit der Bekanntmachung seiner Theorie der gemeinsamen Abstammung aller Lebewesen von einer Urform durch natürliche Selektion – teils aus Rücksicht auf seine Frau, teils, weil er sicher ahnte, welch weitreichende Folgen seine Theorie haben würde (der Originaltitel seiner Veröffentlichung (1859) lautete On the Origin of Species by Means of Natural Selection, or the Preservation of Favoured Races in the Struggle for Life, in der deutschen Übersetzung (1876) von Julius Victor Carus Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe um’s Dasein). Wer weiß, wie lange er seine bereits 20 Jahre zuvor ausgearbeitete Evolutionstheorie (den Begriff »Evolution« hat Darwin selbst übrigens nicht besonders gemocht) unter Verschluss gehalten hätte, wenn ihn 1858 nicht der Brief eines gewissen Alfred Russel Wallace aus Südostasien aufgeschreckt hätte. Wallace hatte darin auf wenigen Seiten einen in weiten Teilen mit Darwins Theorie übereinstimmenden Abriss der Evolution vorgelegt und sich nach der Möglichkeit der Veröffentlichung erkundigt. Darwin steckte in einem echten Dilemma. Einerseits gebot es die Fairness, den Brief nicht zu ignorieren, andererseits wollte er sein wissenschaftliches Vorrecht auf die Theorie der Entstehung der Arten nicht aufgeben. Die damals gewählte pragmatische Lösung, die mithilfe von Darwins Freunden Charles Lyell und Joseph Hooker zustande kam, war die, dass beide Arbeiten 1858 auf einer Sitzung der Linnean Society parallel bekannt gemacht wurden – wobei die Öffentlichkeit den Zündstoff, den die Theorie vor allem in Bezug auf die Stellung des Menschen in der Natur in sich barg, zunächst nicht ganz wahrgenommen hatte. Erst allmählich wurde klar, dass die Theorie der Entstehung der Arten und der Abstammung von gemeinsamen Vorfahren mit einer Sonderstellung des Menschen nicht vereinbar war, also gewissermaßen zwangsläufig darlegte, warum es in der Natur keine paradiesischen Zustände geben kann und es solche auch nie gegeben hat. Darwins Einsichten, so die für viele bittere Erkenntnis, haben uns die Augen für Dinge geöffnet, die ein anthropozentrisches Weltbild nicht zulassen – ein Schock für viele von Darwins und Wallaces Zeitgenossen, mit Nachhall bis in die heutige Zeit.

Wir Menschen sind eben nicht ein Abbild Gottes, quasi perfekt per Design (mit einigen Schönheitsfehlern). Im Gegenteil, wir sind in vielerlei Hinsicht höchst unvollkommen, ein Zufallsprodukt der Natur, wie wir noch sehen werden, dessen Überleben mehr als einmal am seidenen Faden hing. Wir sind weder körperlich robust (und mussten in manchen Teilen der Welt sogar genetische Anleihen von unseren heute ausgestorbenen Mitstreitern, den Neandertalern und Denisova-Menschen, nehmen, um zu überleben), noch psychisch besonders stabil, sodass wir mit den neuen Herausforderungen, die wir uns durch unsere kulturelle Evolution selbst erschaffen haben, manchmal nur ungenügend zurechtkommen. Immer wieder gibt es Zusammenbrüche unserer Abwehrstrategien, körperlich und psychisch – Psychiater haben sich für diese Zustände einen bunten Strauß von Namen einfallen lassen: Depression, Schizophrenie, Sucht, Phobie, posttraumatische Belastungsstörung, Anorexia nervosa, Alzheimer-Demenz, um nur einige wenige zu nennen. Die übrige Medizin hat dafür nicht minder blumige Diagnosen: Diabetes mellitus, Arteriosklerose, Obesitas, Hypertonie, Krebs, gerne mit Zusätzen wie »kryptogen«, »idiopathisch« oder sogar »essentiell« versehen, wenn die jeweilige Fachdisziplin in Wirklichkeit keinen blassen Schimmer hat, woher diese Erkrankungen kommen und welche Ursachen sie haben. Aber warum, so könnte man mit Darwin fragen (er hat dies leider selbst nie getan, sondern es Anderen überlassen, die seine Theorie gründlich falsch verstanden oder bewusst instrumentalisiert haben, weil sie vom »Sein« auf »Sollen« schlossen, was unglaublich großes Leid über viele Menschen gebracht hat),[1] ist der Mensch scheinbar so unzureichend an seine Umwelt angepasst? Die Evolution hatte doch genügend Zeit, so könnte man argumentieren, die am besten Angepassten hervorzubringen; oder gibt es etwa »blinde Flecken« der Evolution?

Dieses Buch handelt davon, warum wir so sind, wie wir sind, warum wir gleichzeitig so unglaublich erfolgreich und doch so vulnerabel sind, und – eine unbequeme Erkenntnis – warum wir daran wenig bis nichts ändern können. Überhaupt sind Warum-Fragen die Lieblingsfragen evolutionär denkender Menschen; sie ergänzen nämlich die in den Naturwissenschaften und in der Medizin allgegenwärtigen Wie-Fragen. Wie etwas funktioniert, ist die Frage nach Mechanismen, zum Beispiel danach, wie ein Vogelflügel konstruiert ist, und wie die Mechanik des Fliegens funktioniert. Eine weitere Wie-Frage beschäftigt sich mit der Entwicklung des Flügels vom Schlüpfen aus dem Ei (oder bereits davor) zum voll funktionsfähigen Körperteil. Warum-Fragen richten ihr Augenmerk dagegen darauf, welchen Anpassungswert etwa die Fähigkeit zum Fliegen hat, warum sich Federn evolutionär gebildet haben und welche Abstammungslinie zur Entstehung von Federn und Flügeln geführt hat. Der spätere Nobelpreisträger für Medizin oder Physiologie, Nikolaas Tinbergen, hat die vier Grundfragen der Biologie (Mechanismus, Ontogenese, adaptiver Wert und evolutionärer Ursprung) in einem wunderbaren Aufsatz aus dem Jahre 1963 zusammengefasst, den er seinem Freund, Kollegen und Mit-Nobelpreisträger Konrad Lorenz zum 60. Geburtstag widmete. Tinbergens Fragen können wir uns auch über uns selbst stellen. Zu den ersten beiden, Mechanismus und Entwicklung, wissen wir bereits unglaublich viel, weil sich Wissenschaftler seit Jahrhunderten damit beschäftigt haben. Zu den anderen beiden Fragen, Anpassung und evolutionärer Ursprung, finden wir erst seit wenigen Jahrzehnten mehr heraus – und dieses Wissen wächst rasant. Warum gehen wir aufrecht auf zwei Beinen? Warum ist das menschliche Gehirn so groß? Warum wächst es nach unserer Geburt für ein weiteres Jahr mit vorgeburtlicher Geschwindigkeit? Warum brauchen wir so lange, um erwachsen zu werden, warum leben wir vergleichsweise lange und warum sind wir so abhängig von der Hilfe und Unterstützung Anderer? Warum haben wir wenige Nachkommen und es trotzdem geschafft, das gesamte Festland unseres Planeten (mit Ausnahme der Antarktis) zu bevölkern?

Aber können wir Tinbergens Fragen auch in Bezug auf Krankheiten stellen? Sicher, die beiden ersten sind ja, wie bereits erwähnt, Standardfragen in der Medizin. Aber einen Anpassungswert von Krankheit gibt es nicht. Eine Blinddarmentzündung bleibt eine Blinddarmentzündung, und daran ist nichts von evolutionärem Nutzen. Eine Depression bleibt eine Depression, und auch die bringt uns keine Anpassungsvorteile für das Überleben oder die Fortpflanzung. Wir müssen Tinbergens Fragen daher ein wenig anders stellen. Wozu ist ein Blinddarm gut, welche Funktion hat er, bietet er einen Anpassungsvorteil (dritte Frage), oder ist er nur ein unnützes Überbleibsel, geerbt von unseren Vorfahren (vierte Frage), das sich im ungünstigsten Fall entzündet? Die Antworten finden Sie in Kapitel 3.

Diese Herangehensweise ist für komplexe Erkrankungen wie Depressionen natürlich ungleich schwieriger. Wir können aber fragen, warum wir unterschiedliche Emotionen und Stimmungen haben. Wir wollen natürlich immer gut gelaunt sein, weil wir schlechte Laune als aversiv erleben, aber sind negative...

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