Die Identitätsfalle - Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt

Die Identitätsfalle - Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt

von: Amartya Sen

Verlag C.H.Beck, 2020

ISBN: 9783406693199

Sprache: Deutsch

208 Seiten, Download: 2641 KB

 
Format:  EPUB, PDF, auch als Online-Lesen

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Die Identitätsfalle - Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt



Vorwort


Oscar Wilde stellte die rätselhafte Behauptung auf: «Die meisten Menschen sind jemand anderes.» Das mag nach einem seiner ausgefallenen Wortspiele klingen, doch in diesem Fall begründete Wilde seine Ansicht sehr überzeugend: «Ihre Gedanken sind die Meinungen anderer, ihr Leben ist Nachahmung, ihre Leidenschaften sind Zitate.» Tatsächlich werden wir in erstaunlichem Maße von Menschen beeinflußt, mit denen wir uns identifizieren. Sektiererischer Haß kann sich, wenn er aktiv geschürt wird, zu einem Flächenbrand ausweiten – das haben wir in letzter Zeit im Kosovo, in Bosnien, Ruanda, Timor, Israel, Palästina, im Sudan und an vielen anderen Orten auf der Welt gesehen. Das Gefühl der Identität mit einer Gruppe kann, entsprechend angestachelt, zu einer mächtigen Waffe werden, mit der man anderen grausam zusetzt.

Viele der Konflikte und Grausamkeiten in der Welt beruhen denn auch auf der Illusion einer einzigartigen Identität, zu der es keine Alternative gibt. Die Kunst, Haß zu erzeugen, nimmt die Form an, die Zauberkraft einer vermeintlich überlegenen Identität zu beschwören, die andere Zugehörigkeiten überdeckt, und in einer entsprechend kriegerischen Form kann sie auch jedes menschliche Mitgefühl, jede natürliche Freundlichkeit, die wir normalerweise besitzen mögen, übertrumpfen. Das Ergebnis ist dann entweder krude elementare Gewalt oder heimtückische Gewalt und Terrorismus im globalen Maßstab.

Tatsächlich ist die Annahme, man könne Menschen ausschließlich aufgrund der Religion oder Kultur zuordnen, eine kaum zu unterschätzende Ursache potentieller Konflikte in der heutigen Welt. Der darin enthaltene Glaube an die alles andere beherrschende Macht einer singulären Klassifikation kann die ganze Welt in ein Pulverfaß verwandeln. Oft wird die Welt ausschließlich als eine Ansammlung von Religionen (oder «Zivilisationen» oder «Kulturen») betrachtet, unter Absehung von anderen Identitäten, welche die Menschen haben und schätzen, darunter Klasse, Geschlecht, Beruf, Sprache, Wissenschaft, Moral und Politik. Eine solche einseitige Einteilung löst mehr Konflikte aus als das Universum der pluralen und mannigfaltigen Zuordnungen, welche die Welt prägen, in der wir heute leben. Der Reduktionismus der hohen Theorie kann, oft ungewollt, zur Gewalt der niederen Politik beitragen.

Weltweite Bemühungen um die Überwindung dieser Gewalt werden zudem nicht selten durch eine ähnliche begriffliche Unklarheit behindert; wenn explizit oder implizit eine einzige Identität hingenommen wird, werden dadurch viele der naheliegenden Möglichkeiten des Widerstandes verbaut. Religiös begründete Gewalt wird dann am Ende nicht durch eine Stärkung der Zivilgesellschaft bekämpft, sondern durch die Einsetzung von «gemäßigten» Religionsführern, die die Extremisten in einer innerreligiösen Auseinandersetzung besiegen sollen, indem sie beispielsweise die Forderungen der jeweiligen Religion neu definieren. Wenn man die zwischenmenschlichen Beziehungen nur unter dem Aspekt der Beziehungen zwischen Gruppen sieht, etwa der «Freundschaft» oder des «Dialogs» zwischen Zivilisationen oder Religionsgemeinschaften, und dabei andere Gruppen ignoriert, denen die betreffenden Menschen gleichzeitig angehören (seien es Zusammenschlüsse wissenschaftlicher, sozialer, politischer oder sonstiger kultureller Natur), dann geht vieles, was im menschlichen Leben von Bedeutung ist, gänzlich unter, und man steckt die Menschen in kleine Kästchen.

Dieses Buch handelt von den erschreckenden Folgen einer solchen Verkürzung des Menschen. Sie verlangen von uns eine Überprüfung und Neubewertung etablierter Begriffe, darunter die ökonomische Globalisierung, der politische Multikulturalismus, der historische Postkolonialismus, die soziale Ethnizität, der religiöse Fundamentalismus und der globale Terrorismus. Die Chancen auf Frieden in der heutigen Welt könnten sehr wohl davon abhängen, daß wir die Pluralität unserer Zugehörigkeiten erkennen und anerkennen und daß wir als gemeinsame Bewohner einer großen Welt von der Vernunft Gebrauch machen, statt uns gegenseitig unverrückbar in enge Schubladen zu stecken. Vor allem müssen wir klar erkennen, wie wichtig die Freiheit ist, die wir bei der Bestimmung unserer Prioritäten haben können. Und im Zusammenhang damit müssen wir die Rolle und Wirksamkeit des wohlüberlegten öffentlichen Widerspruchs in den einzelnen Ländern und weltweit angemessen würdigen.

Das Buch ist hervorgegangen aus sechs Vorlesungen über Identität, die ich, der freundlichen Einladung von Professor David Fromkin vom Pardee Center folgend, zwischen November 2001 und April 2002 an der Universität Boston gehalten habe. Das Zentrum widmet sich der Zukunftsforschung, und als Titel der Vorlesungsreihe wurde «Die Zukunft der Identität» gewählt. Doch mit ein wenig Hilfe von T. S. Eliot konnte ich mich davon überzeugen, daß «Gegenwart und Vergangenheit … beide vielleicht gegenwärtig in der Zukunft [sind]». Als das Buch fertig war, zeigte sich, daß es sowohl von der Rolle der Identität in früheren und gegenwärtigen Zusammenhängen als auch von Prognosen für die Zukunft handelt.

Tatsächlich hatte ich zwei Jahre vor den Bostoner Vorlesungen, im November 1998, an der Universität Oxford unter dem Titel «Vernunft vor Identität» einen öffentlichen Vortrag über die Rolle der Vernunft bei der Wahl der Identität gehalten. Obwohl es bei der «Romanes Lecture», die regelmäßig an der Universität Oxford gehalten wird (den ersten Vortrag hatte 1892 William Gladstone gehalten, den von 1999 hielt Tony Blair), sehr förmlich zugeht und ich, kaum war der letzte Satz gesagt (und ehe noch ein Zuhörer eine Frage stellen konnte), in einer Prozession, an deren Spitze die leitenden Herren der Universität in bunten Gewändern marschierten, aus dem Saal geleitet wurde, erreichten mich hinterher doch noch einige hilfreiche Stellungnahmen, weil der Vortrag in einer kleinen Broschüre veröffentlicht wurde. Ich habe mich beim Verfassen dieses Buches auf den Text der Romanes Lecture und daneben auf die Erkenntnisse gestützt, die ich dank dieser Stellungnahmen gewonnen habe.

Überhaupt habe ich sehr profitiert von Kommentaren und Anregungen, die mir nach einer Reihe anderer öffentlicher Vorträge zugingen, welche ich über verwandte Themen (mit einem gewissen Bezug zum Thema Identität) gehalten habe; ich nenne hier die Annual Lecture vor der Britischen Akademie im Jahr 2000, einen Sondervortrag am Collège de France (auf Einladung von Pierre Bourdieu), die Ishizaka Lectures in Tokio, einen öffentlichen Vortrag in der St. Paul’s Cathedral, die Phya Prichanusat Memorial Lecture am Vajivarudh College in Bangkok, die Dorab Tata Lectures in Bombay und Delhi, die Eric Williams Lecture bei der Zentralbank von Trinidad und Tobago, die Gilbert Murray Lecture bei OXFAM, die Hitchcock Lectures an der Universität von Kalifornien in Berkeley, die Penrose Lecture vor der American Philosophical Society und die B. P. Lecture des Jahres 2005 im British Museum. Hilfreich waren auch die Diskussionen im Anschluß an diverse Vorlesungen, die ich im Laufe der letzten sieben Jahre in verschiedenen Ländern gehalten habe: am Amherst College, an der Chinesischen Universität Hongkong, der Columbia-Universität in New York, der Universität Dhaka, der Hitosubashi-Universität in Tokio, der Koc-Universität in Istanbul, dem Mt. Holyoke College, der New York University, der Universität Pavia, der Pierre Mendès France-Universität in Grenoble, der Rhodes University in Grahamstown, Südafrika, der Ritsumeikan-Universität in Tokio, der Universität Rovira i Virgili in Tarragona, der Universität Santa Clara, der Technischen Universität Lissabon, der Universität Tokio, der Universität Toronto, der Universität von Kalifornien in Santa Cruz und der Universität Villanova, natürlich zusätzlich zur Harvard-Universität. Diese Diskussionen haben mir sehr geholfen, ein besseres Verständnis der betreffenden Probleme zu entwickeln.

Dank für sehr nützliche Kommentare und Anregungen schulde ich Bina Agarwal, George Akerlof, Sabina Alkire, Sudhir Anand, Anthony Appiah, Homi Bhabha, Akeel Bilgrami, Sugata Bose, Lincoln Chen, Martha Chen, Meghnad Desai, Antara Dev Sen, Henry Finder, David Fromkin, Sakiko Fukuda-Parr, Francis Fukuyama, Henry Louis Gates Jr., Rounaq Jahan, Asma Jahangir, Devaki Jain, Ayesha Jalal, Ananya Kabir, Pratik Kanjilal, Sunil Khilnani, Alan Kirman, Seiichi Kondo, Sebastiano Maffetone, Jugnu Mohsin, Martha Nussbaum, Kenzaburo Oe, Siddiq Osmani, Robert Putnam, Mozaffar Qizilbash, Richard Parker, Kumar Rana, Ingrid Robeyns, Emma Rothschild, Carol Rovane, Zainab Salbi, Michael Sandel, Indrani Sen, Najam Sethi, Rehman Sobhan, Alfred Stepan, Kotaro Suzumura, Miriam Teschl, Shashi Tharoor und Leon Wieseltier. Mein Verständnis der Vorstellungen Mahatma Gandhis über Identität wurde enorm gefördert durch Diskussionen mit seinem Enkel Gopal Gandhi, der Schriftsteller und gegenwärtig Gouverneur von Westbengalen ist.

Robert Weil und Roby Harrington, meine Lektoren bei Norton, haben mir durch zahlreiche...

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