Dresden - Die zweite Zeit

Dresden - Die zweite Zeit

von: Kurt Drawert

Verlag C.H.Beck, 2020

ISBN: 9783406754784

Sprache: Deutsch

294 Seiten, Download: 3893 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Dresden - Die zweite Zeit



Bahnhöfe. Ankunft [1]


Ich suche etwas, von dem ich nur weiß, dass es mir fehlt. So bin ich zurück nach Dresden gekommen, ein halbes Jahrhundert danach. Aber auch, wenn ich meine Koffer auspacke, komme ich nicht an. Vielleicht gerade auch deshalb nicht, weil ich die Stadt noch aus den Siebziger- und Achtzigerjahren kenne, davon heute aber nichts mehr wiederfinden kann. Die gleichen Straßen sind andere Straßen, die gleichen Häuser andere Häuser. Alles ist anders, auch wenn es, seiner Form, seiner Hülle, seiner Haut nach, überhaupt nicht anders ist. Doch es geht eine Bewegung durch die Dinge hindurch, die noch die alten Dinge sind, durch die sie andere werden, fremde, rätselhafte Wesen. Es sind die Menschen, durch die sich alles, auch das Unveränderte, ändert. Und man selbst ist ja auch unentwegt ein anderer. Nur der Fluss ist mir vertraut, sein ruhiges Gleiten in weichen, mäandernden Bögen, von Wiesenlandschaft gerahmt und an den Hängen der Loschwitzer Höhe vorbei, heute wie gestern oder wie vor einhundert Jahren. Der Dresdener Dichter Heinz Czechowski, den seine Freunde, so er am Ende noch welche hatte, liebevoll Czecho nannten, schrieb einen der schönsten Verse dazu: Sanft gehen wie Tiere die Berge neben dem Fluss.

Die Wohnung im Stadtteil Pieschen, Arbeiterviertel, Prekariat statt Prominenz (was mir besser gefällt), ein Einkaufscenter schräg gegenüber, Discounter, ein kleines Obst- und Gemüsegeschäft, das einem Vietnamesen gehört, der aus der D.D.R. nicht mehr rechtzeitig wegkam (oder sind es schon dessen Kinder oder Enkelkinder?), die Straßenbahn gleich vor dem Hauseingang, der immer mit irgendetwas vollgestellt ist und verweht von Laub oder Fetzen Zeitungspapier, das berühmt/berüchtigte Brauhaus Watzke zwei Straßen weiter («Wo Sie vielleicht nicht so gern hingehen möchten?» – «Nein, und warum nicht?»), Ein-Zimmer-Apartment im vierten Stock, Kunststofffußboden, der mich an Plaste & Elaste aus Schkopau erinnert, unter mir ein IT-Management, eine Arztpraxis, die Sparkasse. Funktional, ausdruckslos, aber mit heller Fensterfront und einem (allerdings verwucherten) Dachgarten, der mich versöhnt. Die Vorstellung, nicht aus einer Wohnung ins Freie treten zu können, und sei es nur auf einen Balkon, jetzt, im Sommer, war mir fast unerträglich. Bin ich verwöhnt?

Der Kleiderschrank im Vorraum ist schmal, mehr ein Spind in zwei Reihen, zur Hälfte mit Handtüchern, Bettwäsche und den vergessenen Sachen früherer Gäste gefüllt. Ich hänge ein paar Hemden und Jacketts auf die schon verbogenen Bügel aus Draht, wie man sie von der Reinigung bekommt, und lasse alles andere im Koffer. Ich habe keine Lust, mir weitere Fächer zu suchen oder sie durch Umschichtung der Innenablagen frei zu räumen; es kommt mir plötzlich so absurd vor, dieses Hiersein, dieses Ankommen und Auspacken und Einräumen der Dinge des täglichen Bedarfs, im Grunde geübt und erfahren durch viele andere Stipendien an allen möglichen Orten der Welt, die besser oder schlechter, größer oder kleiner, vornehmer oder einfacher waren; dieses «Zurück-in-der-Heimat-sein-Wollen», das ich mir als ein mögliches Motiv so konkret bis zu diesem Moment gar nicht vorgestellt habe und das ich, in einer anderen Verfassung, entschieden bestritten und mit einem Zitat aus «Spiegelland» (von vor fast dreißig Jahren) fortfolgend widerlegt hätte: «Die Geschichte des Körpers ist hinlänglich beschrieben, und man muss sie verlassen, man muss seine Herkunft verlassen und deren Bilder und alles, was an sie erinnert. Und man verlässt sie, indem man sie ausspricht, wir müssen alles erst einmal sprechen, um es dann zu verlassen, wir sagen unseren Namen, und wir haben unseren Namen verlassen, wir sagen unsere Liebe, und wir haben unsere Liebe verlassen, wir haben eine Sprache, um die Sprache zu verlassen, und so verlassen wir uns selbst, um uns selbst zu erreichen, ich kann eine Stadt und eine Landschaft und eine Herkunft, ob es dieser holsteinische Ort ist oder das Sachsen oder das Märkische meiner Kindheit, ohne Trauer verlassen, ich kann mich ins Auto setzen und losfahren und ohne Mühe alles und für immer verlassen, denn es gibt keine Heimat, wenn es sie in uns selbst nicht gibt. Und heimatlos sind wir doch alle.»

Nach besinnungslosen Tagen voller Termine und Verabredungen verstaue ich auch die restlichen Sachen, die noch irgendwo auf dem Fußboden liegen, und räume die Bücher, die ich mir mitgebracht habe, in zwei frei gebliebene Regalfächer ein – die anderen sind mit Touristenliteratur, Kunstbänden und den Hinterlassenschaften ehemaliger Stipendiaten gefüllt: Die Biografie über Jacques Lacan von Élisabeth Roudinesco, an der ich schon fast ein halbes Jahr lese, weil sie so tiefgreifend und voluminös ist, dann Schriften Lacans, das berühmte «Seminar X», Essays von Zygmunt Bauman zur Flüchtlingskrise und zur «Angst vor den anderen», eine gerade in Dresden sicher ergiebige Lektüre, ebenso wie die von Julia Kristeva: «Fremde sind wir uns selbst», ein Text, der, schon in den 1980er-Jahren geschrieben, alles Wichtige vorausgesagt hat, Proust, Band drei und Band vier, «Das Leben» von Georges Perec, «Die Jahre» von Annie Ernaux, das mich nach vierzig Seiten plötzlich zu langweilen begann und in eine Krise des Lesens stürzte, weil mich dessen komplexe Struktur, nein, nicht überforderte, aber in mir auf eine Ungeduld stieß, die ich so noch nicht kannte, ein Maurice Blanchot, Titel gerade nicht greifbar, Nachschlagewerke, Wörterbücher, und, wie immer, der Duden, zerlesen und mit Markierungen versehen wie kein anderes Buch, nach alter Rechtschreibung, in Leinen gebunden und nur noch antiquarisch erhältlich. Auch ein paar eigene Bücher, für den Fall der Fälle, dass ich irgendwo eingeladen werde und der Gastgeber auch ein Leser ist (oder sich die Bücher wenigstens, nach Größe und Farbe des Covers geordnet, ins Fach stellt). Zumindest das ist ein praktischer Nebeneffekt des ansonsten kaum rentablen Schreibens: Man hat immer etwas zum Verschenken dabei. Die berühmten Bücher für den Zahnarzt, so hatte es mein toter Freund Raddatz genannt; dieser herrlich böse Kauz, und wie sehr er mir fehlt.

Auch Gerüche sind eine Sprache, die eine Geschichte erzählt, und diese Wohnung riecht nach Desinfektionsspray, wie man ihn von den Toiletten einer Arztpraxis kennt. Aber das ist nur der erste, flüchtige Eindruck, denn dahinter, hinter dieser strengen, scharfen Geruchswand, die zweifellos die Spuren einer letzten Putzbrigade sind, die im Auftrag des Vermieters kurz vor meiner Ankunft hier gesaugt, gefegt und aufgeräumt hat, liegen leichtere, wärmere, schwebende Gerüche, etwas süßlich, wie ein Parfum oder Atem der Haut oder Träume, die zu einem Duft geworden sind, und nur ich, in diesem Moment, nehme ihn wahr.

Es ist die Anwesenheit des anderen, die seiner tatsächlichen Anwesenheit noch recht lange folgt, eine abwesende Anwesenheit, eine lautlose, verborgene, ferne Anwesenheit, eine Anwesenheit in den Spuren und Dingen, die liegen geblieben oder vergessen worden sind wie diese Sachen im Spind auf dem Flur. Es ist die Anwesenheit einer anderen Sprache, eines anderes Textes, einer anderen Stimme, die sich mit einem Namen und einem Gesicht und einem Charakter verbindet und die für eine unbestimmt lange Zeit in die eigene Stimme hineinspricht, sie stört oder verhindert. Es ist nicht das grandiose Rauschen der Bücher in den Sphären der universalen Bibliothek, das jeder, der schreibt, zu hören und zu übertönen hat, sondern es ist die ganz konkrete andere Schreibexistenz, die sich ihr Zelt genau dort hingestellt hatte, wo man nun selber für eine Weile kampiert. Und es hat mich immer bedrängt, wenn dieser (oder diese) andere Manuskripte zurückgelassen hat, irgendwo in den Ablagen, angefangene Erzähltexte, Dialoge zu einem Stück, begonnene und plötzlich unfertig endende Gedichte, vielleicht, weil gerade Besuch gekommen ist; und dann, fein geordnet im oberen Fach, die eigenen Bücher, meistens die letzten, wenn vorhanden in einer Taschenbuchausgabe, die billiger ist, aber eben so, dass sie eine Herausforderung sind, in die Hand genommen und gelesen zu werden, dass sie sprechen (wo ein anderer, jetzt ich, seine unbedingte Ruhe haben will).

Es herrscht ein extremer Narzissmus unter uns Schreibexistenzen, durch den wir selbstverständlich davon ausgehen, dass jeder Satz, den wir für alle Welt niedergeschrieben und aufbewahrt haben, alle Welt auch interessiert. Aber anders würden niemals die Bücher entstehen, die entstehen, weil es diese Anmaßung, diese Zumutung, diese Überheblichkeit gibt. Und es gibt eine einzige Entschuldigung, die von Gültigkeit ist: Die Sätze, Bücher, haben es verdient, in einer Bibliothek zu erscheinen, weil sie etwas über sich selber Hinausweisendes sind – eine...

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