Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid - Roman | »Eine berührende Jahrhundertgeschichte« BRIGITTE

Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid - Roman | »Eine berührende Jahrhundertgeschichte« BRIGITTE

von: Alena Schröder

dtv Deutscher Taschenbuch Verlag, 2021

ISBN: 9783423438865

Sprache: Deutsch

368 Seiten, Download: 1209 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid - Roman | »Eine berührende Jahrhundertgeschichte« BRIGITTE



1.


Bevor sich ihre Großmutter weiter mit dem Sterben beschäftigen konnte, musste Hannah die Sache mit der Jalousie erledigen.

Es war ein deprimierendes Ritual zum Ende ihres wöchentlichen Besuchs im Altenheim, die immer gleiche Bestätigung der Gewissheit, in den Augen der Großmutter nicht mal die simpelsten Dinge auf Anhieb richtig machen zu können, immer einen zweiten und dritten Anlauf zu brauchen. Aber gut, sie konnte großzügig sein. Nichts leichter, als einer alten, des Lebens überdrüssigen Frau in einem Pflegeheim ein paar Momente reinen Überlegenheitsgefühls zu schenken.

Evelyn saß eingesunken in ihrem Ledersessel, der sich wie ein Schildkrötenpanzer um ihren krummen Rücken legte, beobachtete ihre Enkeltochter mit wachsender Frustration und gab mit ausgestrecktem Zeigefinger Anweisungen zur korrekten Einstellung der Jalousie.

»Weiter runter! Das ist zu weit! Und jetzt schräg stellen. Noch schräger! Herrgott, Kind!«

Hannah fummelte an der Fadenschlaufe und dem Acrylstab herum, bis die Oktobersonne, die durch die weißen Plastiklamellen schien, das Zimmer in besonders fahles Licht tauchte. In diesem mittleren Grau würde Evelyn den Rest des Tages sitzen, dem Ticken ihrer vielen Wanduhren lauschen oder fernsehen und auf den Tod warten, während sie gleichzeitig Vitaminbonbons lutschte und all die lebensverlängernden Pillen und Pulver zu sich nahm, die Hannah ihr in der Apotheke besorgt hatte.

Wenn sie ehrlich war, war es dieses Zusammenspiel aus Todessehnsucht und Überlebenswillen, das Hannah an ihren Besuchen bei der Großmutter festhalten ließ. Es war ein Gefühl, das sie beide verband. Mit dem Unterschied, dass Hannah die Tage an sich vorbeiziehen ließ, als würde sie die Welt durch eine Milchglasscheibe betrachten, während Evelyn mit ihren 94 Jahren wütend, trotzig und unzufrieden am Leben festhielt, so als hätte es noch Schulden bei ihr.

Immer dienstags fuhr Hannah in den äußersten Berliner Westen, wo ihre Großmutter seit einigen Jahren residierte. Das war auch der Tag, an dem sie nur bis zum frühen Nachmittag in der Bibliothek sitzen und so tun musste, als würde sie ihre Doktorarbeit schreiben. Der Tag, an dem sie nach stundenlangem Starren auf die leere Seite ihres »Diss_Fassung1.doc« betitelten Dokuments die Tasche packen und mit einem klaren Ziel vor Augen die Bibliothek verlassen konnte.

Sie überquerte den Potsdamer Platz, fuhr mit der U2 zum Theodor-Heuss-Platz, ging dort in die Apotheke direkt neben Blume2000, kaufte Doppelherz, Folsäuretabletten, Vitaminbonbons und Ginsengkapseln, stieg in den Bus in Richtung Stadtrand und überantwortete sich der eingespielten Choreografie dieser Besuche.

Das Seniorenpalais lag ein Stück die Heerstraße runter, hatte die Havel vor der Nase und den Soldatenfriedhof im Rücken und gab sich alle Mühe, nicht wie ein Altenheim, sondern mehr wie ein Vorstadthotel zu wirken. Der Eingang des dreigeschossigen Zweckbaus war mit einem ausladenden Glasvordach versehen worden, unter dem jahreszeitlich wechselnde Blumenarrangements wie auch Deko-Utensilien drapiert werden konnten, jetzt im Oktober ein Dutzend Zierkürbisse neben einer alten Milchkanne. Hannah grüßte den Pianisten, der an einem Flügel im Foyer das immer gleiche Richard-Clayderman-Medley spielte, und auf dessen Instrument man ebenfalls eine Ladung Zierkürbisse drapiert hatte. Sie lächelte die beiden älteren Damen an, die dem Geklimper lauschten, und griff sich einen Flyer mit den wöchentlichen Aktivitäten und Events vom Tresen der Anmeldung: Klavierkonzerte und wissenschaftliche Vorträge im hauseigenen Auditorium, Chorproben unter der Leitung eines pensionierten Domkantors, Aquarellkurse, Lesezirkel und Wassergymnastik im Therapiebecken sollten das Seniorenpalais von einer normalen Altenpflegeeinrichtung abheben.

Evelyn nutzte keines dieser Angebote, aus einer Art Trotz heraus, so wie sie auch ein bisschen stolz war, wenn sie trotz ihres Wohlstands nicht heizte. An einem der diversen Zerstreuungsangebote teilzunehmen wäre Evelyn wie eine Kapitulation vorgekommen, wie eine billige Ablenkung von der Zumutung ihrer Existenz. Dass das Essen einigermaßen genießbar war, dass an ihrem Türschild »Dr. med. Borowski« stand und das Personal sie auch bei der Fußpflege immer mit »Frau Doktor« ansprach, das allein rechtfertigte für sie den Betrag, den sie monatlich für ihr Zimmer im Seniorenpalais entrichtete.

Hannah fuhr mit dem Fahrstuhl in den zweiten Stock, den Geruch von Urin, Desinfektionsmitteln und Kantinenessen in der Nase. Verrückt, dachte sie, dass man in einem Altersheim mit ein wenig Landhausdeko und hochwertigem Mobiliar wirklich vieles übertünchen konnte, nur den elenden Anstaltsgeruch nicht. Sie ging den Flur entlang bis zur letzten Tür, klingelte und lauschte, wie ihre Großmutter sich stöhnend und mithilfe ihres Gehstocks aus ihrem Sessel stemmte, um ihr die Tür zu öffnen.

»Du bist spät!«, sagte Evelyn zur Begrüßung, auf die schneidende Art, die sie über die Jahre perfektioniert hatte, schon um davon abzulenken, dass ihre Augen etwas anderes sagten.

Hannah wusste, wie sehr ihre Großmutter tagelang von diesen Besuchen zehrte, sie herbeisehnte und genoss, auch wenn sie versuchte, so zu tun, als gewähre sie ihrer Enkeltochter die Gnade einer Audienz. Sie küsste Evelyn auf die Wange, hakte sie unter und brachte sie langsam zu ihrem Sessel zurück. Stellte ihre Apothekenausbeute auf den Couchtisch, zog sich den Mantel aus und setzte sich Evelyn gegenüber für die wöchentliche Ansprache.

»Kind, es reicht, ich will nicht mehr. Ich weiß nicht, warum dieses Elend hier noch so lange dauert. Ich hab alles satt. Ich guck auch schon keine Nachrichten mehr. Nur Schrott.«

Hannah schenkte ihrer Großmutter ein Lächeln, das Verständnis und Zuversicht ausstrahlen sollte. Sie war ein wenig gerührt, weil Evelyn sich offenbar schick gemacht hatte für ihren Besuch. Der mobile Friseur hatte ihr die dünnen weißen Haare in Form geföhnt und mit Haarspray fixiert, das hatte Hannah schon bei der Begrüßung gerochen. Und die Pflegerinnen hatten Evelyn am Morgen eine von den korallenfarbenen Blusen angezogen, die Hannah ihr einmal im KaDeWe gekauft hatte. Rund um die goldene Ginkgoblattbrosche prangte ein Sternbild aus Bratensoßenspritzern, und Hannah freute sich still über die Vorstellung, wie einer der jungen Männer, die im Rahmen ihres »Freiwilligen sozialen Jahres« im Altenheim aushalfen, »weil alte Leute total interessant sind«, beim Mittagessen versucht haben könnte, ihrer Großmutter die Serviette nicht etwa auf den Schoß zu legen, sondern um den Hals zu knoten, und wie Evelyn dem jungen Mann dann einen ihrer Todesblicke zugeworfen hätte, denn einer wie ihr band man kein Lätzchen um wie einem kleinen Baby.

»Sie haben einen neuen Pfleger eingestellt, die reinste Plaudertasche, du glaubst es nicht. Als bräuchte ich einen, der mit mir redet. Sollen mich einfach in Ruhe hier verrecken lassen, wofür bezahle ich die sonst. Warum hast du mir nicht die Folsäuretabletten gebracht, wo auch gleich noch Vitamin B12 mit bei ist? Die hatten doch immer so eine Kombi?«

»War aus, Omi. Ich hab dir den Veranstaltungsplan mitgebracht.«

»Brauch ich nicht. Was soll ich da? Basteln und singen wie im Kindergarten, mit lauter alten Leuten. Muss die ja alle schon beim Essen sehen, das reicht. Hast du jetzt endlich deinen Doktor?«

»Ich arbeite dran, Omi, das dauert noch.«

Evelyn hatte vor einiger Zeit einmal nach dem Thema von Hannahs Dissertation gefragt, und Hannah hatte es ihr widerstrebend verraten: »Transzendenz und Utopie im Frühwerk Georg Distelkamps«. Evelyn hatte leise geschnaubt, das Thema schien ihr albern, genau wie das ganze Vorhaben. Ein Doktortitel, der kein medizinischer war und für den man jahrelang in irgendwelchen germanistischen Bibliotheken und Archiven herumkriechen musste, war in ihren Augen vollkommen sinnlos. Und Hannah gab ihr insgeheim recht, das ganze Unterfangen war albern und sinnlos, aber es war besser als nichts. Und es war der einfachste Weg, ein Teil des Lebens ihres Doktorvaters zu bleiben, mit dem sie einmal geschlafen hatte und es jederzeit wieder tun würde.

Evelyns Lamento, ihre Inspektion der Apothekengaben, die kurze Nachfrage nach der Dissertation waren nun also abgehakt, als Nächstes folgte das Aufziehen der fünf im Zimmer verteilten Uhren, dann das vorsichtige Gießen der auf der Fensterbank aufgereihten Orchideen, schließlich das große Finale, der Endgegner: die Jalousie.

Und damit war Hannahs Besuch eigentlich beendet, normalerweise hätte sie sich von ihrer Großmutter mit einer kurzen Umarmung verabschiedet und hätte mit einer Mischung aus Erleichterung und Beklemmung die Zimmertür hinter sich zugezogen, aber ihr Blick fiel auf das niedrige Glastischchen neben Evelyns Sessel. Dort lag wie immer die Hörzu. Und in der Zeitschrift steckte wie ein Lesezeichen ein Brief mit ausländisch anmutenden Briefmarken und einem Poststempel mit hebräischen Schriftzeichen.

»Wer schreibt dir denn aus Israel, Omi?«

»Niemand.«

»Wie, niemand? Hast du den Brief nicht gelesen?«

»Doch.«

»Ja, und? Was steht drin?«

»Alter Kram.«

»Was für Kram?«

»Ich will damit nichts zu tun haben.«

»Warum nicht?«

»Mach mir den Fernseher an.«

»Omi, was für Kram?«

Evelyn fixierte Hannah für einen kurzen Moment, prüfend, abwägend, müde. Sie hätte ihn einfach wegwerfen sollen, diesen Brief, nun war es zu spät. Hannah würde ohnehin nicht lockerlassen, sollte sie sich doch kümmern um diesen ganzen alten Dreck. Diesen Trümmerberg aus Erinnerungen, den sie über die Jahrzehnte...

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