Die amerikanische Krankheit - Vier Lektionen der Freiheit aus einem US-Hospital

Die amerikanische Krankheit - Vier Lektionen der Freiheit aus einem US-Hospital

von: Timothy Snyder

Verlag C.H.Beck, 2020

ISBN: 9783406761379

Sprache: Deutsch

158 Seiten, Download: 3141 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Die amerikanische Krankheit - Vier Lektionen der Freiheit aus einem US-Hospital



1

Gesundheitsversorgung ist ein Menschenrecht


Ich war in Deutschland, als ich krank wurde. Am 3. Dezember wurde ich spät nachts in München mit Bauchschmerzen in ein Krankenhaus eingeliefert, aber am nächsten Morgen wieder entlassen. In Connecticut wurde ich am 15. Dezember für eine Blinddarmoperation ins Krankenhaus eingeliefert und nach weniger als vierundzwanzig Stunden wieder entlassen. In Florida, wo ich am 23. Dezember im Urlaub war, wurde ich wegen Kribbeln und Taubheit in Händen und Füßen ins Krankenhaus eingeliefert und tags darauf entlassen. Anschließend ging es mir immer schlechter, mit Kopfschmerzen und zunehmender Müdigkeit.

Am 27. Dezember beschlossen wir, nach New Haven zurückzukehren. Ich war mit der Behandlung in Florida nicht zufrieden und wollte nach Hause. Aber es war meine Frau Marci, die die Entscheidungen treffen und sich um alles kümmern musste. Am Morgen des 28. packte sie alles zusammen und machte unsere beiden Kinder reisefertig. Ich war eine Last. Ich musste mich nach dem Zähneputzen und dem Anziehen jedes einzelnen Kleidungsstücks hinlegen, um mich ein wenig auszuruhen. Marci kümmerte sich an den Flughäfen darum, dass wir jeweils einen Rollstuhl bekamen, und brachte uns dorthin, wo wir hin mussten.

Am Flughafen von Fort Myers saß ich im Rollstuhl mit den Kindern am Straßenrand, während sie den Mietwagen zurückgab. Sie hat sich an die Reise so erinnert: «Auf dem Flug bist du langsam aus dem Leben verschwunden.» Am Flughafen von Hartford schob sie mich vom Flugzeug direkt zum Auto einer Freundin und blieb dann bei den Kindern, um auf das Gepäck zu warten. Unsere Freundin wusste nicht, was passierte; sie warf einen Blick auf mich im Rollstuhl, sagte auf Polnisch: «Was haben sie getan?», und beförderte mich auf den Vordersitz. Ich legte mich flach hin, während sie nach New Haven raste, denn auf diese Weise tat mein Kopf weniger weh.

Ich bemühte mich darum, in die Notaufnahme von New Haven eingeliefert zu werden. Um vom Parkplatz in den Vorraum der Notaufnahme zu gelangen, musste ich einen Rollstuhl benutzen. Dort wartete eine weitere Freundin, eine Ärztin, auf mich. Auch wenn ich das damals noch nicht wusste, hatte ich eine massive Infektion meiner Leber, die in meine Blutbahn sickerte. Ich befand mich in einem Zustand, der als Sepsis bezeichnet wird; der Tod war nahe. Die Pflegekräfte, die den Eingang zur Notaufnahme bewachten, schienen mich nicht ernst zu nehmen, vielleicht, weil ich mich nicht beschwerte, vielleicht, weil die Freundin, die sich für mich einsetzte, zwar Ärztin, aber eine Schwarze war. Sie hatte vorher angerufen, um zu sagen, dass ich sofort behandelt werden müsse. Es zeigte keine Wirkung.

Nachdem ich fast eine Stunde zwischen einem Rollstuhl und einem Tisch im Vorraum zugebracht hatte, kam ich schließlich in die Notaufnahme. Dann passierte erst einmal nicht viel, also dachte ich darüber nach, was ich gesehen hatte, als ich vom Empfangsraum zu einem Bett der Notaufnahme gestolpert war. Ich war in vielen Notaufnahmen in sechs Ländern, daher habe ich ein gewisses Gespür dafür. Wie die meisten amerikanischen Notaufnahmen war auch diese überfüllt, überall auf den Fluren standen Betten. In Florida sechs Tage zuvor war die Überfüllung noch schlimmer gewesen. In New Haven hatte ich an diesem Abend das Glück, einen kleinen Bereich für mich allein zu haben: kein Zimmer, sondern eine Art Nische, die durch einen gelben Vorhang von den Dutzenden anderen Betten außerhalb davon getrennt war.

Nach einer Weile begann mich der Vorhang zu stören. Um in der Notaufnahme Beachtung zu finden, muss man herausfinden, wer das Personal ist, und von jemandem bemerkt werden. Bei geschlossenem Vorhang konnte ich nicht sehen, wer vorbeiging, und so war es schwierig, die Farben der Kittel und die Namensschilder zu erkennen und um Hilfe zu bitten. Die erste Ärztin, die den Vorhang öffnete, stellte fest, dass ich müde war oder vielleicht eine Grippe hatte, und gab mir Flüssigkeit. Meine verdutzte Freundin versuchte darauf hinzuweisen, dass mein Zustand doch etwas ernster sei. «Das ist jemand, der Rennen läuft», sagte sie. «Und jetzt kann er nicht mehr aufstehen.» Meine Freundin sagte auch, dies sei mein zweiter Besuch in der Notaufnahme innerhalb weniger Tage, weshalb besondere Aufmerksamkeit angebracht sei. Die Assistenzärztin blieb unbeeindruckt und ging, der Vorhang blieb halb offen. Ich erhaschte einen Blick auf die beiden Krankenschwestern, die mich aufgenommen hatten, und hörte, was sie sagten, als sie vorbeikamen: «Wer war sie?» «Sie hat gesagt, sie sei Ärztin.» Sie sprachen über meine Freundin. Sie lachten. Ich konnte das damals nicht aufschreiben, tat es aber später: Rassismus beschädigte in dieser Nacht meine Lebenschancen; er beschädigt die Lebenschancen anderer in jedem Augenblick ihres Lebens.

In New Haven, wie im Rest des Landes, sind die Notaufnahmen am Abend voll mit älteren Alkoholikern und jüngeren Menschen, die durch Messerstiche oder Schüsse verletzt wurden. Die Samstagabende in New Haven sind hart, für Ärzte, Pfleger, Personal und Patienten. Es war Samstagabend. Als ich versuchte, mein heftiges Zittern zu stoppen, zog ich die Laken hoch und erinnerte mich an einen anderen Samstagabend in derselben Notaufnahme, eine Szene, die sich in der benachbarten Bettnische abgespielt hatte.

Etwa acht Jahre zuvor war ich mit meiner schwangeren Frau in die Notaufnahme gekommen, nachdem sie sich beim Brotschneiden zwei Finger schwer verletzt hatte. Sie stand zwei Wochen vor ihrem Geburtstermin und war weniger koordiniert als sonst. Ich hörte den Schrei, eilte die Treppe hinunter, versuchte die Blutung zu stillen und rief die 911 an. Die Sanitäter dachten zunächst erkennbar an einen Fall von häuslicher Gewalt. Sie fanden uns auf dem Küchenboden hockend vor, überall Blut, ich hielt Marcis Hand über ihrem Herzen und erklärte unserem zweijährigen Sohn leise, was passiert war. Angesichts dieser Szenerie bewegten sich die Sanitäter sehr langsam und stellten mit geübter, kontrollierter Stimme Fragen.

Als meine Frau im Krankenwagen lag, wurden die Sanitäter lockerer und sagten, unser Junge sei süß. Ich wartete zu Hause mit meinem Sohn, bis Freunde kamen und ihn für die Nacht aufnehmen konnten, dann fuhr ich zu meiner Frau in die Notaufnahme. Wir warteten mehrere Stunden auf einen Spezialisten, weil offenbar einige der plastischen Chirurgen an einem Samstagabend nichts mit der Notaufnahme zu tun haben wollten. Unser Mann war erleichtert, dass die Finger nicht abgetrennt waren, wie er das zu dieser Zeit und an diesem Ort offenbar erwartet hatte. Als wir das Gebäude verließen, merkten wir, dass meine Frau einen um die Ecke ihres Bettgestells gewickelten Schal vergessen hatte. Ich trottete zurück, um ihn zu holen, und entdeckte am Geländer, wo der Schal gewesen war, ein Paar Handschellen, die am Handgelenk eines Mannes mit einer tiefen Messerwunde befestigt waren. Er hatte den Schal um den Hals. Ich ließ es bleiben.

In den frühen Morgenstunden des 29. Dezember, die sich in der Nische der Notaufnahme zäh dahinschleppten, hatte ich viel Zeit, mich zu erinnern. Ich wurde, ganz gemächlich, getestet auf Grippe, auf dieses und jenes, ohne wirkliches Ergebnis. Ich hatte mich zwei Wochen zuvor im gleichen Krankenhaus einer Blinddarmoperation unterzogen, aber niemand in der Notaufnahme schien geneigt, einen Blick in meine elektronische Krankenakte zu werfen. Ich hatte eine Mappe mit den Ausdrucken und eine CD aus dem Krankenhaus in Florida mitgebracht und war gerade noch geistesgegenwärtig genug, sie den Ärzten geben zu wollen. Sie hatten kein Interesse. «Wir machen das auf unsere Weise», sagte die Assistenzärztin. Die Ärzte und Pflegekräfte schienen nicht in der Lage zu sein, einen Satz zu beenden, geschweige denn meinen Fall als etwas mit einer Vorgeschichte zu betrachten.

Ich konnte sehen, oder besser gesagt: hören, warum sie abgelenkt waren. Die vertrauten Geräusche von jenseits des Vorhangs zogen auch meine Aufmerksamkeit auf sich, obwohl sich meine Vitalwerte verschlechterten und die Infektion sich in meinem Blut ausbreitete. Eine Alkoholikerin jenseits des Vorhangs auf der rechten Seite, dem Klang ihrer Stimme nach zu schließen eine ältere Dame, schrie immer wieder «Doktor!» oder «Schwester!». Ein zweiter Alkoholiker auf der linken Seite war ein geschwätziger Obdachloser. Als er nach seinem Gürtel gefragt wurde, schwadronierte er über den «Gürtel des Orion» und verglich sich selbst mit dem Jäger und Vergewaltiger aus der griechischen Mythologie. Jedes Mal wenn eine Ärztin oder Krankenschwester zu ihm kam, sagte er: «Du gehörst mir; versuche nicht, dagegen anzukämpfen.» Eine der Schwestern erklärte, sie gehöre niemandem. Als er entlassen wurde,...

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