Mords-Töwerland

Mords-Töwerland

von: Christina Bacher, Nadine Buranaseda, Jürgen Ehlers, Angela Eßer, Anja Feldhorst, Christiane Franke, Peter Godazgar, Carsten S. Henn, Susanne Kliem, Tatjana Kruse, Gunnar Kunz, Sandra Lüpkes, Gisa Paul

Gmeiner-Verlag, 2020

ISBN: 9783839268384

Sprache: Deutsch

309 Seiten, Download: 1581 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Mords-Töwerland



Juist sehen und sterben


Su Turhan


In dieser Sturmnacht im Februar flackerte der Vollmond wie ein Filmprojektor. Einem Zelluloidstreifen gleich zogen Wolkenberge und Regenzüge an dem Himmelskörper vorüber. Statt einem Knattern begleiteten Donnerschläge und Blitztiraden den Auswurf fahler Strahlen. Doch das Mondlicht fiel auf keine Filmkulisse. Es beleuchtete ein Schnellboot, das, von wütenden Wellen getragen, den Strand erreichte. Sieben erschöpfte Gestalten in Kampfmontur mitsamt ihrem Anführer sprangen aus dem Boot. Knapp waren sie dem Tod auf hoher See entronnen. Zornig und rau war das Meer mit ihnen umgegangen. Wetter und Seegang standen im Bund mit denen, die ihnen auf den Fersen waren. Wie die Technik. Ein Motorschaden hatte ihren Fluchtplan durchkreuzt. Es war ihnen unmöglich gewesen, die Jacht, die sie nach Holland bringen sollte, zu erreichen.

»Weg mit dem Boot!«, schrie der Anführer gegen den Sturm.

Die Männer mobilisierten die letzten Kräfte und zogen das Boot auf das offene Meer zurück. Zwei rannten mit Gewehren im Anschlag zur Düne, um die Aktion abzusichern. Der Anführer folgte ihnen und warf sich in den Sand. »Macht mir das ab, schnell«, raunzte er die zwei Frauen an.

Die eine, groß und kräftig, mit braunen Haaren, die unter der hochgezogenen Sturmhaube hervorlugten, griff zur Zange in der Seitentasche. Ratsch. Ratsch. Das Plastik der Handfesseln war entzwei. Er rieb sich die geröteten Handgelenke.

»Wie heißt du?«, fragte er sie.

»Wie willst du denn, dass ich heiße?«, entgegnete sie mit holländischem Akzent. Regentropfen massierten ihre vor Kälte gestrafften Wangen. Sie wischte sie mit dem Handrücken weg.

Er überlegte, wie er sie nennen könnte.

Seinen Namen wusste jeder, der mit ihm im Boot beinahe ertrunken wäre. Doch er kannte niemanden von der angeheuerten Crew. Da packte ihn die andere Frau, weniger kräftig, dafür sportlich und drahtig, und zog ihn mit sich.

»Wir sollten hier weg«, sagte sie und blickte dabei auf die Karte auf dem Tablet, das sie aus dem wasserfesten Rucksack geholt hatte. »Ein Stück weiter vorne ist ein Aufgang.«

Die Truppe stampfte los und erreichte den Strandweg, der zu einer asphaltierten Straße führte.

Plötzlich, auf Kommando der Sportlichen, warfen sie sich allesamt auf den nach Salz und Muscheln riechenden Sandstrand. Sie klappte das Nachtsichtgerät herunter, um ein Licht in der Ferne in Augenschein zu nehmen.

»Ein Mann mit Taschenlampe auf neun Uhr! Um die 50, 1,80 etwa. Unbewaffnet, so weit ich das bei dem Scheißwetter sehen kann.« Sie duckte sich tiefer. »Er kommt auf uns zu.« Dann zischte sie: »In Deckung, a cubierto, rápido!«

Die Frauen und Männer kauerten sich zusammen und lauschten dem tosenden Unwetter. Die Wellen waren zornig und uneinsichtig. Ununterbrochen versuchten sie, dem Meeresbecken zu entfliehen.

Der Mann mit Taschenlampe legte eine Pause im Kampf gegen die Naturgewalten ein. Er holte Atem und schob sein Gefährt gegen den Sturm. Zwei Schritte später zog ein schwarzer, großer Fleck, der auf den Wellen tänzelte, seine Aufmerksamkeit auf sich. Vermutlich Strandgut, freute er sich. Er ließ Fahrrad samt Bollerwagen zurück und kämpfte sich gegen den Peitschregen aus flüssigen Pfeilen über den Strandweg. Die tänzelnden Konturen auf dem Meer formten sich zu einem Umriss. Ein schnittiges Motorboot erkannte er und blickte sich um. Da war niemand in der stürmischen Nacht. Niemand, außer der dunklen, menschengroßen Seeschlange, die von der Düne her auf ihn zuschlängelte. Starr vor Schreck vergaß er zu atmen. Der Fluchtinstinkt verweigerte ihm den Dienst. Er bemerkte nicht, wie sich jemand in Kampfmontur von hinten näherte. Spürte nur, wie ihm plötzlich der Mund zugehalten wurde und die Schneide eines Messers seinen Hals berührte.

Unfähig, etwas von sich zu geben, schluckte er und ließ sich zu den kauernden Gestalten in der Düne zerren.

»Worauf wartest du?«, zischte der Anführer. »Mach ihn kalt! Sofort! Keine Zeugen!«

In Todesangst versuchte der Mann, sich zu befreien. Die Sportliche übersetzte im selben gehässigen Tonfall wie der Anführer ins Spanische. Augenblicklich stach der Kämpfer zu. Wie durch ein Stück Walseife drang die Messerscheide durch den Brustkorb des Mannes. Über sein Todesröcheln legte sich der schreiende Sturmwind.

*

»Jetzt brauch ich einen SCHNAPS.«

Die Intonation war Mist.

»JETZT brauch ich einen Schnaps.«

Auch Mist.

»Jetzt brauch ICH einen Schnaps.«

Erst recht Mist.

Die Frau in Jeans und Wolljacke warf das Textbuch auf den Wohnzimmertisch. Gleich darauf nahm sie es wieder an sich. Nervös überflogen die braunen Augen die markierten Stellen, die sie auswendig zu lernen hatte. Mist, alles Mist, der viele Dialog und überhaupt alles. In zwei Wochen war Premiere der Laientheatergruppe »Antjemöh« und sie stand zum ersten Mal in ihrem Leben auf der Bühne.

»Schnaps«, seufzte sie. »Ich brauch jetzt wirklich was.«

Tanja Krüger holte eine Flasche aus dem Schrank und stellte sich ans Fenster in ihrer Dienstwohnung. Draußen tobte ein Unwetter, wie sie es auf Juist noch nicht erlebt hat. Am Nachmittag hatte die Sonne noch freundlich auf die Insel geschienen, und sie beim Streifengang durch das Dorf den Reißverschluss der Dienstjacke geöffnet. Und jetzt herrschte draußen Weltuntergangsstimmung.

Der erste Februarmonat als Dienststellenleiterin hatte die einzige Polizeibeamtin auf Juist auf Trab gehalten. Die Dienstzeiten waren ziemlich klar geregelt. 24 Stunden täglich – mehr oder weniger. Schlägerei unter Frauen in der Dienstags-Yogagruppe. Ein Kutscher hatte Juists Straßen mit einer Formel-1-Rennstrecke verwechselt. Zugestellte Pakete hatten sich in Luft aufgelöst. Und da war ein Inselschüler, der im Supermarkt von einem Kumpel gefilmt wurde, wie er Zigaretten und Bierdosen klaute. Das dazugehörige Schulungsvideo für Kaufhausdiebe hatte sie auf YouTube vor dem Einschlafen im Bett entdeckt.

Sie hob die Flasche mit dem Wacholderbrand an die Lippen, merkte, wie ihr übel wurde, und verzichtete auf das Hochprozentige. Ein Blitzschlag ließ sie zusammenzucken.

Mittlerweile war es schon nach Mitternacht geworden. Höchste Zeit, ins Bett zu gehen, entschied sie und fuhr ihrem Border Collie Emma durch das schwarz-weiße Fell. Die junge, verspielte Hündin folgte ihr bis zu den Treppen und jaulte beleidigt, als sie zurück ins Körbchen geschickt wurde.

*

Die sieben Gestrandeten waren am menschenleeren Strand unterwegs. Schwarze Kampfmaschinen, bewaffnet bis an die Zähne. Das unbrauchbare Motorboot trieb auf dem offenen Meer. Irgendwann und irgendwo würde es gefunden werden und die Welt sie für tot halten.

Flankiert von den beiden Frauen trabte der Anführer an der Spitze. Die Holländerin studierte auf dem Tablet die Umgebungskarte. Die einzige Daseinsberechtigung für das Schmuckstück von Nordseeinsel schienen die Vögel zu sein, die hier brüteten und unter Artenschutz standen. Sie hob die Hand, woraufhin die Männer dahinter stoppten. Alle waren durchfroren und hungrig, alle wollten aus den durchnässten Klamotten und Stiefeln und sehnten sich nach einem Bier und ein paar Stunden Schlaf.

Der Anführer blickte mit auf die Karte. In der Nähe befand sich das »Seeferienheim«, das aus mehreren Backsteingebäuden bestand und einer Kaserne ähnelte. Er wandte sich der Sportlichen zu: »Nimm zwei mit und spähe das Areal aus.«

Die Dreiergruppe trabte zum Strandweg vor. Der frei zugängliche Grund lag im Dunkeln, aus keinem der Fenster schien Licht.

In dem Ferienheim, las der Anführer auf dem Tablet, machten Schulklassen und Erwachsenengruppen Urlaub. 17 Kilometer Sandstrand, eine verdammte Naturidylle mit Meer drum herum, auf der sie gestrandet waren, fluchte er. Was ihn besonders störte, war der stolz vorgetragene Hinweis, dass die Insel autofrei sei. Er liebte motorisierte Fahrzeuge in jedweder Form.

Die Späher zeigten sich. Die Luft war rein. Die Truppe marschierte weiter. Als der Anführer zur Sportlichen aufschloss, informierte sie ihn, dass der Hausmeister sie entdeckt habe.

»So eine Scheiße!«, krakelte er. »Wehe, du hast das Problem nicht beseitigt!«

»Dafür werde ich doch bezahlt, oder?«, antwortete sie seelenruhig.

Er grinste zufrieden. »Weißt du was? Ich nenne dich Carmen, das passt zu dir«, sagte er und entschied: »Wir verbringen die Nacht dort.«

*

Am nächsten Morgen wütete das Unwetter unverändert weiter. Tanja Krüger saß vor einer Tasse Kaffee am Küchentisch. Die ersten dienstlichen Telefonate hatte sie hinter sich. Die Seenot berichtete, Thomas Koch, der das Monopol auf Buchhandlungen auf Juist innehatte, schlafend über einen Krimi in seinem Motorboot vor dem aufziehenden Sturm gerettet zu haben. Fährverbindungen waren bis auf Weiteres abgesagt. Der Flugverkehr war zum Erliegen gekommen. Die Handvoll Touristen, die sich in der Vorsaison auf der Insel aufhielt, waren dazu verdammt zu bleiben. Dieses Schicksal teilten sie jetzt mit den Insulanern.

Tanja war freiwillig gekommen. Nachdem sie sich auf der Insel umgesehen hatte, entschloss sie sich, in der Mitte ihres Lebens eine Weiche zu stellen. Seit einem halben Jahr war die Oberkommissarin der Arm der Gerechtigkeit auf Juist. Sie allein sorgte für Recht und Ordnung. Zwischen ihrem Hoheitsgebiet und dem Festland lag die unberechenbare Nordsee. Dass vom Festland und den umliegenden Inseln keine schnelle Hilfe zu erwarten war, sollte sich ein Vorfall ereignen, den sie nicht selbst...

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