Ende in Sicht - Roman

Ende in Sicht - Roman

von: Ronja von Rönne

dtv Deutscher Taschenbuch Verlag, 2022

ISBN: 9783423439442

Sprache: Deutsch

256 Seiten, Download: 793 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Ende in Sicht - Roman



ENTFERNT VERWANDT


»Und das Kärtchen hast du nicht dabei?« Juli blickte in das strenge Gesicht der Krankenschwester und schüttelte den Kopf, worauf diese laut aufschnaufte.

»Name?«

»Juli Pfingsten«, antwortete Juli, »wie der Monat, und dann wie der Feiertag.«

»Sind ja echte Scherzkekse, deine Eltern«, kommentierte die Krankenschwester und drehte den Kopf zu Hella.

»Und Sie, sind Se mütterlicherseits?«

»Bitte was?«

»Na ob Se mütterlicherseits sind oder vom Vater?«, wiederholte die Krankenschwester diesmal lauter.

»Nee, nee, ich hab die nur von der Fahrbahn gezogen«, antwortete Hella wahrheitsgemäß und Juli nickte bestätigend.

»Das kann ich hier nicht ankreuzen.« Die Krankenschwester runzelte die Stirn und starrte feindselig auf das Aufnahmeblatt.

»Sind Se denn sonst wie verwandt?« Sie sah wieder auf ihr Klemmbrett, ohne Hellas Äußerung zu kommentieren.

»Nein«, wiederholte Hella mit Nachdruck, »ich kenn die nicht. Die ist vor mir auf die Fahrbahn gestürzt.«

»Also keine Verwandtschaft«, nörgelte die Krankenschwester und hakte irgendwas ab.

»Nein, keine«, wiederholte Hella.

»Was ist mit Allergien? Oder Unverträglichkeiten?«, fragte die Krankenschwester und klickte mit ihrem Kugelschreiber herum.

»Wer, ich?«, fragte Hella verwirrt.

»Ob Sie von Erdnüssen rote Pusteln oder blaue bekommen, is mir relativ wurscht.« Die Schwester warf einen misstrauischen Blick in Richtung Hella: »Oder sind Sie auch auf den Kopf gefallen?«

»Ich, nein.«

»Na bitte. Also, Erdnüsse, Gluten, Hausstaub. Oder Laktose oder so. Ob die Kurze allergisch ist, muss ich wissen.«

»Keine Ahnung. Ich hab ja schon gesagt, ich kenn das Mädchen nicht.« Hella wurde ungeduldig.

»Wo hat deine Oma dich denn gefunden?«, fragte die Krankenschwester mit Blick auf Juli. Hella hatte keine Lust mehr, sich herumzustreiten, und korrigierte die Schwester nicht.

Juli drehte langsam den Kopf zur Seite und murmelte erschöpft:

»Nee, bin auf nix allergisch.«

»Besteht eine Schwangerschaft?«

Da Juli nicht reagierte, wandte die Krankenschwester ihren Blick wieder zu Hella.

»Keine Ahnung, von mir aus könnte sie die Tochter eines griechischen Gottes und schwanger mit Vierlingen sein!«

Juli schüttelte ergeben den Kopf.

»Wir haben also keine Allergien. Und schwanger sind wir auch nicht.«

Die Krankenschwester nickte zufrieden in Julis Richtung und noch zufriedener auf ihren Bogen: »Der Herr Doktor ist dann gleich für Sie da.«

 

Mit einem flatschenden Geräusch ihrer Gummischlappen verließ die Krankenschwester das Untersuchungszimmer. Juli ließ sich auf die Liege fallen. Beide Frauen konzentrierten sich darauf, die andere Person im Raum zu ignorieren. Denn letzten Endes, das war ihnen beiden bewusst, waren sie Fremde, die nur irgendeine alberne Laune des Schicksals in dieses viel zu helle Behandlungszimmer in der Nähe von Bielefeld befördert hatte.

 

Der »Herr Doktor« stellte sich als eine für die späte Uhrzeit verstörend gut gelaunte junge Notärztin mit feuerroten Haaren heraus, die Julis Wunden routiniert desinfizierte. Dann verkündete sie, dass die Verletzung an ihrem Schienbein viel schlimmer aussehe, als sie wahrscheinlich sei, und von alleine verheilen sollte, der Schnitt auf der Wange allerdings getackert werden müsse. Kurzerhand beschloss sie, dass eine örtliche Betäubung dafür nicht notwendig sei. Innerhalb einer Minute war Julis Wange geflickt, dann entfernte die Ärztin mit einer Pinzette die Asphaltkiesel aus Julis Bein, verband den Unterarm und warf einen schnellen Blick auf den Patientenbogen, den die Schwester ihr hinterlegt hatte: »Ein Sturz also, na, das passiert schon mal.«

Juli korrigierte die Ärztin nicht, warf nicht ein, dass es sich nicht um ein kurzes Stolpern gehandelt hatte. Sie wollte keine Panik auslösen, und noch viel weniger wollte sie die Nacht ein Stockwerk höher, auf der psychiatrischen Jugendabteilung, verbringen. »Wir röntgen sicherheitshalber noch kurz«, beschloss die Ärztin und verschwand mit Juli und ihrer Liege um die Ecke.

Einige Minuten später hielt die Ärztin die Röntgenbilder von Julis Knie gegen eine helle Wandbeleuchtung, dann lächelte sie Juli an: »Würde mal sagen, Glück im Unglück. Das sind nur Prellungen, tun weh, gehn aber von alleine wieder weg. Hattest du Kopfschmerzen oder ist dir übel?«

Juli schüttelte den Kopf.

Die Ärztin wandte sich zu Hella: »Dann auch kein Verdacht auf Schleudertrauma oder Gehirnerschütterung. Wir können sie hierbehalten, aber ich glaube nicht, dass das nötig ist. Die Wunde auf der Wange sollte alle vierundzwanzig Stunden desinfiziert und das Pflaster gewechselt werden, ich geb Ihnen ein paar mit. Falls ihr in den nächsten Tagen doch noch schlecht werden sollte oder sie sich übergeben muss, kommen Sie bitte unbedingt wieder. Ansonsten können Sie Ihre Enkelin gerne wieder mitnehmen, das Wichtigste ist Bettruhe und ein gewohntes Umfeld. Und bitte reichen Sie die Krankenkassenkarte in der nächsten Woche nach.«

Die Ärztin lächelte verbindlich, nickte, mehr zu sich selbst, und verließ dann das Behandlungszimmer, ohne Juli oder Hella die Hand zu geben.

 

Juli saß auf ihrer Liege, der Bleischutz noch immer über ihrem Oberkörper. Hella saß auf dem Plastikstuhl daneben, ebenso still, nur ihr linkes Bein zuckte nervös. Der Minutenzeiger der Wanduhr war auf halb vier stehen geblieben und bewegte sich keinen Millimeter. Ansonsten gab es wenig, auf das die beiden starren konnten. Die Behandlung war durch, und Hella hatte keine Ahnung, was das Protokoll für eine zivilcouragierte Bürgerin ab jetzt für sie vorsah. Sollte sie die Teenagerin nach Hause fahren? Musste sie das? Die Polizei rufen? Einfach gehen?

 

Juli war alles egal. Man kann sich als Teenager in einem Erste-Welt-Land darauf verlassen, dass alles irgendwie in Ordnung kommt, selbst wenn einem alles sehr plakativ am Arsch vorbeigeht. Dafür sorgt irgendwer, die Schule, Eltern, Sozialarbeiter, das Jugendamt, manchmal eben auch seltsame alte Frauen. Irgendwer ist immer irgendwie verantwortlich, und bis man achtzehn ist, hat man den Vorteil, das nicht selbst sein zu müssen. Diese komische Frau mit den grau-lila Haaren, das ahnte Juli, schien allerdings nicht besonders erpicht darauf, die Situation irgendwie zu lösen. Sie stellte keine Fragen, beschloss nichts, befahl Juli nichts. Überhaupt benahm sie sich nicht so, wie Juli es von einer Oma erwartet hätte. Stattdessen schwieg die alte Frau neben ihr fast noch lauter, als Juli je geschwiegen hatte. Und während sie schwieg, klappte sie nervös ihr altes Siemens-Handy auf und zu.

 

Hella hatte derweil ganz andere Sorgen. Sie musste schlafen, um danach wacher weiterfahren zu können, und der kleine Exkurs hatte schon mehr als genug Zeit in Anspruch genommen. Die Strecke war weit und anstrengend, nicht nur für ihren altersschwachen Passat, auch für sie. Und sie brauchte in Ermangelung anderer Aufputschmittel dringend ein paar Stunden Schlaf, der weit entfernt schien. Sonst würde es sich noch schwieriger bis unmöglich gestalten, wenn sie jetzt weiter Sozialarbeiterin spielte.

 

»Na, ich geh dann mal«, sagte Hella etwas zu laut und mehr zu sich. Ihr Unfallopfer war versorgt, es war spät, und es gab keinen Grund, sich jetzt noch für dieses Mädchen mit dem sturen Blick verantwortlich zu fühlen. Sie stand auf und griff nach ihrer Tasche, etwas langsamer, als sie es wohl sonst gemacht hätte. Juli blickte geradeaus und blutete trotzig das Pflaster auf ihrem Schienbein durch.

»Ist ja schon spät. Und du kommst doch jetzt allein klar«, sagte Hella und schaute auf die sinnlose Wanduhr vor sich.

Sie wartete. Nicht unbedingt auf eine Absolution dieses seltsamen Teenagers, zumindest aber doch auf ein störrisches Nicken, ein »’kay« oder sonst einen Laut, den normale Pubertierende so von sich geben. Irgendwas, was ihr das Verlassen dieses Behandlungszimmers erleichtert hätte.

 

»Ja dann«, bemerkte Hella, und Juli nickte, starrte dabei hinab auf ihre Schuhe.

»Du rufst mal besser deine Eltern an, damit die dich hier abholen.« Hella drehte sich in der Tür unschlüssig um. »Die Nummer von deinen Eltern weißt du doch sicher auswendig, oder?«

Juli überlegte, was sie antworten sollte. Die Antwort war einfach, ja, klar wusste sie die Handynummer ihres Vaters auswendig. Sie hatte allerdings nicht die geringste Lust, ihm jetzt unnötig Sorgen zu machen. Sie war schließlich auf die Brücke geklettert, um zu sterben, nicht um einen Hilfeschrei an ihre Umwelt abzusetzen. Hier im Krankenhaus konnte sie allerdings auch nicht bleiben, und vielleicht war es Kliniken sogar verboten, Fünfzehnjährige alleine in die Nacht zu entlassen. Dann also Plan B: Improvisation.

 

Juli hob den Kopf: »Können Sie mich noch ein Stück mitnehmen?«

Hella fuhr herum und blickte den Teenager mit großen Augen an. Sie zögerte. Da waren zu viele Gedanken und Fragen, die durch ihren Kopf schossen.

»Ja klar«, hörte Hella sich schließlich sagen und fragte: »Wo musst du denn hin?«

Tja, wo musste sie hin? Ursprünglich war der Plan gewesen, nie wieder irgendwo hinzumüssen. Aber das konnte sie schlecht erklären. Um sich wenigstens ein bisschen mehr Zeit zu erkaufen, um klar zu werden, was sie jetzt tun sollte, antwortete Juli: »Kurz hinter dem Autobahnkreuz ist ein Rastplatz, da kann mein Vater mich abholen. Ich schreib ihm ne SMS.«

Hella nickte, als würden Julis Worte...

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