Der Geist von Tiger Bay - Roman

Der Geist von Tiger Bay - Roman

von: Nadifa Mohamed

Verlag C.H.Beck, 2021

ISBN: 9783406776830

Sprache: Deutsch

368 Seiten, Download: 546 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Der Geist von Tiger Bay - Roman



KOW
1


Tiger Bay, Februar 1952


«Der König ist tot. Lang lebe die Königin.» Aus dem Radio knistert die Stimme des Sprechers und umwabert die gespannt lauschenden Gäste von Berlin’s Milk Bar wie der Nebel die schwermütigen Straßenlaternen, deren fahles Licht kaum das Straßenpflaster erhellt.

Der Geräuschpegel steigt, Milkshakes und Colas klirren gegen Irish Coffees, Stühle schrammen über die schwarz-weißen Fliesen.

Berlin hämmert mit einem Löffel gegen die Theke und brüllt mit seiner Löwendompteurstimme: «Hebt eure Gläser, meine Damen und Herren, auf unseren alten König! Möge er ein schönes Seemannsgrab bekommen.»

«Da unten wird er viele von uns treffen», gibt der alte Ismail zurück, «und auf dem Weg runter kann er schon mal an seinen Entschuldigungen arbeiten.»

«Ich w-w-w-ette, die hat er sch-sch-schon auf dem T-t-t-otenbett g-g-g-geschrieben.» Ein Gast kichert hämisch.

Durch den Rock ’n’ Roll und die zischende Espressomaschine hindurch hört Berlin seinen Namen. «Maxa tiri?», fragt er, als sich Mahmood Mattan durch die Menge zur Bar vordrängt.

«Ich hab gesagt, mach mir noch ’n Kaffee.»

Berlin fasst seine Frau, die aus Trinidad stammt, um die Taille und schiebt sie Richtung Mahmood. «Lou, gib diesem Querulanten noch ’n Kaffee.»

An der Bar stehen viele von Tiger Bays somalischen Seeleuten, die mit ihren Krawatten, Uhrenketten und Trilby-Hüten wie eine Mischung aus Gangster und Dandy aussehen. Nur Mahmood trägt einen Homburg, den er tief ins eingefallene Gesicht bis zu den traurigen Augen gezogen hat. Er ist ein ruhiger Geselle, taucht stets so lautlos auf, wie er verschwindet, mischt sich nie unter die Seeleute, Spieler, Diebe. Wenn er anwesend ist, halten die Männer ihre Habseligkeiten fest und die Augen auf seine langen, eleganten Finger gerichtet, nur Tahir Gass, erst vor Kurzem aus der Irrenanstalt von Whitchurch entlassen, rückt dicht an ihn heran, er sucht vergebens Mahmoods Freundschaft. Tahir befindet sich auf einem Weg, den niemand mit ihm gehen kann oder will, unsichtbare Elektroschocks lassen seine Glieder zucken, Gefühlsregungen flackern über sein Gesicht wie über eine Kinoleinwand.

«Die Unabhängigkeit steht vor der Tür.» Ismail nimmt einen Schluck aus seinem Henkelbecher und lächelt. «Indien is weggebrochen, wie sollen sie sich jetzt bei den anderen rausreden?»

Berlin reißt drohend die Augen auf. «Die sagen, wir haben dich bei den Eiern, Bimbo! Dein Land, deine Züge, deine Flüsse, deine Schulen, alles gehört uns, auch der Kaffeesatz in deiner Tasse. Du weißt, was sie den Mau-Mau und sämtlichen Kikuyu in Kenia antun – sperren sie ein, Männer wie Kinder.»

Mahmood nimmt von Lou seinen Kaffee entgegen und grinst, er schert sich nicht um Politik. Während er seine Manschetten zurechtzupft, rinnt Kaffee vom Becherrand auf seine blank gewienerten Schuhe, er zerrt ein Schnupftuch aus der Hosentasche, wischt die Tropfen weg und poliert nach. Die Brogues sind neu, schwarz und spitz wie Neufundlandkohle, so gute Schuhe trägt keiner der anderen Kerle hier an den Füßen. Drei Pfundnoten brennen ihm ein Loch in die Tasche, wollen beim Poker eingesetzt werden, abgeknapst hat er sie sich, aufs Mittagessen verzichtet und nachts aufs Feuer, wie eine Mumie in seine Decken gewickelt. Er lehnt sich über die Bar und stößt Ismail an. «Kommt Billa Khan heut Abend?»

«Bin ich ausm Dschungel? Wenn’s bloß so wär! Ich sag zu ihm, schau dich um, das hier is der Dschungel, überall Büsche und Bäume. In meinem Land wächst gar nichts», beendet Ismail sein Witzchen und sieht Mahmood an. «Woher soll ich das wissen? Frag einen deiner Ganovenbrüder.»

Mit einem verächtlichen Schmatzen saugt Mahmood Luft durch die geschlossenen Zähne, schüttet den Espresso hinunter und greift nach seinem beigefarbenen Regenmantel. Dann schiebt er sich durch die Menge hinaus ins Freie.

Wie ein Schaufelschlag trifft ihn die kalte Luft ins Gesicht, und obwohl er den Mantel eng um sich zieht, packt ihn die eisige Februarnacht und lässt seine Zähne klappern. Sein Blick wird durch einen grauen Fleck getrübt, wo ihm einmal ein glühender Kohlensplitter aus dem Heizkessel ins rechte Auge geflogen war. Ein Schmerz, so durchdringend, dass es ihn hochhob und er mit dem Rücken auf der abkühlenden Schlacke hinter ihm landete. Schaufeln und Pricker klirrten zu Boden, als ihm die anderen Heizer zu Hilfe kamen, ihm die Finger aus dem Gesicht rissen. Seine Tränen verzerrten ihre vertrauten Gesichter, ihre Augen waren die einzigen hellen Flecken im düsteren Maschinenraum; unter dem Schrillen des Notalarms marschierte der leitende Ingenieur schweren Stiefelschritts die Stahltreppe nach unten. Danach lag Mahmood zwei Wochen lang mit dickem Kopfverband in einem Hamburger Krankenhaus.

Dieser Fleck und ein kaputter Rücken sind die einzigen körperlichen Andenken an sein Seefahrerleben; seit knapp drei Jahren ist er nicht mehr an Bord gewesen, hat stattdessen als Gießer gearbeitet oder sich um armselige kleine Heizkessel in Gefängnissen und Krankenhäusern gekümmert. Doch die See ruft ihn noch immer, so laut wie die Schwalben, die über ihm durch die Luft gleiten, aber Laura und die Jungen haben ihn hier vor Anker gelegt. Söhne, die dem walisischen Blut der Mutter zum Trotz somalisch aussehen, sich unter «Daddy, Daddy, Daddy»-Rufen an seine Beine klammern, seinen Kopf nach unten ziehen, sein pomadisiertes Haar zerwühlen und seine Wangen mit ihren dicken Schmatzern nach Limonade und Milch riechen lassen.

Die Straßen sind ruhig, nur die Nachricht vom Tod des Königs weht aus vielen der niedrigen, windumspielten Häuserreihen, an denen er vorbeikommt. Jeder Radioempfänger auf seine eigene Zeit eingestellt, mal eine Sekunde früher dran, mal eine Sekunde später. In einigen wenigen Geschäften auf der Bute Street brennt Licht: bei Zussens Pfandleihe, wo viele seiner Kleider auf Ablöse warten, beim zypriotischen Friseur, wo er sich das Haar schneiden lässt, und bei Volackis Laden, wo er früher seine Seemannsausrüstung gekauft hat, jetzt nur noch gelegentlich ein Kleid für Laura ergattert. Die hohen Fenster von Cory’s Rest sind beschlagen, hinter dem Bleiglas tanzen und lachen Gestalten. Er steckt den Kopf durch die Tür, vielleicht ist einer seiner Stammgegner da, doch um den Snookertisch herum nur unbekannte westindische Gesichter. Früher hatte er zu der Arbeiterarmee gehört, die aus aller Welt rekrutiert wurde, um die Tausenden im Krieg gefallenen Seeleute und Hafenarbeiter zu ersetzen: Dockarbeiter, Talleyleute, Vorarbeiter, Stauer, Winschleute, Lukenvize, Qualitätskontrolleure, Kornträger, Holzträger, Geileute, Lademeister, Speicherarbeiter, Hafenwächter, Reepschläger, Fährleute, Decksleute, Lotsen, Schleppkahnfahrer, Ewerführer, Quartierleute, Schmiede, Waterclerks, Lascher, Messer, Wäger, Baggerfahrer, Nietenklopper, Stauvize, Baumwollküper, Kranführer, Kohlenzieher und sein eigenes Bataillon, die Heizer.

Mahmood lässt das prächtige Cory’s Rest mit seinen girlandenverzierten Säulen hinter sich und geht Richtung Hafen, dem vom Nebel rötlich gefärbten Himmel entgegen. Er beobachtet gern das nächtliche Industriespektakel: das dreckige Meerwasser, das Feuer zu fangen scheint, während Fässer mit geriffelter, weiß glühender Schlacke von den East Moors Steelworks in die Abendflut gekippt werden. Die Eisenbahn am Kai rattert und kreischt, Wagen schießen zwischen den Schwaden der Stahlwerkschornsteine und der wütenden, dampfenden See hin und her. Ein gespenstischer und betörender Anblick, der ihm jedes Mal den Atem stocken lässt, beinahe erwartet er, dass dieses brodelnde, zischende, vom Benzin schillernde Wasser eine Insel oder einen Vulkan ausspuckt, aber bis zum Morgen kühlt es wieder zu mürrisch-dunkler Gleichförmigkeit ab. Das Hafengelände und das angrenzende Viertel Butetown umfassen gerade einmal eine Quadratmeile, doch für ihn und seine Nachbarn ist dies eine ganze Metropole. Im vorigen Jahrhundert stampfte ein schottischer Adliger den Hafen aus dem Marschland und benannte die Straßen nach seinen Verwandten. Mahmood hat das Gerücht gehört, der erste Scheck der Welt über eine Million Pfund Sterling sei hier an der Kohlenbörse gezeichnet worden. Auch jetzt noch treten hier morgens Männer eines anderen Kalibers, die Melone auf dem Kopf, die Arbeit im Mercantile Marine Office oder im Custom House an. Sowohl beim Marine Office als auch bei der Seaman’s Union weiß man, durch welche Tür man einzutreten hat, wenn man Ärger vermeiden will, das gilt gleichermaßen für weiße wie schwarze Arbeiter.

Das Viertel...

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