Das narrative Gehirn - Was unsere Neuronen erzählen | Platz 1 der Sachbuchbestenliste der WELT

Das narrative Gehirn - Was unsere Neuronen erzählen | Platz 1 der Sachbuchbestenliste der WELT

von: Fritz Breithaupt

Suhrkamp, 2022

ISBN: 9783518772478

Sprache: Deutsch

368 Seiten, Download: 2762 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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Das narrative Gehirn - Was unsere Neuronen erzählen | Platz 1 der Sachbuchbestenliste der WELT



9Einleitung


Warum verbringen wir so viel Zeit mit Narrationen? Damit meine ich nicht nur die Filme, die wir uns reinziehen, und die Bücher, die wir lesen, sondern auch die vielen Unterhaltungen, die wir darüber führen, wer was mit wem gemacht hat, die Posts in den sozialen Medien sowie unsere eigenen Gedanken dazu, was wir in bestimmten Situationen tun sollen, die uns wie kleine Clips erscheinen können, welche wir anschauen.

Die Antwort auf diese erste Frage ist einfach: In den Narrationen erleben wir die Erlebnisse von anderen mit und teilen ihre Erfahrungen. Das ist möglich, weil wir uns in Narrationen ja an die Stelle von anderen versetzen können und dann tatsächlich »ihre« Erfahrungen selbst machen. Wir müssen nicht selbst auf eine Herdplatte fassen, nicht selbst eine Bank überfallen oder unseren Partner betrügen, um zu erkennen, dass das vielleicht keine so gute Idee ist. Etwas in uns hält uns davor zurück, und das ist nicht die Moral oder das bessere Wissen, sondern eine irgendwie schon gemachte Erfahrung. Und zugleich kommen wir durch Narrationen in den Genuss, auch das Verbotene einmal zu erproben. Auf Englisch sagt man so schön: »You can't have your cake and eat it.« Doch mit Narrationen können wir ebendies: Wir können die Erfahrungen (narrativ, mental) machen und zugleich die Handlungen nicht ausführen. Wir verdoppeln unser Leben. Wir können auch bereits Getanes ein zweites Mal 10miterleben oder uns eine geplante Handlung vor Augen führen – von minimalen Reaktionen bis zu den großen Lebensentscheidungen.

Insofern ist narratives Denken ein großartiges Medium des Erlebens und Planens. Man muss kein Evolutionsbiologe sein, um zu erkennen, dass narratives Denken einen echten Überlebensvorteil bietet. Wir sind so auf mehr Lebenssituationen vorbereitet und können künftiges Handeln planen. Wir lernen alle voneinander und uns gelingt dabei etwas Unglaubliches: Die Erfahrungen von einem Menschen können zu den Erfahrungen von anderen Menschen werden. Wir sind keine Einzelwesen, sondern ein Netzwerk von Individuen. Schwämme, Ameisen und Säugetierherden schaffen es nur in Fällen unmittelbarer Gefahr, diese Erfahrung als blinde Panik weiterzugeben. Wir dagegen multiplizieren unsere Erfahrungen ständig.

Doch hier stellt sich eine zweite Frage: Warum lassen wir uns auf dieses narrative Denken ein? Nur weil etwas uns Selektionsvorteile verschafft, machen wir es nicht. Wir lassen uns ja auch auf die mühselige Fortpflanzung mit all den Problemen der Partnersuche nicht ein, weil sie unseren Genen bei der Verbreitung hilft, sondern weil Sex uns magisch anzieht und die Liebe uns glücklich macht. Umgekehrt ist nicht alles, was wir tun, in evolutionärer Hinsicht sinnvoll. Ich wage es etwa zu bezweifeln, dass die hier in den USA beliebtesten Nahrungsmittel meinen Mitbürgern guttun.

Diese zweite Frage, warum wir uns auf das narrative Denken einlassen, ist die Ausgangsfrage, mit der sich dieses Buch beschäftigt. Auch hier werden wir eine einfache These als Antwort geben: Wir lassen uns auf das narrative Denken ein, weil es uns mit dem Erleben von Emotionen belohnt. Die jeweilige Emotion ist an sich bereits etwas, das wir positiv 11bewerten. Und zugleich haben die meisten Emotionen auch je eigene Stoppfunktionen, die uns erlauben, aus der Narration auszusteigen. Die narrativen Emotionen, von denen in diesem Buch die Rede sein wird, bestimmen, wie wir leben und auch wie wir gut leben.

Diese These wiederum wird uns zu einem dritten Gedanken führen. Narrationen machen uns in einem gewissen Sinne süchtig. Oder vorsichtiger gesagt: Bestimmte narrative Abfolgen prägen sich uns so sehr ein, dass wir sie immer wieder aufsuchen und uns an sie gewöhnen. Jeder hat da seine eigenen Schwächen. Manche wollen sich als Helden sehen, andere zelebrieren dagegen Opferrollen, denen sie emotional etwas abgewinnen können. Hier stellt sich die Frage, ob uns das narrative Denken, das uns aus unserem engen Dasein hinausführt und das Leben anderer miterleben lässt, nicht auch gefangen hält. Anders gefragt: Können wir unsere »Narrative ändern«, wie heutzutage gerne gesagt wird?

Damit kommen wir zu einer letzten, großen Frage, zu der danach, wer wir sind, weil wir in Narrationen denken, miterleben und leben. Sind wir narrative Lebewesen?

Ich bin im falschen Film


Jeder ist seines Glückes Schmied, so heißt es. Aber vor allem kennen wir den umgekehrten Fall: Wir graben uns unsere Grube selbst. Das heißt nicht nur, dass wir unbeabsichtigt in die Fallen tappen, die wir anderen stellen. Vielmehr vertiefen wir unser Unglück immer wieder, indem wir unsere Weltsicht auf ein solches Unglück ausrichten. Wer kennt nicht einen Pessimisten, für den noch die beste Nachricht irgend12wie zum Beleg seines Unglücks wird. Man möchte solch einen Pessimisten rütteln und schütteln, doch es würde nichts ändern, sondern ihm nur wieder bestätigen, dass alle gegen ihn sind, inklusive der Freunde, die ihn schütteln. Es ist offensichtlich nicht leicht, seine Muster zu ändern.

Ebenso wie der Pessimist können wir alle gefangen sein in unserer Sicht der Dinge. Dahinter steckt aber nicht nur irgendeine schwammige Weltsicht, sondern vielmehr konkrete Erwartungen, wer wir sind, wo wir sind und wie wir uns unsere Zukunft vorstellen. Gute Mädchen kommen in den Himmel, um einen Erfolgstitel zu zitieren, aber wir anderen bleiben, wo wir sind. Und das heißt vor allem, wir alle sind immer wieder in unseren Narrationen gefangen. Wir erwarten bestimmte Dinge und sind in unseren Erwartungen verstrickt, bis diese eintreten. Und wenn sie nicht eintreten, warten wir so lange, bis sie dann doch eintreten. Im Prozess des Wartens gestalten wir die tatsächlichen Ereignisse in unserem Geist so um, dass sie unserer Sicht entsprechen. In jeder lächelnden Großmutter starrt manchem nur der Wolf entgegen. Und in den USA können viele Menschen auch nach sechs skandalträchtigen Jahren nicht anders, als Trump für einen Helden zu halten.

Als Professor kenne ich viele Kollegen, die an einer Vision aus Teenager-Jahren festhalten. Sie wollen Professor in Harvard werden, einen Nobelpreis gewinnen oder ein Allheilmittel gegen Krebs finden. Das sind alles schöne Ziele, die zur Arbeit anspornen. Doch statt dass solche Visionen die Kollegen glücklich machen, sind sie bitter, frustriert und neidisch auf das, was andere geschafft haben. Die Narration, die sich diese Kollegen ausgesucht haben, passt nicht mehr zu ihrem Leben. Aber fallen lassen können sie sie anscheinend auch nicht.

13Andere Menschen sehen sich ständig in der Opferrolle. Es ist natürlich wichtig, zu erkennen, wann man unterdrückt wird, um sich dagegen aufzulehnen oder Hilfe zu suchen. Doch das Opfersein kann auch zur Rolle werden, die immer wieder aufgesucht wird, weil jemand diese Rolle zu gut kennt und in sie wie in einen passenden Schuh schlüpfen kann. Immerhin stellt die Opfernarration das Opfer moralisch als überlegen dar und spricht ihm die Verantwortung und Handlungsmöglichkeit ab. Für das Opfer ist die Narration insofern eine Entlastung.

Eine weitere Variante, die ich häufig von meinen deutschen Freunden höre, ist die Narration von der einen fleißigen Arbeitsbiene und den hundert faulen Parasiten. Leider ist es kein Märchen mit gutem Ausgang, denn meine Freunde sehen sich von Ausbeutern und Faulpelzen umstellt. Am Ende gewinnt immer der Falsche, obwohl doch meine Freunde allein den Betrieb aufrechterhalten.

Genauso können bestimmte Familienrollen uns gefangen nehmen. Eine davon ist die Supermutter, die in vielen Kulturen anzutreffen ist. Immer lächelnd, hält sie den Haushalt am Laufen, ist die beste Freundin der Freunde ihrer Kinder, hat in einer sauberen Küche immer Essen für alle parat und macht zugleich noch Karriere … Der Druck ist groß, da bleibt kaum eine freie Minute, vor allem, wenn etwas mal nicht klappt.

Oder man verliebt sich in den falschen Menschen. Eigentlich verliebt man sich ja in den richtigen Menschen, aber wenn es nicht weitergeht oder der Geliebte ein Soziopath ist, wird aus dem Richtigen plötzlich der Falsche. Doch man kann den geliebten Menschen nicht...

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