The Journey of Humanity - Die Reise der Menschheit durch die Jahrtausende - Über die Entstehung von Wohlstand und Ungleichheit | »Mehr Weltverständnis ist (...) kaum zu haben.« Deutschlandfunk

The Journey of Humanity - Die Reise der Menschheit durch die Jahrtausende - Über die Entstehung von Wohlstand und Ungleichheit | »Mehr Weltverständnis ist (...) kaum zu haben.« Deutschlandfunk

von: Oded Galor

dtv Deutscher Taschenbuch Verlag, 2022

ISBN: 9783423440769

Sprache: Deutsch

384 Seiten, Download: 5218 KB

 
Format:  EPUB, auch als Online-Lesen

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The Journey of Humanity - Die Reise der Menschheit durch die Jahrtausende - Über die Entstehung von Wohlstand und Ungleichheit | »Mehr Weltverständnis ist (...) kaum zu haben.« Deutschlandfunk



Die rätselhafte Reise der Menschheit


Ein Eichhörnchen huscht über das Fenstersims eines Gebäudes, errichtet im Stil der venezianischen Gotik, auf dem Campus der Brown University. Einen Moment lang hält es inne und späht neugierig auf ein seltsames Menschenwesen, das seine Zeit damit vertrödelt, an einem Buch zu schreiben, anstatt – wie es sich eigentlich gehörte – eifrig Futter zu horten. Dieses Tier ist ein Nachfahre jener Eichhörnchen, die schon vor Jahrtausenden in den nordamerikanischen Urwäldern umherflitzten. Wie seine fernen Vorfahren und seine Zeitgenossen weltweit ist es zumeist damit beschäftigt, Nahrung zu sammeln, Räubern aus dem Weg zu gehen, nach Paarungspartnern Ausschau zu halten und sich vor Wetterunbilden zu schützen.

Und tatsächlich war die meiste Zeit der menschlichen Existenz, seit dem Erscheinen des Homo sapiens als eigene Spezies vor fast 300000 Jahren, der wesentliche Antrieb des menschlichen Lebens jenem des Eichhörnchens bemerkenswert ähnlich gewesen, nämlich bestimmt von Überlebensinstinkt und Vermehrungstrieb. Der Lebensstandard entsprach mehr oder weniger dem Existenzminimum und veränderte sich weltweit im Lauf der Jahrtausende kaum. Erstaunlicherweise haben sich jedoch unsere Daseinsbedingungen in den letzten paar Jahrhunderten radikal gewandelt. Im Verhältnis zur langen Geschichte unserer Spezies hat die Menschheit praktisch über Nacht eine dramatische und beispiellose Verbesserung der Lebensqualität erfahren.

Stellen wir uns vor, einige Bewohner Jerusalems zu Zeiten Jesu, also vor rund 2000 Jahren, bestiegen eine Zeitmaschine und reisten in das von den Osmanen regierte Jerusalem des Jahres 1800. Zweifellos wären sie beeindruckt von der prächtigen neuen Stadtmauer, der erheblichen Zunahme der Stadtbevölkerung und den vielen Neuerungen. Doch so sehr sich das Jerusalem des 19. Jahrhunderts von jenem unter römischer Herrschaft unterschied, unsere Zeitreisenden könnten sich verhältnismäßig leicht in ihre neue Umgebung einfinden. Natürlich müssten sie ihr Verhalten den neuen kulturellen Gegebenheiten anpassen, aber sie wären in der Lage, weiter die Gewerbe auszuführen, die sie im frühen ersten nachchristlichen Jahrhundert ausgeübt hatten, und könnten problemlos ihren Lebensunterhalt bestreiten. Denn die Kenntnisse und Fertigkeiten, die sie sich im antiken Jerusalem angeeignet hatten, waren an der Wende zum 19. Jahrhundert immer noch zeitgemäß. Unsere Abenteurer wären zudem ähnlichen Bedrohungen, Krankheiten und Naturgewalten ausgesetzt wie zu Zeiten Jesu, und auch an ihrer Lebenserwartung hätte sich nicht viel geändert.

Und jetzt stellen wir uns vor, was sie erleben würden, kämen sie 200 Jahre später an, im Jerusalem zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Sie wären restlos verblüfft. Ihre Fertigkeiten wären jetzt obsolet, für die meisten Berufe würde eine entsprechende Ausbildung verlangt, und Technologien, die ihnen wie Zauberei erschienen, wären Alltäglichkeiten. Außerdem wären zahlreiche einst todbringende Krankheiten ausgerottet, wodurch sich die durchschnittliche Lebenserwartung schlagartig verdoppelte, was wiederum eine völlig neue Einstellung zum Leben sowie eine längerfristige Lebensplanung erfordern würde.

Die enorme Diskrepanz zwischen diesen Epochen macht es schwierig, die Welt zu begreifen, die wir vor nicht allzu langer Zeit hinter uns gelassen haben. Wie der englische Philosoph Thomas Hobbes im 17. Jahrhundert konstatierte, war das menschliche Leben damals ekelhaft, tierisch und kurz.[1] Zu seiner Zeit starb ein Viertel der Neugeborenen noch im ersten Lebensjahr an Kälte, Hunger oder diversen Krankheiten, viele Frauen überlebten die Entbindung nicht, und die Lebenserwartung betrug selten mehr als vierzig Jahre. Die Welt versank in Dunkelheit, sobald die Sonne hinter dem Horizont verschwand. Frauen, Männer und Kinder verbrachten lange Stunden damit, Wasser zu ihren Wohnstätten zu transportieren, sie wuschen sich selten und hausten die Wintermonate über in rauchgeschwängerten Unterkünften. Die meisten Menschen lebten in weit verstreuten Bauerndörfern, verließen kaum je ihren Geburtsort, ernährten sich von kümmerlicher und eintöniger Kost und konnten weder lesen noch schreiben. Es war eine trostlose Zeit, in der eine ökonomische Krise für die Menschen nicht einfach nur hieß, den Gürtel enger zu schnallen, sondern gleich zu massenhafter Hungersnot und Tod führte. Das meiste, was die Menschen heute plagt, ist nichts im Vergleich zu dem Elend und den Tragödien, die unsere gar nicht so fernen Vorfahren zu erdulden hatten.

Lange herrschte die Ansicht vor, die Lebensstandards seien schrittweise über die gesamte Menschheitsgeschichte hinweg gestiegen. Doch das ist ein verzerrtes Bild. Zwar verlief die technologische Entwicklung weitgehend graduell und beschleunigte sich im Lauf der Zeit, doch dies schlug sich nicht in einer entsprechenden Verbesserung der Lebensbedingungen nieder. Die erstaunliche Steigerung der Lebensqualität in den vergangenen zwei Jahrhunderten ist in Wahrheit das Ergebnis eines plötzlichen Wandels.

Im Grunde führten die meisten Menschen noch vor wenigen Jahrhunderten ein Leben, das eher mit dem ihrer fernen Vorfahren und der meisten anderen Menschen vor Tausenden von Jahren vergleichbar war als mit jenem ihrer heute lebenden Nachfahren. Die Lebensverhältnisse eines englischen Bauern an der Wende zum 16. Jahrhundert waren ähnlich denen eines chinesischen Leibeigenen im 11. Jahrhundert, eines Maya-Kleinbauern vor 1500 Jahren, eines griechischen Hirten im 4. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung, eines ägyptischen Bauern vor 5000 Jahren oder eines Schäfers in Jericho vor 11000 Jahren. Doch vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis heute – eigentlich nur ein Wimpernschlag im Vergleich zur gesamten Menschheitsgeschichte – hat sich die Lebenserwartung mehr als verdoppelt, und das Pro-Kopf-Einkommen ist in den am meisten entwickelten Weltregionen um das 20-Fache gestiegen, im weltweiten Maßstab immerhin um das 14-Fache (Abb. 1).[2]

Diese kontinuierliche Verbesserung war derart tiefgreifend, dass wir oft aus dem Blick verlieren, wie außergewöhnlich diese Periode im Vergleich zu unserer übrigen Geschichte ist. Wie lässt sich dieses Rätsel des Wachstums erklären – diese kaum begreifliche Veränderung in der Lebensqualität, was Gesundheit, Wohlstand und Bildung angeht, die während der letzten paar Jahrhunderte stattgefunden hat und sämtliche anderen Veränderungen seit dem Erscheinen des Homo sapiens in den Schatten stellt?

Im Jahr 1798 legte der englische Gelehrte Thomas Malthus eine plausible Theorie für den Mechanismus vor, der dazu führte, dass die Lebensstandards immerzu stagnierten und somit die Gesellschaften seit unvordenklichen Zeiten in Armut gefangen waren. Wann immer Gesellschaften dank technologischer Innovationen einen Überschuss an Nahrungsmitteln erwirtschafteten, so Malthus’ These, konnte die daraus resultierende Erhöhung des Lebensstandards nur vorübergehend Bestand haben, da sie unweigerlich zu einem entsprechenden Anstieg der Geburtenraten und einer Verminderung der Sterblichkeitsraten führte. Es war deshalb nur eine Frage der Zeit, dass der nachfolgende Bevölkerungszuwachs die Nahrungsüberschüsse aufzehrte, die Lebensbedingungen somit auf das Existenzminimum zurücksanken und die Gesellschaften wieder so arm waren wie vor den Innovationen.

Abb. 1: Das Rätsel des Wachstums

Der dramatische Anstieg des Pro-Kopf-Einkommens in sämtlichen Weltregionen während der letzten zwei Jahrhunderte folgte auf Jahrtausende der...

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