Toxikologie für alle - Wann ist ein Stoff gefährlich?
von: Helmut Greim, Heidrun Greim
Wiley-VCH, 2022
ISBN: 9783527826513
Sprache: Deutsch
304 Seiten, Download: 1828 KB
Format: EPUB, auch als Online-Lesen
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Toxische Wirkungen (gefährliche Stoffeigenschaften)
Abhängig von Reaktivität, Löslichkeit, Verweildauer im Körper und Ausscheidung können Chemikalien oder ihre Metaboliten (Abbauprodukte im Organismus) eine Vielzahl toxischer Wirkungen auslösen. Lokale Wirkungen wie Haut- oder Schleimhautreizung sind zu erwarten, wenn eine reizende Substanz, z. B. eine Säure, mit der Haut oder der Schleimhaut des Auges, des Magen-Darm-Traktes oder der Atemwege in Kontakt kommt. Viele Stoffe wirken jedoch systemisch, das bedeutet, erst nach der Aufnahme in den Organismus (Resorption), wenn sie aus dem Magen-Darm-Trakt, aus der Atemluft oder durch die Haut in den Körper gelangen, sich im Körper verteilen und damit das Zielorgan der toxischen Wirkung erreichen.
Unabhängig von der Anwendung oder dem Vorkommen eines Stoffes sind für die Ermittlung der gefährlichen Stoffeigenschaften (engl. hazard) möglichst viele der aufgelisteten Informationen aus Erfahrungen beim Menschen, aus Tierversuchen oder aus In-vitro-Daten (Untersuchungen im Reagenzglas) erforderlich. Diese sind:
- akute, subchronische und chronische Toxizität, also Toxizität nach ein- oder mehrmaliger Exposition,
- Haut- und Schleimhautreizung und Fototoxizität,
- Sensibilisierung und Fotosensibilisierung,
- Genotoxizität (in vitro und in vivo),
- Kanzerogenität,
- Reproduktionstoxizität,
- Toxikokinetik: Aufnahme, Verteilung, Verstoffwechslung und Ausscheidung,
- Wirkungsmechanismen.
Für die meisten der dafür notwendigen Untersuchungen gibt es Empfehlungen für deren Durchführung, wie sie z. B. in den OECD-Guidelines festgelegt sind (siehe https://www.oecd.org/env/ehs/testing/oecdguidelinesforthetestingofchemicals.htm). Damit wird erreicht, dass die Studien die erforderliche Qualität haben und auch miteinander verglichen werden können.
In allen Fällen ist die Dosis-Wirkungs-Beziehung zu ermitteln, um die Steilheit der Dosis-Wirkungs-Kurve, die Dosis ohne schädliche (adverse) Wirkung (engl. no observed adverse effect level, NOAEL) und die niedrigste Dosis mit schädlicher (adverser) Wirkung (engl. lowest observed adverse effect level, LOAEL) zu bestimmen und natürlich auch die toxischen Wirkungen zu erfassen.
1.1 Akute Toxizität, subchronische und chronische Toxizität
Der Umfang der experimentellen Untersuchungen zur Toxizität einer Substanz richtet sich nach der vorgegebenen Fragestellung. Wenn es darauf ankommt, bei der Entwicklung von Chemikalien, z. B. von Arzneimitteln oder Pflanzenschutzmitteln, gefährliche und somit für die vorgesehene Verwendung unbrauchbare Substanzen zu identifizieren und von der Weiterentwicklung auszuschließen, sind wenige orientierende Versuche, wie die Bestimmung der akuten Toxizität oder die Überprüfung auf genotoxische Wirkungen, ausreichend. Dies trifft ebenso zu für die orientierende Überprüfung der Toxizität von Verunreinigungen, die bei einem Syntheseverfahren anfallen, oder wenn Prioritäten für weitergehende Untersuchungen mehrerer Chemikalien gesetzt werden sollen. In diesen Fällen ist es sinnvoll, sowohl die Untersuchungen der akuten Toxizität als auch der Genotoxizität an dafür geeigneten In-vitro-Testsystemen vorzunehmen.
Zur Ermittlung der akuten Toxizität werden die letale (tödliche) Dosis nach einmaliger oraler oder dermaler Applikation durch Verabreichung ansteigender Dosen bei einzelnen Tieren bestimmt. Die Tiere werden anschließend für ein bis zwei Wochen beobachtet, um sofortige oder verzögerte Wirkungen zu erfassen.
Die Ermittlung der sog. LD50, d. h. der Dosis, bei der die Hälfte der Versuchstiere sterben, dient einerseits dazu, die toxische Dosis einer Chemikalie und die dabei auftretenden Symptome zu ermitteln, andererseits einen Anhaltspunkt zu erhalten, bis zu welchem Dosisbereich Untersuchungen mit wiederholter Dosierung durchgeführt werden können.
Diese über unterschiedliche Zeiträume verlaufenden Untersuchungen werden zumeist an Ratten und Mäusen durchgeführt, je nach Fragestellung auch an Hunden oder Rhesusaffen. Dabei wird die zu untersuchende Substanz täglich im Futter, im Trinkwasser oder mit einer Schlundsonde appliziert, auf die Haut aufgetragen (dermal) oder über die Atemluft eingeatmet (Inhalationsversuch). Als Versuchsdauer üblich sind 28 Tage (subakut), 90 Tage (subchronisch) oder bei Untersuchungen auf mögliche krebserzeugende Wirkung (Kanzerogenitätsversuche) an Nagetieren zwei Jahre (chronisch) mit und ohne Nachbeobachtungszeit. Während des Versuches werden alle Veränderungen der Tiere dokumentiert, bei Versuchsende die Tiere getötet und alle Organe makroskopisch (d. h. mit dem bloßen Auge) und histopathologisch (d. h. mit dem Mikroskop) untersucht. Dazu kommen je nach Fragestellung biochemische und wirkungsmechanistische oder bestimmte Untersuchungen, wenn z. B. der Verdacht besteht, dass es zu toxischen Wirkungen auf das Nervensystem kommen kann.
Die Versuche werden so durchgeführt, dass neben einer Kontrollgruppe, die unter den gleichen Bedingungen wie die Versuchsgruppen gehalten wird und nur das Lösungsmittel oder Futter ohne Beimischung erhält, mindestens drei Gruppen mit mindestens je fünf Tieren mit der Testsubstanz in drei unterschiedlich hohen Dosierungen behandelt werden. Dabei soll die niedrigste Dosis ohne Wirkung bleiben und damit den NOAEL ergeben, die mittlere Dosis den LOAEL und die höchste Dosis die maximal tolerierte Dosis (engl. maximal tolerated dose, MTD). Diese Dosis soll bei den Versuchstieren am Versuchsende leichte toxische Wirkungen zeigen, z. B. eine Verminderung des Körpergewichts um 10% im Vergleich zur Kontrollgruppe.
Die MTD soll zeigen, dass ausreichend hoch dosiert worden ist und die verwendeten Versuchstiere geeignet sind, eine toxische Wirkung nachzuweisen. Das Problem mit der MTD ist jedoch, dass es sich häufig um eine so hohe Dosierung handelt, die weit über der möglichen Exposition des Menschen liegt. Sie kann zur Sättigung von Enzymen und damit zu Störungen der Entgiftung oder der DNA-Reparatur (bei Stoffen, die auf das Erbmaterial der Zelle wirken) führen, die bei niedrigerer Exposition nicht gegeben sind. Daher ist die Prüfung, ob die bei der MTD auftretenden Befunde für den Menschen eine Bedeutung haben, eine besondere Herausforderung.
Die Versuche werden zumeist von zertifizierten Untersuchungslabors durchgeführt und müssen den international vorgeschriebenen Versuchsbedingungen z. B. den OECD-Prüfrichtlinien (OECD-Guidelines) entsprechen.
1.2 Haut- und Schleimhautreizung und Fototoxizität
Diese Studien, die zumeist an Kaninchen durchgeführt werden, erfassen haut-, augen- und schleimhautreizende einschließlich nekrotische (zelltötende) Wirkungen. Sie werden jedoch zunehmend durch Alternativverfahren ohne Tierversuche ersetzt. Tests auf Fototoxizität werden durchgeführt, wenn die Substanz UV-Licht im Bereich von 290 bis 400 nm (Nanometer) absorbiert. Auch für diese Tests sind Alternativverfahren ausgearbeitet und im Hinblick auf ihre Verlässlichkeit überprüft worden.
1.3 Sensibilisierung und Fotosensibilisierung
Diese Untersuchungen werden an Meerschweinchen (Bühler- und Maximierungstest) oder an Mäusen mit dem local lymph node assay (LLNA) durchgeführt, indem mehrere Injektionen einer Substanz in das Ohr von Mäusen vorgenommen werden. Der Nachteil des LLNA ist, dass er für die Abschätzung der Stärke einer sensibilisierenden Eigenschaft für den Menschen nur bedingt geeignet ist. Er wird aber als Nachweis einer sensibilisierenden Eigenschaft einer Substanz akzeptiert und kann zum Vergleich der Wirkungsstärken der verschiedenen getesteten Substanzen herangezogen werden. Aufgrund dieser Einschränkungen wird für die endgültige Klärung einer sensibilisierenden Wirkung in der Regel ein Patch-Test beim Menschen durchgeführt. Zunehmend werden auch Verfahren zum Nachweis von Antikörpern gegen die sensibilisierende Substanz eingesetzt.
Fotosensibilisierung wird geprüft, indem wie bei der Prüfung auf Fototoxizität die Haut mit UV-Licht bestrahlt wird.
1.4 Genotoxizität (in vitro und in vivo)
Zur Prüfung auf Genotoxizität werden zunächst in vitro, d. h. im Reagenzglas, ein Mutationstest an Bakterien (zumeist Salmonellen) und ein Zytogenetiktest an Zellen von Säugetieren durchgeführt. Die Mutationstests geben Aufschluss über eine direkte Reaktion bzw. Veränderung an der Erbsubstanz der Zelle (DNA). Die Zytogenetiktests wie der Mikronukleustest erlauben Hinweise auf aneugene und klastogene Wirkungen, also Wirkungen auf die Chromosomen. Ergeben die Tests an Bakterien und Säugetierzellen keine Hinweise auf eine Wirkung (sind negativ) und liegen aufgrund der chemischen Struktur der jeweiligen Substanz keine Hinweise auf Genotoxizität vor, kann davon ausgegangen werden, dass die Substanz nicht genotoxisch ist. Das ist insofern von großer Bedeutung, weil für nicht genotoxische Substanzen Grenzwerte abgeleitet werden können, die eine Gesundheitsgefährdung ausschließen. Bei positiven Tests in vitro und in Zweifelsfällen werden die Ergebnisse durch entsprechende Versuche an Tieren (in vivo)...