Chronik der Moskauer Schauprozesse 1936, 1937 und 1938.

Chronik der Moskauer Schauprozesse 1936, 1937 und 1938.

von: Wladislaw Hedeler

De Gruyter Akademie Forschung, 2009

ISBN: 9783050038698

Sprache: Deutsch

734 Seiten, Download: 3475 KB

 
Format:  PDF, auch als Online-Lesen

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Chronik der Moskauer Schauprozesse 1936, 1937 und 1938.



Steffen Dietzsch
Zur Genealogie des Schreckens Moskau 1936–1938 (S. 7-8)

Alles muß, so scheint es,
vor allem einmal vergangen sein,
um überhaupt gesehen werden zu können.

Heimito von Doderer

Es gehörte zu den Konstitutionsfehlern des Kommunismus, die – klassisch von Lenin – als sogenannte ›Kinderkrankheiten‹ kleingeredet wurden, daß man, um das Geschäft der Umwälzung auch wirklich radikal zu betreiben, Machtergreifung und Machtsicherung ausschließlich mit und auf Gewalt begründete. Die aus Exil oder Verbannung zurückkehrenden Revolutionäre vom Herbst 1917 in Petrograd – Lenin, Trotzki, Rakowski, Joffe und ihre Freunde – hatten »bis dahin im Leben des Volks noch nicht irgendwie Wurzeln schlagen können. So wurden, wohl nach dem Muster des französischen Syndikalismus, als die revolutionäre Organisation für das ganze Reich die Arbeiter- und Soldatenräte [›Sowjets‹] gebildet. Die meisten ihrer Mitglieder kamen sozusagen noch mit der rauchenden Flinte in die Heimat aus dem großen Weltmorden, das nicht gerade eine Hochschule für Schonung von Menschenleben und Privateigentum genannt werden kann. [...] Das verprügelte Rußland nimmt seitdem Rache an dem prügelnden Rußland und läßt auch seinerseits nach dem Brauch der Väter Gewalt vor Recht gehen.«1 Auf diese Weise trennten sich hier von Anfang an Macht und Recht. Macht aber, die zum Entwurf von Ordnung, gar Freiheit taugen soll, muß – so jedenfalls in der Tradition der Französischen Revolution, auf die sich die Oktoberrevolutionäre beziehen – Gewalt ›domestizieren‹, d. h. diese zur geregelten und kontrollierten ›Gewaltenteilung‹ werden lassen.

Für den Mann aber, der in Petrograd Mitte Januar 1919 das Parlament – die Allrussische Konstituierende Versammlung [die ›Konstituante‹] – aus dem ›Taurischen Palais‹ jagte (Pawel Jefimowitsch Dybenko), gehörten die »Vertreter der bürgerlichen Demokratie« nicht auf das rote Gestirn. – »Sie mochten einen süßen Traum geträumt haben: die ob ihrer Verirrungen und Greueltaten [sic?] zerknirschten Bolschewisten verlassen mit gesenkten Köpfen die Bühne der Geschichte und sagen reuevoll: ›Ihr seid die gesetzliche Macht des heiligen Rußland, euch händigen wir die Schlüssel ein. Nehmt sie und regiert‹. [...] – Ich gab den Befehl, die Versammlung zu verjagen.« Lenin sanktionierte das: »Die Vertreibung der Konstituierenden Versammlung durch die Sowjetmacht ist eine vollständige und offene Liquidierung der formalen Demokratie im Namen der revolutionären Diktatur. «

Die bolschewistische Auffassung von Machtsicherung kommt noch einmal zugespitzt in einem Toast zum Ausdruck, den Stalin 1937 aus Anlaß des 20. Jahrestages der Oktoberrevolution ausbrachte: »Und wir werden jeden dieser Feinde vernichten, sei er auch ein alter Bolschewik, wir werden seine Sippe, seine Familie komplett vernichten. Jeden, der mit seinen Taten und in Gedanken einen Anschlag auf die Einheit des sozialistischen Staates unternimmt, werden wir erbarmungslos vernichten. Auf die Vernichtung aller Feinde, ihrer selbst, ihrer Sippen – bis zum Ende!« Ein solches Ende wurde ein Dreivierteljahr später auch dem Auflöser der Konstituate, dem Mitglied der ersten Revolutionsregierung, Dybenko bereitet. So faßt sich das Problem sozialistischer Revolutionen in der Neuzeit von allem Anfang an als ein tragisches in diesem Diktum zusammen: »Die Illusion der Revolution besteht darin zu glauben, daß die Opfer der Gewalt, da sie unschuldig sind an den aufgetretenen Greueltaten, mit der Gewalt gerecht umgehen werden, wenn man sie ihnen in die Hand gibt.«5 In dem Maße aber, wie diese Gewaltformen der neuen Macht dann immer wieder ihre ökonomische Kompetenzen verlieren (schon die Selbstversorgung der Sowjetunion war immer eine Zitterpartie!), verkümmern viele ihrer instrumentellen Dimensionen und Macht wird zunehmend Selbstzweck.

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