Seelische Gesundheit und sportliche Aktivität

Seelische Gesundheit und sportliche Aktivität

von: Reinhard Fuchs, Wolfgang Schlicht

Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG, 2012

ISBN: 9783840923609

Sprache: Deutsch

349 Seiten, Download: 3261 KB

 
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Seelische Gesundheit und sportliche Aktivität



Sie hat aber auch eindeutige Grenzen. Wir sollten ihr nicht das Etikett des Allheilmittels anheften. Das dient weder dem Gegenstand noch den Menschen. Als Sportpsychologen sind wir unserem Gegenstand wohlwollend zugeneigt – trotzdem wollen wir die Augen nicht davor verschließen, dass von sportlicher Aktivität auch negative Wirkungen ausgehen können, etwa wenn aggressive Handlungen ausgelöst werden oder Essgestörte sportliche Aktivität instrumentell einsetzen, um in lebensgefährlicher Weise nach Schlankheit zu streben. Die Beiträge in diesem Buch geben einer differenzierten Argumentation die fachliche Grundlage und wer liest, kann profund mitreden.

Das vorliegende Buch ist nicht das Ende der Diskussion. Es markiert stattdessen einen weiteren Meilenstein in der Debatte um die Wirkung körperlich-sportlicher Aktivität auf die seelische Gesundheit. Gemeinsam mit parallelen Veröffentlichungen im angelsächsischen Sprachraum (Faulkner & Taylor, 2005) legt es die Grundlagen für gezielte (interdisziplinär fundierte) Hypothesen, die mit solider Methodik auf den Prüfstand kommen sollten; mal ist es das randomisierte Experiment, dann die Kohortenstudie und dann wieder die ökologische Studie mit dem Ambulanten Assessment. Das methodische Vorgehen hängt von der Fragestellung ab. Ihr gebührt das Primat.

Wenn wir an dieser Stelle ein Fazit vorwegnehmen sollten, dann geschähe das mit einer deutlichen Zurückhaltung ob der Vielfalt der Befunde, die sich in den Einzelbeitragen offenbart. Der Zusammenhang zwischen körperlich-sportlicher Aktivität und den verschiedenen Facetten der seelischen Gesundheit ist eben nicht trivial und auf einige Spiegelstriche reduzierbar. Sport und Bewegung sind nicht die ars curandi für alle Personen unter allen Umständen; man muss schon genauer hinschauen und Vorund Nachteile wägen. Das nimmt eigentlich auch nicht wunder bei der Komplexität der menschlichen Psyche und der vielen offenen Fragen, an deren Beantwortung psychologische Forschung noch lange arbeiten wird.

6 Literatur
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Sportliche Aktivität und affektive Reaktionen
Wolfgang Schlicht & Annelie Reicherz

Als eine orthodoxe Wahrheit in der Sportwissenschaft gilt, dass sportliche Aktivität der Stimmung zuträglich ist und das Wohlbefinden steigert. Gilt der positive Zusammenhang zu affektiven Zuständen unter allen Umständen, für alle Personen, unabhängig von deren Geschlecht, deren Alter, ihrem Fitnesszustand und der persönlichen Dispositionen gleichermaßen? Eine genauere Analyse der empirischen Fakten bringt das orthodoxe Gebäude ins Wanken: Weder eine nomothetische noch eine deterministische Aussage wird durch die Befunde gedeckt.

Der Beitrag klärt zunächst die Konstrukte Emotion, Gefühl, Stimmung, Wohlbefinden und affektive Reaktion, resümiert anschließend die Befunde älterer MetaAnalysen zum Einfluss von sportlicher Aktivität auf die Stimmung und das Wohlbefinden, um dann die Forschungslinien zu den „affektiven Reaktionen auf sportliche Aktivität“ nachzuzeichnen. Der Überblick über die neueren Entwicklungen steht im Zentrum und fördert neben anderem zutage, dass psycho-physiologische und neurowissenschaftliche Zugänge zur Klärung, ob sportliche Aktivität affektive Reaktionen provoziert, im deutschsprachigen Umfeld bislang vernachlässigt wurden. Aktuelle Erkenntnisse nähren sich wesentlich aus Arbeiten einer US-amerikanischen Arbeitsgruppe.

Abschließend wird der Blick noch auf Alltagsstatt auf sportliche Aktivitäten gelenkt. In der Public Health Forschung wird beklagt, dass eine „sesshafte“ Lebensweise (der englische Terminus „sedentariness“ wird hier inzwischen als Terminus technicus verwendet und das Konstrukt in Studien derzeit meistens über die Dauer des Fernsehkonsums operationalisiert) in modernen Gesellschaften weit verbreitet ist. Sedentariness erhöht das Risiko, an Diabetes mellitus oder koronar zu erkranken, während bereits eine häufige Unterbrechung des Sitzens das Risiko deutlich reduziert (Healy et al., 2008). Wenn alltägliche Aktivitäten wie das Stehen während des Telefonierens, das Treppensteigen statt der Nutzung von Fahrstühlen oder ähnliche körperliche Aktivitäten positive affektive Reaktionen auslösen, dann dürften sie Personen motivieren, auch im Alltag jede sich bietende Gelegenheit zu nutzen, um aktiv zu sein. Dieses (noch junge) Forschungsgebiet erfordert ein methodisches Vorgehen, das die Konstrukte zeitnah erfasst und miteinander verknüpft. In den Daten interessiert die intraund die interindividuelle Varianz.

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