Der Aufstand der Ungenießbaren - Roman
von: Edo Popovi?
Luchterhand Literaturverlag, 2012
ISBN: 9783641085568
Sprache: Deutsch
192 Seiten, Download: 393 KB
Format: EPUB
Zweites Kapitel
Der Mann mit dem Pflaster über dem Mund – Namen und T-Shirts – Jäger in der Taiga, der König vom Orion – Die Ungenießbaren töten wieder – Kieselsteine im See – Menschen sind kein Wasser
Ach, die Zukunft, die Zukunft, sie ist doch nur eine statistische Wahrscheinlichkeit, sagte Gärtner, während er die hintere Tür des Autos, das am Waldrand stehen geblieben war, öffnete.
Er zog einen Mann mit schwarzem Anzug, leuchtend weißem Hemd und gewienerten schwarzen Schuhen unsanft aus dem Auto. Die Hände des Mannes waren auf dem Rücken gefesselt, er hatte ein Pflaster über dem Mund, mit hervortretenden Augen starrte er Gärtner an, schüttelte den Kopf und grummelte etwas.
Ich verstehe dich nicht, sagte Gärtner, du hast da was auf dem Mund kleben. Obwohl, er zeigte mit seinem Kopf in Richtung Auto, sie sagt, dass man auch mit geschlossenem Mund und zugeschnürter Kehle sprechen kann. Weißt du, sie liest allerhand Bücher und erzählt alles Mögliche … Aber jetzt lass uns an die Arbeit gehen.
Sie gingen den Waldweg entlang. Es war spät am Nachmittag. Unter ihren Schuhen knirschte der Kies. Am klaren hellblauen Himmel über den Wipfeln der Eichen hingen blasse, verwischte Wolken. Der Wind rauschte in den Blättern. In einer Baumkrone zwitscherte eine Amsel ihr Liebeslied. Ein Vogel kreischte beunruhigt im Dickicht auf. Die Luft war schwer und klebrig. Sie blieben auf einer Lichtung stehen, die von den riesigen Blättern der Wasserklette gesäumt war.
Ein feines Plätzchen, um sich zu unterhalten, was denkst du?, fragte Gärtner.
Der Mann versuchte nicht einmal, etwas zu sagen. Auch die metallblau schimmernden Käfer auf der Wasserklette schwiegen, sie knabberten nur an den Blättern, ohne sich um die beiden zu kümmern.
Jetzt mal im Ernst, warum zieht ihr euch alle so an?, musterte Gärtner sein Gegenüber. Diese dunklen Anzüge, weiße Hemden aus vermutlich antibakteriellen Fasern … Ich beobachte Typen wie dich in Cafés, ihr trinkt alle, aber wirklich alle koffeinfreien Kaffee und stilles Wasser, ihr raucht nicht … Für mich seht ihr alle gleich aus … Und überhaupt, wer bist du eigentlich, er riss ihm das Pflaster vom Mund.
Der Mann leckte sich über die Lippen und sah sich um.
Ich heiße Ivo Pavić, sagte er schließlich, aber das weißt du doch bestimmt.
Woher sollte ich wissen, wer du bist?, fragte Gärtner.
Ich glaube nicht, dass ihr mich völlig wahllos verschleppt habt.
Gärtner sah ihn gleichgültig an.
Ivo Pavić, sagte er. Bist du als Ivo Pavić geboren?
Ja, sagte der Mann verunsichert.
Du lügst, Gärtner drehte ihn grob um und nahm ihm die Handschellen ab. Zieh dich aus.
Pavić sah ihn stumm an. In den Falten um seinen Mund und in seinen Augen flackerte eine Mischung aus Wut, Hass und Ohnmacht. Dann stürzte er sich auf Gärtner, gebeugt und mit ausgestreckten Armen. Gärtner wich zur Seite und traf ihn mit seiner Faust hinter dem Ohr. Pavić schwankte, blieb aber auf den Beinen.
Du bist gut, sagte Gärtner, du trainierst bestimmt viel im Fitnessstudio. Pavić stand da und zögerte.
Was ist, fragte Gärtner, willst du dich mit mir schlagen oder dich endlich ausziehen?
Pavić begann sich auszuziehen.
Nackte Haut, nur weiße, leere Haut, sagte Gärtner und ging um ihn herum. Ich sehe nicht, dass da irgendwo Ivo Pavić oder etwas Ähnliches geschrieben steht. Wer bist du?
Ich verstehe nicht.
Spreche ich etwa mit geschlossenem Mund?
Was willst du von mir?
Wer bist du? Auf deinem Mantel steht Hugo. Bist du Hugo?
Nein.
Warum trägst du dann einen Mantel, auf dem der Name steht?
Pavić sagte nichts.
Weißt du nicht, dass Namen nur T-Shirts sind, dass du sie an- und ausziehen kannst, wie es dir beliebt.
Was willst du von mir?
Wer bist du, wenn wir jetzt mal den Namen auf dem Mantel vergessen?
Pavić seufzte.
Weiß ich nicht, sagte er.
Natürlich weißt du es nicht, sagte Gärtner zufrieden. Aber dafür weiß ich, wer du bist. Hör mal zu, wenn du all diese Dinge, an die du dich so klammerst, ablegst, bist du nichts. Vor deiner Geburt warst du nichts. Und genauso wie wir alle bist du nur geboren worden, um in das Nichts zurückzukehren.
Du willst mich doch wohl nicht umbringen?
Volltreffer, mach dir keine Sorgen.
Nicht seine Worte, sondern der Gesichtsausdruck von Gärtner verriet, was er vorhatte. Und Pavić sank auf die Knie.
Bitte nicht, er faltete seine Hände wie zum Gebet, ich habe dir nichts getan, ich habe niemandem etwas getan.
Oh doch, sagte Gärtner, deine Spezies lebt doch vom menschlichen Unglück. Aber sei doch nicht so, es ist mir wirklich unangenehm, dich so zu sehen. Du bist sicher nicht auf die Knie gegangen, während du bei Itex aufgestiegen bist. Oder etwa doch? Du sollst immer du selbst sein. Wenn es gut läuft für dich, und auch wenn nicht. So wie Fraktale, sie bleiben gleich, ganz unabhängig vom Maßstab. Sag mal, er wechselte abrupt das Thema, hast du je Weizen gesät?
Pavić schüttelte den Kopf.
Und hast du je ein Brot gebacken, einen Obstgarten gepflegt, Fische auf einem Kutter in Kisten sortiert oder Möbel in einen Bulli geladen?
Pavić schüttelte wieder den Kopf und sah Gärtner angespannt an.
Siehst du, sagte dieser, wie ich schon sagte, ist die statistische Wahrscheinlichkeit eine sehr interessante Größe, denn sie besagt, dass du im Nu überall im ganzen Weltall landen kannst. Du kannst ein Jäger in der Taiga sein, ein König irgendwo auf dem Orion, ein Manager in irgendeiner pharmazeutischen Drecksfabrik, eine unendliche Zahl von Möglichkeiten steht vor dir, aber nur eine davon tritt mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit ein – er zog die Pistole unter seiner Jacke hervor und entsicherte sie, Pavić begann zu zittern und zu schluchzen – nämlich dass du gleich zur Hölle fahren wirst. Sei’s drum, er seufzte und drückte ab,
und am selben Morgen werden die Internetportale und Fernsehnachrichten Folgendes in die Augen, Ohren und Hirne der Bürger pflanzen:
DIE UNGENIESSBAREN TÖTEN WIEDER
Zagreb, 26. Mai 2015
Der berüchtigten terroristischen Vereinigung mit dem bizarren Namen »Die Ungenießbaren« fiel erneut ein Mensch zum Opfer. Gestern wurde in den Nachmittagsstunden
der 35jährige Ivo Pavić ermordet, leitender Manager von Itex, einer führenden Firmengruppe auf dem Balkan, die zwanzig landwirtschaftliche Betriebe, Baufirmen, Einzelhandelsketten und Verlagshäuser der Region unter ihrem Dach vereint. Dank eines anonymen Telefonanrufs fanden die Bestattungskräfte heute Vormittag Pavićs Leiche auf einem Waldweg in der Nähe von Zagreb. Pavić war am Sonntag, den 24. Mai, entführt worden, man vermutet, dass er aus dem Teehaus »Hanshan« verschleppt wurde, das sich außerhalb der Mauer befindet und in dem zu nächtlicher Stunde häufig Zagreber Prominente auf der Suche nach unorthodoxen Vergnügungen anzutreffen sind. Es handelt sich um den achten Mord in der Zone, wie das Gebiet außerhalb der Mauer im Allgemeinen genannt wird, seitdem die Holding vor einem Jahr als Sparmaßnahme eine große Anzahl von Polizisten entlassen und die Überwachung dieses Gebietes aufgegeben hat. In sechs Fällen waren die Opfer Bürger, die innerhalb der Mauer lebten, ausnahmslos Angehörige höchster Wirtschaftskreise, die von den »Ungenießbaren« entführt wurden, während zwei Morde in den Bereich der klassischen Kapitalverbrechen fallen. Nach Angaben der Bestattungskräfte ist interessanterweise die Zahl der Morde außerhalb der Mauer gesunken, seitdem die Holding dieses Gebiet nicht mehr überwachen lässt.
Erinnern wir uns: »Die Ungenießbaren« halten schon seit länger als einem halben Jahr den Vorstandsvorsitzenden der Citybank, Damir Milinović, gefangen. Zu dieser Entführung haben sie sich im Oktober letzten Jahres bekannt, eine Videoaufnahme bestätigte es. Inzwischen hat der Aufsichtsrat der Citybank Milinović seiner Pflichten entbunden und einen neuen Vorstandsvorsitzenden eingesetzt. Die Suche nach Milinović wurde eingestellt, als aufgrund der veröffentlichten Videos unzweifelhaft festgestellt wurde, dass dieser sich außerhalb der Mauer befindet.
Damir Milinović galt als Mentor von Pavić. Während er noch der Itex-Geschäftsführung vorstand, zeigte Milinović offene Sympathien für den jungen Betriebswirt, so dass Pavić sehr schnell zum leitenden Manager aufstieg. Nachdem Milinović zur Citybank wechselte, war es nur eine Frage der Zeit, wann Pavić in das Büro des Vorstandsvorsitzenden wechseln würde. Doch den weiteren Aufstieg des jungen Fachmanns verhinderte ein gewaltsamer Tod.
Langsam ekelt es mich an, beschwerte sich Gärtner bei Fraktalfrau, die im Auto auf ihn wartete.
Du lügst, sagte sie, du genießt das doch.
Wie auch immer. Mich quält Folgendes: Wie kann man etwas besiegen, das kein Gesicht hat, das keine Niederlage kennt? Wir beseitigen einen, aber sofort rückt ein anderer, der genauso ist, auf seinen Platz....